Kapitel 2

Der Wind dreht

(c) Dirk Wonhoefer , 2001


 

 

 

Am ersten Tage öffnete Jarondai ein Auge, und es wurde Licht.

Am zweiten Tage brach der Drachen eine Schuppe von seinem Körper und formte die Welt.

Am dritten Tage ließ Himmelfeuer Tränen auf das Land fallen, und die Meere entstanden.

Am vierten Tage hauchte Jarondai Wärme in die endlosen Weiten, und die Saat des Lebens erblühte.

Am fünften Tage zeugte Himmelfeuer Nachkommen, auf daß sie für dahin die Länder Rubens bevölkerten.

 

Die Schöpfungsgeschichte

Aus „Religion der Jurakai“ von Asan An‘chassar

 

 

 

 

 

Die Wärme des Zeltes verflüchtigte sich rasch, als die Plane zurückgeworfen wurde und ein leichtes, jedoch kühles Lüftchen ins Innere wehte.

Talamà sah auf, erwartete vielleicht Mandas, der kam, um sich zu entschuldigen, oder möglicherweise die Valae. Mit Jensai, dem Jäger, den sie begleitet hatte, hätte sie nicht gerechnet. Der Jurakai, der mindestens zweimal so alt wie sie selbst sein mußte, lugte ins Zelt hinein und lächelte, als er sie sah.

„Darf ich eintreten?“ fragte er grinsend. Talamà, die nicht vergessen hatte, als wie feige und unfreundschaftlich sich der Jurakai in der Steppe erwiesen hatte, fuhr erschrocken in die Höhe.

„Jensai!“ rief sie und setzte nach vorn, drängte die Gestalt des Mannes von ihrer Behausung fort. Sie funkelte ihn an. „Wie kommst du dazu, hier einfach aufzukreuzen?“

Jensai lächelte noch immer, obwohl Talamàs Gesichtsausdruck ganz bestimmt keinen Anlaß zu solch einer Regung geben sollte.

„Ich war sehr beeindruckt von deinem Verhalten während der Jagd“ antwortete er und versuchte, nicht noch weiter nach hinten gedrängt zu werden. „Nicht unbedingt von deinen Fähigkeiten als Jägerin“ gab er offen zu, „aber du warst sehr mutig. Dieses Erlebnis hat uns alle ganz schön mitgenommen, und ich wollte einfach vorbeischauen, um zu sehen, ob du dich davon erholt hast.“

Ob sie sich davon erholt hatte? Die Jurakai verzog die Lippen. Dafür hätte er sich wohl doch besser einen früheren Augenblick aussuchen können! Jetzt, nachdem diese Geschichte schon fast drei Wochen zurücklag, hatte sie bestimmt schon jemanden gefunden, an dessen Brust sie sich ausheulen konnte. Mit einem Brummen wies sie Jensai von sich.

„Vielen Dank der Nachfrage, es geht mir gut“ meinte sie lediglich und nahm die Plane in die Hand, um die Öffnung des Zeltes wieder zu schließen. „Und es wäre mir sehr recht, wenn du nicht dafür sorgen würdest, daß alle Wärme aus meinem Zelt huscht. Ich kann sie dort drin wesentlich besser gebrauchen.“

Jensai, dessen Lächeln sich zu einer Maske der Schuld verwandelt hatte, faßte sie am Arm.

„Es tut mir leid, Talamà. Bitte hör mir zu. Es tut mir leid. Was dort geschehen ist... ich konnte nicht anders handeln. Es gibt Gründe dafür, wenn sich Tiere plötzlich sonderbar verhalten, und das Letzte, was man tun sollte, ist einfach vorzustürmen um nachzusehen, was genau dieser Grund ist...“

„Trotzdem hast du mich nicht zurückgehalten.“

„Ich war wie gelähmt! Wenn ich gekonnt hätte, dann—„

„Spar dir deine Entschuldigungen, Jensai. Ich habe dir längst vergeben. Es ist ja nichts weiter geschehen. Aber ich bitte dich, mich in Ruhe zu lassen, in Ordnung? Es gibt genug Dinge, um die ich mich kümmern muß. Und ich glaube, daß du ebenfalls zu tun hast.“

„Ich... natürlich.“ Der betrübte Blick des Jurakai berührte Talamà, und sie legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Vielleicht werden wir eine Gelegenheit finden, uns zu unterhalten, wenn es etwas weniger hektisch zugeht in der Weide, mh?“

Sie lächelte ihn an und hob schelmisch eine Braue. Jensai nickte, hatte es jetzt jedoch anscheinend eilig, sich von der Jurakai zu verabschieden. Er streichelte über ihre Hand, dann senkte er den Kopf und war fast im selben Augenblick auf und davon. Mit einem Seufzer schloß Talamà die Plane um den Zelteingang und warf sich auf die Matten, die ihr als Schlafplatz dienten.

Was sollte sie jetzt eigentlich tun? Es gab vieles, das noch zu erledigen war, doch nichts davon war wirklich dringend. Alles, was sie tatsächlich gewollt hätte, wäre ein erbauendes Gespräch mit der Valae gewesen, doch die alte Frau befand sich schon seit Stunden im Zelt des Dorfoberhauptes Teagar und beriet über geheime Dinge. Wenn sie endlich zurückkehren würde, dann könnte Talamà sie ausfragen und würde erfahren, was vielen eingeweihten Jurakai in die besorgten Mienen geschrieben stand. Sie zweifelte nicht daran, daß die Alte ihr die Wahrheit erzählen würde. Aber bis es soweit war, mußte sie sich die Zeit irgendwie anders vertreiben.

Talamà setzte sich auf und begann, in den vergilbten Schriften zu studieren, die ihr von der Valae anvertraut worden waren.

 

Mühsam stapften die Wanderer durch das Unterholz in Nähe des Waldrandes, und aus Indigos Kleidern waren inzwischen zerrissene, fast unbrauchbare Lumpen geworden. Die vielen Sträuche und dornbewehrten Büsche hatten ihn seine Hosen gekostet, und das wiederholte Zusammentreffen mit in Körperhöhe baumelnden Ästen war seinem Wams nicht gut bekommen. Nun, wenigstens fügte er sich jetzt vollkommen in die Farben des Waldes ein, seine Haare, voll mit kleinen Ästchen, waren nur noch ein Gestrüpp, und seine Haut glänzte in grünen und braunen, an manchen Stellen blutroten Tönen.

Nachtfalke hingegen besaß noch immer die ehrwürdige Eleganz, mit der er die Weide des Schlafes verlassen hatte. Seine Kleider waren, bis auf ein paar kleine Löcher hier und da, noch in Ordnung, und sein Äußeres erschien trotz den Marschen durch die Hölzer nicht weniger ungepflegt als vor drei Wochen, an ihrem ersten Tag in der Wildnis. Indigo bewunderte den alten Jurakai, dessen Selbstbewußtsein so stark strahlte, daß sich der jüngere Wanderer unbesorgt in der Nähe des Alten zusammenrollte, wissend, daß ihm in den Nächten, in denen Nachtfalke über ihn wachte, nichts geschehen konnte. Unter lautem Stöhnen und Ächzen bahnte sich Indigo einen Weg durch das Dickicht, das ihm den Weg versperrte. Leise hörte er die Klänge eines Liedes an seine Ohren dringen, und als er versuchte, sich weniger lautstark seine Schneise zu schlagen, konnte er sogar verstehen, was Nachtfalke summte. Es war eine Ballade über den Weilerwald, und zwar eine, deren Klang Indigo noch nie gehört hatte. Doch die Melodie war eingängig, und er bemühte sich, der wohlklingenden Stimme des Alten zu lauschen.

 

...im Kreis lief es, das arme Kind

im Weilerwald, vor langer Zeit

 

Der Knabe schritt durch Sumpf und Moor

und durch die eis’ge Nacht

fremde Laute in seinem Ohr

und niemand hielt nun Wacht

 

den Eltern er entfliehen wollt

die Einsamkeit er sucht’

den Warnungen keinen Glauben gezollt

die Alten er verflucht

 

so ging er denn, nach vorn, nach hint’

verirrt in Sünd’ und Leid

im Kreis lief es, das arme Kind

im Weilerwald, vor langer Zeit

 

ein Räuber kam, wollt ihm was tun

zeigte ihm sein Messer scharf

der Knabe jedoch, wollt’ nur noch ruhn

und legte sich zum Schlaf

 

ein Mitleid keimte in dem Mann

in Panik er geriet

er wußt’ nicht, was er tun kann

so nahm er den Knaben mit

 

so ging er denn, nach vorn, nach hint’

verirrt in Sünd und Leid

auf seinem Arm das kleine Kind

im Weilerwald, vor langer Zeit...

 

Nachtfalke räusperte sich und blickte Indigo an, der verträumt den Rhythmus der Melodie mitsummte.

„Es ist ein Lied der Manur“, stellte der Alte fest, während er ein Zweiglein mit der Hand beiseite schob. „Ich habe es von einem Freund in Ebenwalden gelernt, vor vielen Jahren. Es handelt von einem Jungen, der reißaus nimmt  von zu Hause, um in die Wälder zu fliehen. Letzten Endes kommt er aber wieder zurück zu seinen Eltern... es ist ein Lied für Kinder, das ihnen aufzeigen soll, daß es sich nicht lohnt, fortzulaufen. Der Klang des Liedes gefiel mir, und unterwegs summe ich es oft. Es ist einfach und direkt - nicht wie die meisten unserer eigenen Lieder, deren Verse allein schon ein Buch füllen könnten.“

Interessiert ging Indigo ein wenig langsamer, um mit Nachtfalke auf eine Höhe zu gelangen. Er überlegte, wie er seine Frage am besten formulieren könnte.

„Hast du viel Kontakt mit Manur, Falke? Bist du vertraut mit ihnen? Ich meine, kennst du sie wirklich gut?“

„Viele Jurakai kennen die Manur, Indigo. Vor allem diejenigen von uns, die am Hofe des Königs leben, um unser Volk dort zu repräsentieren. Es gibt Manur, deren Einstellungen sich nicht so sehr von denen der Jurakai unterscheiden... manche von ihnen nenne ich sogar meine Freunde, wenn auch nicht viele.“

„Bitte erzähl mir mehr von ihnen, Falke“ forderte Indigo aufgeregt. „Ich bin ihnen noch nicht oft begegnet, und meine Erfahrungen mit ihnen sind sehr beschränkt.“ Indigo zögerte einen Augenblick. „Vielleicht wäre es eine Hilfe, wenn ich mehr über sie erfahren würde.“

„Gewiß wäre es das, mein Freund. Aber erwarte nicht zuviel von mir. Meine Interessen liegen auf anderen Gebieten, und die Manur habe ich, wenigstens die meiste Zeit über, nur sehr oberflächlich behandelt. Es gibt einige unter ihnen, deren Wissen groß und ist und die den Jurakai schon oft geholfen haben. Im Austausch haben auch wir ihnen geholfen, aber das sind Geschichten, die entweder sehr lang zurückliegen oder gegenwärtig nicht relevant für dich sind, Indigo. Wir werden noch genug zu tun bekommen mit den Manur, wenn unsere Reise wie geplant verläuft. Nicht zuletzt am Hofe wirst du prägende Erfahrungen sammeln können mit ihnen.“

Indigo bog einige Zweige auseinander, die ihn vom Ende des Weilerwalds trennten. Von hier an ging der mächtige Wald in eine Steppe über, die, mit vereinzelten Baumgruppen übersät, immer weiter talabwärts führte. Von hier oben konnte man bereits weit in die Täler blicken, auf die Seen und die Felder dahinter. Irgendwo im Norden erstreckte sich das Ra’an-Gebirge, und weit entfernt im Westen lag das Hochland.

Die Jurakai traten zwischen den letzten Waldriesen hinaus auf die freie Fläche, und Nachtfalke legte seine Hand über die Augen und spähte in die Täler.

„Wir sind ein wenig vom Weg abgekommen, denke ich“, sagte er und öffnete seinen Rucksack. Er förderte einen Kompaß zu Tage und betrachtete ihn für eine kleine Weile. „Wenn wir uns nach Süden wenden und uns unseren Weg am Rande des Waldes suchen, werden wir in ein bis zwei Tagen am Lager ankommen. Dann beginnt der ernste Teil unserer Reise“, fügte er bedrückt hinzu.

 

Das Wirtshaus zeichnete sich in einer schwarzen Silhouette vor dem rötlichen Abendhimmel ab.

Dynes, der den ganzen Tag geritten war, freute sich über den Anblick der Raststätte. Das braune Haus wirkte fröhlich und nahm dem Ritter die Verbissenheit, die sich auf seine Züge gelegt hatte. Er betrachtete den Rasthof, der am Rande eines kleinen Wäldchens errichtet worden war, nahe an den hohen Tannen.

„Was hältst du davon, hier zu übernachten, Junge?“ fragte Dynes seinen Hengst und fuhr dem Tier liebevoll über den Rücken. „Ich will dich nicht noch mehr belasten.“

Sturmauge blieb ruhig stehen, scharrte mit den Hufen im Staub der Straße. Dynes sprang von seinem Rücken und führte ihn an den Zügeln vor den Eingang des Wirtshauses, wo er ihn an einen Pflock band. Er nickte seinem Roß zu, dann öffnete er die Tür des Hofes und trat ein.

Sofort schlugen ihm Qualm und verschiedene Gerüche entgegen, und Dynes brauchte einen Moment, bis er sich an die stickige Luft gewöhnt hatte. Seine Augen tränten vom beißenden Gestank, der hier herrschte und vorwiegend von zwiebelhaltigen Speisen herrührte, und der Ritter hatte alle Mühe, sich ein Lächeln zu verkneifen. Er vergeudete keine Zeit damit, die versammelten Gäste zu mustern, sondern hielt sofort auf den Tresen zu, hinter dem ein rundlicher, schwitzender Mann Krüge polierte.

„Guten Abend“ begrüßte ihn der Wirt freundlich. Dynes zuckte die Achseln.

„Nicht unbedingt“ antwortete er und empfing einen skeptischen Blick für diese Bemerkung. „Habt Ihr noch ein Bett frei?“

Der Wirt starrte ihn unverwandt an. „Nicht unbedingt“ sagte er seinerseits.

Dynes grinste. Der Mann war nach seinem Geschmack.

„In Ordnung“ sagte er und setzte sich an die Bar. „Unter diesen Umständen würdet Ihr mir vielleicht einen Krug Eures besten Bieres zapfen? Ich könnte durchaus etwas vertragen.“

Jetzt war es am Wirt, zu grinsen. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht tat er, wie geheißen, und brachte dem Ritter einen meisterlich gezapften Humpen. Dankbar nahm Arathas ihn entgegen und leerte ihn mit dem ersten Zug bis zur Hälfte. Den Schaum auf den Lippen mit dem Ärmel beiseite wischend, gewann er endlich ein wenig Ruhe zurück und atmete tief durch.

„Was führt Euch hierher?“ fragte der Wirt, nachdem im ersten Krug nur noch ein paar glänzende Tropfen auf dem Boden von der einstigen Fülle des Behältnisses zeugten.

„Später“ meinte Dynes. „Laßt mich erst mal verschnaufen. Habt Ihr auch etwas Stärkeres?“

Der fettleibige Mann hob die Brauen. „Was erwartet Ihr?“ fragte er und deutete auf mehrere Karaffen, die über seiner Schenke auf den durstigen Besucher lauerten. Dynes faßte den Entschluß, sich mit einer von ihnen anzufreunden.

„Mein Rum ist der beste, den Ihr im gesamten Inneren Reich bekommen könnt. Obgleich ich sehe, daß Ihr nicht von hier kommt“ sagte der Wirt redselig.

Arathas sah ihm in die Augen.

„Ihr habt Recht. Und jetzt würde ich gern vom besten Rum des Inneren Reichs kosten“ sagte er, ohne weiter auf die Bemerkung des Dicken einzugehen. Während der Wirt seinen Ranzen streckte, um an die Karaffen zu gelangen, formulierte der Reisende seine Frage nach Beherbergung im Kopfe neu.

„Wieviel verlangt Ihr für ein Zimmer?“

Grinsend schenkte der Wirt ihm ein Gläschen Rum ein. „Vier Taler, mein Freund. Wie lange wollt Ihr bleiben?“

„Nicht sehr lang. Morgen früh werde ich aufbrechen. Besitzt Ihr einen Stall für mein Pferd?“

„Ohne Frage. Der würde weitere zwei Taler kosten.“

Dynes zog ein paar Münzen aus der Tasche und ließ sie über den Tresen rollen. Ohne hinzuschauen ließ der Wirt sie in seiner Hand verschwinden.

„Wollt Ihr mir nicht erzählen, woher Ihr kommt?“ fragte er und betrachtete das Geld, das zwischen seinen feuchten Fingern weilte. Es waren zwei Goldstücke. Damit hatte der Fremde nicht nur das Zimmer und den Stall bezahlt, sondern auch noch eine große Menge Alkohol. Mit einer respektvollen Bewegung füllte der Dicke Dynes‘ Glas auf und stellte die Karaffe anschließend vor ihm ab.

„Nicht, wenn es sich vermeiden läßt.“

„Oh, ich käme niemals dazu, mich in fremder Leute Angelegenheiten einzumischen.“

„Gut.“ Dynes blickte auf die Karaffe. „Kann ich sie mit auf mein Zimmer nehmen?“

Der Wirt schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Wenn ich erlauben würde, daß alle meine Gäste derart hochprozentiges Zeug mit auf ihre Räume nähmen, würde es nicht lange dauern, bis mein Gut in Flammen steht.“

Da die Antwort plausibel klang und es dem Ritter sowieso gleichgültig war, wo er trank, wenn er dabei nur für sich allein sein konnte, schenkte er dem Wirt ein Nicken und sich selbst ein weiteres Gläschen Rum ein. Er kippte die brennende Flüssigkeit in seinen Rachen und ließ sich den feurigen, leicht würzigen Geschmack auf der Zunge zergehn.

Der Junge rutschte ihm wieder in den Sinn. Der Junge, den er hatte am Burgtor zurücklassen müssen, schutzlos und frierend. Nun, gegen die Kälte hätte er ebenfalls nichts unternehmen können. Aber vielleicht hätte er dem Knaben Schutz bieten sollen...

Immerhin hatte sich der Bursche gut um Sturmauge gekümmert, und das war einiges Wert. Aber was sollte Dynes mit einem solchen Jungen anfangen? Der Kleine war vielleicht gerade dreizehn oder vierzehn! Nein, so einen Welpen hätte er nur wie einen Klotz am Bein mit sich herumgetragen, und wo hätte der Junge bleiben sollen, wenn sie in Yark ankamen?

Nun, möglicherweise hätte er bei einem der Bauernhöfe arbeiten können, hätte aushelfen können bei—

Das plötzliche Auftauchen einer Gestalt an seiner Seite ließ Dynes aufschrecken. Er hatte sich ein Glas nach dem anderen genehmigt, und sah sich jetzt mit der Schwierigkeit konfrontiert, seinen Blick zu fixieren. Doch das, was er erkannte, sah ihm ganz nach einem Edelmann aus, einem der verrückten Narren, die bei Hochkönig Westfald am Hofe herumlungerten und den ganzen Tag nichts taten als trinken und schreien...

„Ich grüße Euch“ sagte der Neuankömmling vornehm und drängte sich zu Dynes an die Bar. „Darf ich erfahren, wer ihr seid?“

„Darf ich erfahren, wer Ihr seid?“

„Natürlich.“ Der in roten Samt gewandete Mann nahm seinen Hut ab, und prachtvolle braune Locken wellten darunter hervor. Ein kleiner Spitzbart zierte sein Kinn, machte sein ansonsten junges Gesicht ein wenig älter. „Wie unhöflich von mir, mich nicht vorzustellen. Mein Name lautet Reeves. Ontarias Reeves. Zu Euren Diensten.“

„Kann mich nicht erinnern, Eure Dienste in Anspruch genommen zu haben, Reeves.“

„Vergebt mir, Herr. Natürlich wollte ich Euch nicht kränken, indem ich Eure Gastfreundschaft zu sehr beanspruche.“

Dynes musterte den Knaben, der zwar schon das Mannesalter erreicht hatte, doch noch immer jungenhaft wirkte. „Verschwindet“ war alles, was er der Gestalt an den Kopf warf.

„Wollt Ihr nicht wenigstens erfahren, warum ich Euch angesprochen habe, Herr?“

„Verschwindet.“

Die Brauen des bis jetzt so höflichen Mannes kniffen sich zusammen, und ein leichter Anflug von Zorn legte sich auf das lächelnde Antlitz Reeves‘. Nun schien er nicht mehr ganz der edle Ehrenmann, der er zu sein vorgab. Seine Zähne preßten sich auf seine Lippen, so stark, daß Dynes befürchtete, sie könnten zu bluten anfangen.

„Ihr habt es also auf Streit angelegt? Dann will ich Euch nicht länger belästigen.“

Dynes fluchte, kippte seinen Rum hinunter und drehte sich, um nach dem Fremden zu sehen. Er sah sich in der Runde um, die an der Bar lehnte oder auf den Tischen hockte, fand jedoch nicht das Gesicht Reeves` unter all den Anwesenden. Der Bursche schien vom Erdboden verschluckt worden sein.

Nun, das war Arathas Recht. Genüßlich füllte er sich noch ein Gläschen mit dem leckeren Rum, doch seine gelassene Stimmung war dahin. Dieser Bursche Reeves würde ihm noch länger im Geiste herumspuken, dessen war er sich sicher.

Die seltsame Gestalt machte nicht den Anschein, als würde sie sich mit dem zufriedengeben, was sie erreicht hatte...

 

Eine weitere kalte Nacht senkte sich auf das Land, über Nachtfalke und seinen jungen Gefährten, die an den Wurzeln einer uralten Eiche ihr Lager aufgeschlagen hatten. Ein kleines Lagerfeuer prasselte zwischen den beiden Gestalten, die ihre dicksten Umhänge trugen und so nah an den Flammen saßen, daß ihr Haar Feuer zu fangen drohte. Ihre Schatten zeichneten sich gegen die letzte Röte am Horizont ab, und die Kälte kam mit einer Macht, die Indigo frösteln ließ. Wie zwei verlorene Seelen saßen sie unter dem mächtigen Baum und teilten sich eine wollene Decke, während ihre Körper so nah wie nur irgend möglich aneinanderrutschten, um die Wärme des anderen aufzufangen. Beim letzten Morgengrauen hatte Rauhreif die Gräser am Waldrand überzogen, und dieser Abend schien noch schlimmer zu werden. Ohne weitere Worte holte der alte Jurakai ein gerupftes Rebhuhn aus seiner Tasche, das er am Nachmittag erlegt hatte, spießte es auf und briet es über den Flammen. Nach einer Weile zog er das Tier aus dem Feuer, teilte es und reichte Indigo eine der Hälften. Dankbar nahm dieser die Gabe an und verschlang sie heißhungrig. Kein munteres Lied und keine Geschichte über alte Zeiten wurde diesen Abend laut, nur das Geräusch klappernder Zähne und das Reiben von Decken war zu hören. Endlich, nach einer Zeit, die Indigo wie eine Ewigkeit vorgekommen war, fiel er in einen unruhigen, traumlosen Schlaf. Sein Gefährte war in eine seltsame, schlafähnliche Starre verfallen und atmete gleichmäßig, während sich eine eisige Schwärze über das Land legte.

Wie ein groteskes Wesen, das nur aus Decken und Stoffen zu bestehen schien, lehnten die beiden Körper Rücken an Rücken an dem Baum. Im Gleichklang war ein leises Ein- und Ausatmen zu hören, und gelegentlich zog der schlafende Körper Indigos ein wenig mehr Decke an sich, aber Nachtfalke schien keine Einwände zu erheben, falls er es merkte.

Im fernen Weilerwald, zwei Hügel hinter der Eiche, begann es jedoch zu rascheln. Blätter und Zweige wurden auseinandergebogen, und eine Gestalt erschien zwischen den Bäumen. Sie trat hinaus auf die Wiese, und der Kopf des Wesens blickte hastig nach links und rechts. Nachdem es mit den Füßen den Boden abgetastet hatte, als wollte es prüfen, ob dieser auch sicher sei, wagte es sich ins Freie hinaus und begann sogleich zu rennen.

Die leisen Geräusche des Laufens weckten die Aufmerksamkeit einer dicken Eule, die im Geäst der Eiche saß und mit gelben Augen auf die Felder herabblickte. Ihr Fell plusterte sich auf, als sie die Flügel hob und sich auf dem Ast, auf dem sie Platz genommen hatte, in eine neue Position brachte. Sie spähte hinaus auf den Wald, und der Schatten offenbarte sich ihren wachsamen Augen. Die Eule schien kurz zu erzittern, und für eine Sekunde rutschten die Pupillen so weit nach oben, daß sie völlig verschwanden. Als sie zurückkehrten, blieb eine verwirrte, schläfrige Eule zurück, die ihren Orientierungssinn zu verloren haben schien.

Unter den Ästen des alten Baumes erzitterten kurz die Lider des Nachtfalkes, dann öffneten sich seine Augen, und er spähte hinaus aufs weite Grasland. Als er gefunden hatte, wonach er Ausschau hielt, bewegte er seinen steifen Körper, so daß Indigo wachgerüttelt wurde.

„Was ist los?“ murmelte der Junge und zog die wärmende Decke ein Stückchen höher.

Nachtfalke lehnte sich zur Seite. „Etwas ist in den Gräsern vor uns“, flüsterte er heiser und unterdrückte den Wunsch, seinen Kopf um hundertachtzig Grad zu drehen. Indigos Muskeln spannten sich, und sein Herz begann schneller zu klopfen. Er wand sich unter seiner Decke und atmete flach.

„Was sollen wir tun?“ brachte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Die feine Wolke aus Feuchtigkeit, die seinen Mund verließ, kristallisierte sofort. Indigo versuchte angestrengt, seine Zähne davon abzuhalten, sie beide durch ein Klappern zu verraten. Auch er konnte die laufende Gestalt, die sich im Gras bewegte, nun erkennen. Sie war genau auf dem höchsten Punkt des ersten Hügels angelangt.

„Warte einen Moment“ flüsterte Nachtfalke zurück. „Wenn ich dir Bescheid gebe, springst du auf und rennst. Rennst, so schnell dich deine jungen Beine tragen. Frag nicht nach dem Wohin, sonder flieh einfach.“

„Und wenn es nur ein Tier ist, Falke?“ Die Frage schien lächerlich angesichts der Situation und Nachtfalkes Worten.

„Es ist kein Tier“, antwortete Falke knapp und schob sich näher an das Feuer. Indigo schauderte und gab seinem Freund zu verstehen, daß er bereit war. Der Schatten hatte nun die Kuppe des ersten Hügels überwunden und befand sich in der Mulde zwischen den beiden kleinen Erhebungen. Ein leichtes Beben schien durch die Erde zu gehen, das Nachtfalke nicht zuordnen konnte.

„Jetzt“, murmelte der Alte, rollte sich zur Seite und griff einen Holzscheit aus der Glut des kleinen Lagerfeuers. „Lauf“, zischte er, und Indigo sprang auf und verfluchte seine starren Beine. Wie Eisklumpen hingen sie an seinem Körper, unfähig, sich zu bewegen! Er konnte sich weit bessere Werkzeuge für eine schnelle Flucht vorstellen als diese ungelenken Gliedmaßen. Sein Blick fiel in Richtung des Waldes, und er schluckte hart.

Der Schatten war wieder zu sehen, und nun konnte man mit Sicherheit erkennen, daß es kein Tier war, das da versuchte, die beiden Jurakai zu erreichen! Es war ein aufrecht gehendes, tiefschwarzes Wesen. Und es rannte schnell! Indigo hatte niemals jemand oder etwas mit einer solchen Geschwindigkeit rennen sehen. Was immer es auch sein mochte, das die Verfolgung der beiden aufgenommen hatte, es hatte den Entschluß gefaßt, sie auch zu erreichen! Indigo versuchte zu erkennen, was für eine Kreatur sich dort durch die mondlose Nacht auf sie zu bewegte, doch aus der Entfernung konnte er nichts genaueres feststellen. Das einzige, was er sehen konnte, war die Farbe des Wesens. Es war schwarz, aber auf eine seltsame Weise. Es war finsterer als die Nacht selbst, wirkte wie ein lebendiger Schatten vor den dunklen Gräsern. Der Kopf war nicht zu erkennen, da das Fremde Geschöpf eine Kapuze zu tragen schien. Wieder überkam den Jurakai ein sonderbares Gefühl von Kälte. Kälte, wie sie nicht durch das Fehlen von Hitze verursacht wurde, sondern von panischer und unterdrückter Angst, die sich ins Herz fraß. Indigo stand wie gebannt auf der Wiese, während der Schatten schon beachtlich näher gekommen war. Der Jurakai wollte ebenfalls losrennen, doch seine Beine ließen sich nicht von dem kalten Untergrund lösen. Er richtete einen verzweifelten Blick auf Nachtfalke, aber der war mit anderen Dingen beschäftigt und bemerkte den Jungen gar nicht.

Er schwenkte den lodernden Ast, den er aus dem Feuer gezogen hatte, durch die eisige Luft und erzeugte Schlieren und langsam verblassende Bilder von Flammen im Schwarz der Nacht. Aus Nachtfalkes Mund drangen unverständliche, sonderbare Laute, und seine Bewegungen erinnerten Indigo an einen seltsamen, unwirklichen Tanz. Anstatt zu verschwinden, verblieben die Umrisse der Schlieren in der kalten Luft und formten Worte und Symbole, die der Junge nicht kannte. Nachtfalke warf den Ast beiseite, trat direkt ans Feuer, bückte sich und riß ein glühendes Stück Kohle daraus hervor. Indigo wollte eine Warnung schreien, da der Alte anscheinend vergessen hatte, wie gefährlich brennende Kohle war. Doch Nachtfalke schloß nur die Augen, zerdrückte das Kohlestück in der geballten Faust, wandte sich den lodernden Zeichen zu, die noch immer in der Luft verharrten, und warf die glühenden Brocken nach vorn, ins bereits gefrorene Gras. Wie in einem Traum züngelten plötzlich Flammen aus der Erde direkt vor der Eiche und versperrten dem rennenden Schatten den Weg. Die Wand breitete sich rasch nach beiden Seiten aus und umschloß das überraschte Wesen mit einem Flammenkreis. Indigo schüttelte den Kopf und betrachtete den alten Jurakai mit offenem Mund, der nach seinen Taschen griff und die Decken einsammelte. Nach wenigen Sekunden war er fertig und wandte sich zur Flucht, als er bemerkte, daß Indigo noch immer an Ort und Stelle verweilte und ihn wie ein Idiot angaffte.

„Mach, daß du wegkommst!“ schrie Nachtfalke und riß den Jungen mit sich, als er zu rennen begann. „Lang wird dieser Zauber nicht währen!“

Von Furcht übermannt ließ Indigo sich treiben, und seine Beine trugen ihn vorwärts, ohne, daß er sie tatsächlich spüren konnte. Seine verzweifelten Schritte brachten ihn immer näher an den Wald, und er drehte den Kopf, um nach dem Wesen zu sehen. Die Flammen bildeten noch immer einen Kreis, doch die Umrisse des Schattens zeichneten sich hinter der Feuerwand ab. Mit Entsetzen beobachtete Indigo, wie der Schatten kurz verschwand, um gleich darauf wieder aufzutauchen und durch die lodernde Barriere zu springen. Nur wenige Fuß trennten die beiden Läufer voneinander, und voller Angst beschleunigte Indigo seine Schritte noch, um seinen Vorsprung zu vergrößern. Als er wieder nach vorn blickte, war Nachtfalke verschwunden. Mit gehetztem Blick sah er sich nach allen Seiten um, doch der alte Jurakai zeigte sich nirgends. Kopfschüttelnd rannte Indigo weiter, und bald hatte er den Wald erreicht, der ihm vielleicht Zuflucht bieten konnte. Er stolperte durch das erste Geäst und weiter hinein, zwischen die schutzbietenden Bäume. Ein Knacken hinter ihm zeigte, daß auch der Schatten durch das Unterholz brach und die Verfolgung durch den Wald aufnahm.

Während er rannte, begannen Indigos Augen zu tränen, und seine Gedanken flogen durcheinander. Falke! Wo war er jetzt, in dem Augenblick, in dem Indigo ihn am dringendsten brauchte? Warum hatte er ihn allein gelassen? Und was hatte er gerade eben getan, am Fuß der Eiche? Der alte Kauz schien tatsächlich die Worte zu beherrschen, doch wieso erfuhr der Junge erst jetzt davon? Was wußte er noch alles nicht über seinen Freund?

Ein hastiger Blick zurück zeigte ihm, daß das Wesen sich noch immer hinter ihm befand, sogar näher gekommen war...

 

Dynes rollte sich in seinem Bett, unfähig, einzuschlafen, obwohl die bis auf den Grund geleerte Rumkaraffe neben ihm auf einer Anrichte ruhte.

Verzerrte Bilder flackerten in seinem Geist, ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Er fühlte ein Schwindelgefühl und ein Dröhnen in seinem Schädel, als würde ein Hammer unentwegt darauf einschlagen. Hustend beugte er sich vor, um nach einem Glas Wasser zu greifen, das er vorsorglich von der Bar mitgenommen hatte. Er spülte seine Kehle rein, fühlte die kühle, wohltuende Flüssigkeit in seinen Körper hinabrinnen.

Mit den Händen an den Schläfen schüttelte er den Kopf, versuchte sich darüber klar zu werden, wieso seine Gedanken ihn nicht losließen. Was hatte er getan, daß er, betrunken wie er war, nicht einschlafen durfte? Fluchend lehnte er sich ans Ende seines Bettes, achtete aber darauf, nicht die hintere Zimmerwand zu berühren, die wahrscheinlich von Schmutz zusammengehalten wurde.

Dynes blickte auf, und im Schein der Kerze schienen seine Augen tiefer in ihren Höhlen zu liegen, betonten seine starken Wangenknochen. Er zog seinen Tabak hervor, rollte sich eine Zigarette und nahm die Kerze zur Hand, um den Glimmstengel zu entzünden. Nach ein paar tiefen Zügen ging es ihm wieder besser, er spürte, wie der Rauch seine Lungen erfrischte und ihn ruhiger werden ließ. Das Schwindelgefühl verstärkte sich zwar im ersten Augenblick, aber nach dem Genuß der Zigarette würde Arathas vielleicht endlich in den Schlaf sinken können.

Zum Zeitvertreib betrachtete er das kleine Flämmchen, das still auf der weißen Kerze brannte. Die Spitze der Flamme war gelb, ein orangenes, festes gelb, das dem Zimmer das wenige Licht spendete. Darunter kam ein Fleck, den Dynes noch nie farblich hatte zuordnen können. Er erstreckte sich zwischen der orangenen Spitze der Flamme und ihrem unteren blauen Ende, dort wie sie am heißesten war. Doch der Fleck an sich, der Fleck dazwischen, schien keine Farbe zu besitzen. Es war kein Schwarz, denn dafür war er zu schimmernd. Doch er war auch nicht farblos, denn hindurchsehen konnte man nicht. Es war eine dreckige Stelle, die sich nicht in keine bestimmte Kategorie einordnen ließ...

Dynes tat einen langen Zug an seiner Zigarette und spuckte anschließend die Tabakreste aus, die ihm an der Lippe hängen geblieben waren. Wieder glitt sein Blick zur Kerzenflamme. Eine dreckige Stelle, die sich nicht einordnen ließ... genauso wie Dynes. Der König wußte nicht, wo Dynes hingehörte, ebensowenig wie Arathas selbst. Ganz gewiß war er keiner der Ritter des Herrschers. Verachtung keimte in ihm, als er an die Untergebenen König Westfalds dachte. Beim Turnier hatten Federn an ihren Helmen gesteckt, und sie hatten während des Einzugs Schilde mit ihren Wappen getragen.

Dynes hatte niemals ein richtiges Wappen besessen. Oh, natürlich hatte er ein Wappen, doch es war nur ein Erbe, ein Ding, das ihm in die Wiege gelegt worden war. Aber was sollte ein Kind schon mit einem Wappen anfangen? Und ebensowenig wußte Dynes jetzt, da er die Hälfte seines Lebens wohl schon hinter sich hatte, etwas damit anzufangen.

Und so war Dynes der Einzige gewesen, der bei der Parade einen unbemalten Schild getragen hatte. Ein schwarzer Fleck eben, eine dreckige Stelle. Er sah zur Kerzenflamme, die sich nun leicht zur Seite neigte und flackerte. Stirnrunzelnd fragte er sich, was bei dieser Metapher wohl Ende und Anfang der Flamme darstellten...

Die blaue Zunge, nah am Docht, heiß und gefährlich – der König? Nein, bestimmt nicht. Und auch seine Ritter kamen nicht in Frage. Für sie galt eher das, was über der flackernden Flamme nach oben stieg, der schmutzige Rauch, der die Luft verpestete.

Während Dynes seine Gedanken schweifen ließ und seine Augen auf der Kerze ruhten, verzog sich plötzlich sein Mund. Er atmete scharf ein, und noch immer auf das Flämmchen starrend, zerdrückte er gedankenverloren die glühende Spitze seiner Zigarette mit den Fingern. Ohne die Augen von der Kerze zu lassen, glitt seine Hand unter sein Kissen, um einen Dolch hervorzuziehen.

Langsam und völlig lautlos stieg er aus seinem Bett, setzte die nackten Füße auf den hölzernen Boden. Er ließ den Dolch zwischen den Fingern rotieren.

Die Kerzenflamme flackerte. Und das, obwohl Dynes sich in einem Raum befand, dessen Fenster allesamt verriegelt waren. Der Ritter schürzte die Lippen. Es gab nur eine Erklärung für das zuckende Flämmchen: Zugluft mußte vom Korridor her in den Raum wehen.

Und dafür mußte die Türe offen sein, die Dynes hinter sich geschlossen hatte...

 

Indigo zerkratzte sich Arme und Gesicht, als er durch die Blätter eines kleinen Strauches sprang, und landete im nassen Laub dahinter. Er rutschte aus, fiel mit einer Wucht auf den Rücken, die ihm die Luft aus den Lungen preßte, und glitt einen Hang hinunter, der durch die Blätter nicht zu sehen gewesen war. Er wurde schneller, rutschte auf Erde und Stein, und sein Körper drehte und überschlug sich, rollte den Bäumen am Fuße des Hangs entgegen. Indigo sah weder Boden noch Himmel, und nur durch Glück glitt er genau zwischen den Stämmen zweier Waldriesen hindurch, die seine rasante Fahrt wohl zu einem unsanften Ende hätten bringen können. Langsam verringerte sich seine Geschwindigkeit, und er kam auf dem flachen Waldboden zur Ruhe. Er befühlte seine Glieder auf Brüche, aber alles, was er abtastete, schmerzte so stark, daß er sich kein Urteil über den Zustand des Körperteils oder seiner Hände erlauben konnte. Er richtete seinen verschlammten und zerschundenen Leib auf und wankte unsicher zu einem nahen Baum. Von weit oben ertönte ein scheuerndes Geräusch, und mit Entsetzen stellte der Jurakai fest, daß auch sein Verfolger den Hang nicht scheute. Indigo humpelte auf eine kleine Baumgruppe zu, schwang sich unter Schmerzen unter ihren Ästen hindurch und setzte seine Flucht durch den dunklen Wald fort. Die breiten Stämme waren zu bloßen Hindernissen geworden, die ihm im Weg standen und zu jedem Preis umgangen werden mußten. Seine Augen waren nur noch nach vorn gerichtet, und sein verschwommener Blick sah einzig die Schneise, die seine pumpenden Beine ihn entlang trugen. Er röchelte und spuckte Blut, und während er zwischen den Waldriesen dahin stolperte, verlor er Haare und Hautfetzen, bemerkte es aber schon gar nicht mehr. Manchmal vernahm er, beinahe hinter sich, die Laute von brechendem Holz und knackenden Zweigen. Dann schlug er im Taumel mit den Armen um sich und hoffte, auf diese Weise ein weniger leicht zu fangendes Ziel abzugeben. Nach einer Weile, die so lang und mühsam erschien, daß Indigo beim besten Willen nicht sagen konnte, wie lang sie gewesen war, wurde er eines Rauschens gewahr, daß vorher noch nicht existiert hatte. Seine Füße erreichten einen breiten Fluß, der sich ebenfalls seinen Weg durch den Wald suchte und mit nicht unbeträchtlicher Geschwindigkeit dahin floß.

Indigo zögerte, aber nur für einen Moment, dann lief er auf das Wasser zu. Neben ihm brach plötzlich der Schatten durch die Äste, und für einen kurzen Augenblick konnte der Jurakai direkt in die Augen seines Verfolgers sehen. Die Blicke trafen sich, und Indigo war, als erklangen Worte aus dem Mund des vermummten Wesens. Als die verhüllte Gestalt sah, was der Junge beabsichtigte, ergriff sie seinen Arm und zog ihn vom Wasser fort. Von Panik erfüllt zerrte der Jurakai in die andere Richtung, doch das Wesen war stärker als er. Verzweifelt wand er sich unter dem kalten Griff des Schattens, dessen Klaue seinen Arm wie einen Schraubstock umspannt hielt. Gerade, als er sich seinem Schicksal ergeben wollte, riß der arg in Mitleidenschaft gezogene Stoff seines Wamses, und Indigo taumelte den Fluten entgegen. Mit einer letzten Anstrengung warf er sich hinein, und das eiskalte Wasser umspülte ihn und zog an seinen Kleidern. Die Fluten waren erschreckend kalt, und für einen kurzen Moment blieb Indigo das Herz stehen und es war ihm, als hätte ein Hammer ihn am Kopf getroffen. Dann brach er nach Luft schnappend an die Oberfläche, sein Körper vom strudelnden Wasser hin- und hergerissen. Mit den Beinen stieß er gegen einen Felsen, der sich im dunklen Wasser verbarg, und ging wieder unter; die dreckige Brühe drang ihm in Mund und Nase und ließ seine Augen brennen. Er spuckte und holte verzweifelt Luft, als er es wieder fertigbrachte, den Kopf herauszustrecken. Die Strömung riß ihn gegen ein hartes Hindernis nach dem anderen. Steine, Äste und andere Dinge prallten von ihm ab oder gegen ihn. Der unbarmherzige Fluß zog seinen schwachen Körper erneut tief nach unten, und ein ohrenbetäubendes Schwarz erfüllte sein Blickfeld. Er versuchte krampfhaft, sich wieder nach oben zu strampeln, aber alle Mühen mußten vergebens bleiben. Seine verschleierten Sinne nahmen nur noch das tosende Wasser wahr, das ihn umspülte und seine ganze Welt geworden war.

Sein schwacher Körper wurde über ein weiteres Hindernis gerollt, dann brach sein Kopf durch die allesverschlingende Decke, und ein kalter Wind wehte ihm Luft in die zusammengedrückten Lungen. Er keuchte und hustete, und seine betäubten Sinne nahmen das Ufer des Flusses wahr, das irgendwo vor ihm liegen mußte. Aber das Ufer, die Strömung, sogar der seltsame Schatten, das alles war merkwürdig bedeutungslos geworden. Er schloß seine Augen und ließ sich treiben, ergab sich den Wassermassen und floß mit ihnen; erst als seine schwindenden Sinne eine Gestalt am Uferrand bemerkten, kam die Erinnerung zurück.

Der schwarze Schatten! Das dunkle Wesen. Es hat... mich doch noch erwischt! Die ganze Anstrengung... umsonst... Indigos Körper schlang sich um einen dicken Ast, der quer im Wasser lag, und das Wasser floß um ihn und über ihn hinweg. Er sah das schwarze Wesen, wie es sich über den Fluß beugte und nach ihm griff, und stumpfsinnig gluckste er in seinem Wahn. Die Welt um ihn herum brach zusammen, und das letzte, was er sah, war die dunkle, fremdartige Gestalt, die ihn an Land zerrte.

 

Dynes schlich zur Tür, den Griff seines Dolches fest umschlossen. Er wußte genau, wen er zu erwarten hatte: Ontarias Reeves, den angeblichen Edelmann.

Als wenn er nicht geahnt hätte, daß der Kerl ein Schwindler war! Höchstwahrscheinlich lauerte er des Abends in Rasthäusern auf Besucher, die sich besonders stark antranken, um ihnen anschließend Geld und Kleider, möglicherweise noch mehr zu nehmen. Daher also der rote Samtanzug und die perfekt manikürten Finger! Daher die feinen Schuhe und das überhebliche Verhalten!

Nun, selbst in trunkenem Zustand würde er dem Burschen eine Lektion erteilen, die er nicht so schnell vergaß. Vielleicht nie mehr...

Dynes spähte um die Ecke und rechnete damit, Reeves zu sehen, der sich in seinem Vorzimmer zu schaffen machte. Doch das Zimmer war menschenleer, nur die paar Dinge, die der Ritter bei sich zu tragen pflegte, ruhten auf einem Tisch in der Ecke. Die Dunkelheit war hier fast allumfassend, da der Kerzenschein nicht bis hierher drang.

Der Gedanke regte sich in ihm, daß Vorsicht angesagt war, doch der Alkohol, der noch immer durch Dynes Adern floß, tat seine Wirkung. Mit einer schnellen Bewegung schwang sich der Ritter um den Türstock, und noch während er in den nächsten Raum stolperte, sah er die Gestalt, die auf der anderen Seite der Wand lauerte, ebenso wie Dynes es getan hatte.

In einem Reflex streckte er den Arm aus, bekam den Stoff der Kleidung des Eindringlings zu fassen und brachte es fertig, den Fremden mit sich zu zerren. Mit einem Krachen schlugen die beiden Körper auf den Boden, und der Dolch sprang aus Dynes‘ Hand und schlitterte über das Parkett.

Der Fremde hob den Arm, um einen Schlag zu landen, doch der Ritter gab nicht viel auf eine faires Kämpfen. Immerhin galt es nicht, Punkte zu sammeln wie beim Turnier auf der Hochburg, sondern zu überleben. Mit zusammengekniffenen Augen ließ Dynes seine Stirn gegen den Kopf des Eindringlings krachen, so fest er nur konnte. Ein Stöhnen entfuhr seinem Gegner, was Arathas einigermaßen zufriedenstellte. Er lockerte seinen Griff und löste sich von der Person, die jetzt gekrümmt auf dem Boden lag.

Seinen Dolch aufhebend begab er sich in eine hockende Position, beobachtete den Fremden, der noch immer schmerzverzerrte Laute von sich gab. Während Dynes ihn betrachtete, reifte langsam die Erkenntnis in seinem Geiste, daß die schlaksige Person, die dort vor ihm lag, wohl kaum der edle Reeves sein konnte. Von der Länge her kam diese Vermutung vielleicht hin, aber Reeves hatte breitere Schultern gehabt, war besser gebaut gewesen. Die Gestalt, die sich auf dem Boden krümmend verrenkte... nun, er würde herausfinden, wer es war.

Dynes legte den Dolch beiseite und faßte den liegenden Kerl an den Schultern. Er drehte ihn herum, bis er in das Gesicht sehen konnte, das nun über und über mit Blut verschmiert war.

„Sieht mir ganz nach einer gebrochenen Nase aus“ sagte er mehr zu sich selbst als zu der Gestalt und faßte das Gesicht am Kinn. Er rüttelte so lange daran, bis der Eindringling die Augen öffnete und in der Dunkelheit versuchte, das Blut aus ihnen zu zwinkern. Er stöhnte erneut.

Dynes, der endlich erkannte, wen er dort vor sich hatte, kniff die Brauen zusammen.

„Paves? Der junge Paves aus der Hochburg?“

Die blutige Gestalt nickte fast unmerklich. Dynes fluchte.

„Was in aller Welt hast du hier zu suchen, Junge?“

 

Warmer, freundlicher Kerzenschein erhellte die Einrichtung des Zeltes der Valae. Die enorme Sammlung von Büchern und Schriften, welche die Alte Frau mit zur Weide zu nehmen geruhte, lagerten in kleinen Regalen und  auf Anrichten und schienen förmlich darauf zu warten, gelesen zu werden. Kein Jurakai wußte, wie lange es gedauert hatte, all diese seltenen und oftmals seltsamen Stücke zusammenzubekommen. Der Wissensreichtum von Jahrhunderten war in diesen Büchern niedergeschrieben worden, von vielen verschiedenen Leuten in vielen verschiedenen Sprachen. Die Folianten beherbergten einen schier unermeßlichen Vorrat an Weisheiten und Hilfestellungen, aber auch Unmengen von anderen Dingen, die vielleicht Unnütz, möglicherweise aber auch außerordentlich wichtig sein konnten.

Während die Valae nun in einem dieser Bücher Eintragungen vornahm, behalf Talamà sich damit, ein wenig in den Schmökern zu stöbern, die von der Kunst der Worte berichteten. Irgendwann blickte die Alte auf, fixierte die junge Frau, die die soeben gelesene Schriftrolle zusammenfaltete und auf einem hohen Stapel anderer Pergamente ablegte. Die Jurakai musterten sich gegenseitig, und erst jetzt fiel Talamà auf, wie gebrochen die Alte wirkte, welche Sorge ihr ins Gesicht geschrieben stand.

„Wie geht es Euch?“ fragte die junge Jurakai teilnahmsvoll und rückte auf ihrem Sitzkissen herum. Bei näherer Betrachtung sah die Valae in der Tat sogar unheimlich schlecht aus.

„Es ist viel geschehen, Kind“ antwortete die Alte mit brüchiger Stimme, und, als wenn das schon genug gewesen wäre, beugte sich vor, um nach etwas zu suchen, das sich in all den Papieren vor ihr befinden mußte.

„Habt Ihr mit Teagar gesprochen, Valae?“

„Das habe ich“ meinte die Frau und nickte leicht. „Viele Dinge sind geschehen in Ruben, vieles, das unerfreulich ist.“

„Was ist es, Valae?“

Die Alte wandte sich, ohne auf die Frage zu antworten, wieder ihren Büchern zu. Talamà runzelte die Stirn ob dieser merkwürdigen Verhaltensweise, gab aber nicht auf.

„Wollt Ihr es mir nicht sagen?“

„Es tut mir leid, Kind. Ich habe einen Schwur geleistet, niemandem davon zu erzählen. Jedes Ratsmitglied hat ihn geleistet.“

Aufgebracht sah Talamà der alten Frau in die Augen. „Aber... aber es geht mich genauso etwas an, worüber Ihr beraten habt!“ rief sie aufgebracht. „Ich war auch dabei, als wir in der Steppe die Pferdeleichen fanden! Bitte sagt mir, um was es bei der Sitzung ging!“

„Das  kann ich nicht, Kind. Das mußt du verstehen.“

Talamà zögerte, stürmte dann jedoch zum Ausgang des Zeltes und riß schwungvoll die Plane beiseite. Der Luftzug, der sogleich ins Innere strömte, ließ die Kerzenflammen erzittern und Wachströpfchen auf die Bücher fliegen. Die Valae blickte scharf auf, mit strafendem Blick in ihren alten Augen, doch die junge Frau war längst hinausgelaufen. Kopfschüttelnd wandte sich die Alte wieder den Schriften zu und hoffte, in ihnen eine erklärende Lösung zu finden.

Vor dem Zelt, aufgewühlt und verwirrt, blieb Talamà stehen, um sich ihrer Lage bewußt zu werden. Sie hatte Dinge gesehen, die sie Nacht für Nacht Alpträume haben ließen, und von Begebenheiten gehört, die wie Schauermärchen klangen, die man Kindern erzählte. Wie konnte die Valae jetzt also erwarten, daß sie sich mit dem wenigen, was sie wußte, zufriedengeben würde? Immerhin hatte die alte Frau Talamà als Schülerin angenommen, oder war es etwa nicht so? Sie hatte Talamà nicht nur angenommen, sie hatte sie sogar selbst dazu erwählt! Und das, obwohl die Valae noch niemals vorher eine Schülerin ausgebildet hatte! Nahm sie sich also daher einfach das Recht, ihr die Dinge vorzuenthalten, die vielleicht wichtig waren? Nahm sie sich das Recht dazu, nur weil Talamà auf sie angewiesen war? Weil es niemanden sonst in der Weide gab, der die Kunst der Worte derart perfekt beherrschte?

Wütend trat Talamà nach dem Gras, pflügte eine kleine Schneise mit ihrem Schuh. Nein, die Alte wußte wirklich nicht, was sie wollte! Sollte sie sich doch allein mit ihren veralteten Schriften auseinandersetzen. Sollte sie doch darauf warten, daß ihre Schülerin zurückkam, um sich zu entschuldigen.

Mit dem dringenden Bedürfnis nach Einsamkeit rannte die junge Frau aus der Zeltstadt, die kleine Anhöhe hinaus, auf deren Wipfel sich ein Wäldchen erstreckte. Das feuchte Gras unter ihren Füßen tat gut, und auch der schwarze Nachthimmel wirkte versöhnend, schluckte den Zorn, den das Mädchen empfand. Sie entfernte sich immer weiter vom Lager, bis sie in der Dunkelheit der mondlosen Nacht ihren Lieblingsplatz gefunden hatte.

Es war ein riesiger Monolith, der aus dem Boden ragte. Seine Oberfläche war glatt, der Stein selbst so bleich wie die Haut einiger Manur. Kleine Trittstufen waren in ihn geschlagen worden, wann und von wem, das konnte wohl niemand mehr sagen. Mit ein paar leichten Sprüngen kletterte die Jurakai auf den Rücken des großen Steins, von dem aus man einen überwältigenden Ausblick über Ruben hatte. Selbst jetzt, in der Düsternis der Nacht, in der nur das ewige Licht der Sterne den Weg wies, konnte Talamà weit über die Ebene sehen, über die Weide des Sommers hinaus, bis hin zum Geriadru-See und vielleicht noch weiter. Irgendwo weit hinter der Seenlandschaft, in den hügeligen Tälern des Hochlands, lagen die Städte der Manur, die Höfe und Siedlungen und ihre Gutshöfe.

Talamà verzog die Lippen, als sie daran dachte, daß dieses Land einst den Jurakai gehört hatte. Doch das war, bevor die Menschen anfingen, ihre steinernen Siedlungen zu errichten, ihre Höfe und Städte zu erbauen und mit ihren schier endlosen Straßen und kastenförmigen Feldern das Gesicht der Erde zu verändern. Nun, es war geschehen. Teagar sprach ihnen mehr und mehr Land zu, verlangte nichts im Gegenzug. Die Menschen befanden sich auf einem Vormarsch, der sich nicht aufhalten ließ. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie die Grenzen des Weilerwalds erreicht haben würden und damit begannen, die dort lebenden Jurakaistämme aus ihren Gebieten zu vertreiben...

Mit übereinandergeschlagenen Beinen rutschte Talamà auf dem harten Stein herum, zog an ihren Ärmeln und kauerte sich zusammen, um sich vor der Kälte der Nacht zu schützen. Während sie ihre Arme aneinander rieb, spürte sie plötzlich ein sonderbares Beben unter ihren Füßen, fühlte das Vibrieren des riesigen Monolithen. Sie ließ sich am glatten Leib des Steins herabrutschen, bis sie wieder auf nassen Gräsern stand, doch auch hier dauerte das Zittern an, war sogar, wenn möglich, noch stärker geworden.

Ein plötzliches flaues Gefühl machte sich in Talamàs Magen breit, und ein dunkles, ungewisses Empfinden von Angst regte sich in ihr. Ohne noch einen Gedanken an die Manur zu verschwenden, lief sie zur schlafenden Weide des Sommers zurück.

Das Zittern unter ihren Füßen hatte sich zu einem Beben verwandelt.

 

„Wisch dir erst einmal das Gesicht ab, Junge“ meinte Dynes und reichte Paves einen Lappen. Mit noch immer blutender Nase brachte der Knabe sogar ein Lächeln zustande, das Arathas auf eine harte Probe stellte. Mühsam unterdrückte er jegliches Gefühl von Respekt, das sich ihm dem Jungen gegenüber aufdrängte.

Er hustete. „Jetzt erzähl mir bitte, wie du dazu kommst, dich mitten in der Nacht hier hereinzuschleichen. Hätte leicht passieren können, daß ich dich umbringe!“

Paves nickte. „Das hättet ihr. Es tut mir leid, Herr. Ich hatte nicht die Absicht, Euer Zimmer zu betreten. Es... ergab sich einfach.“

Dynes hob fragend die Brauen.

„Erzähl von Anfang an, Junge. Glaubst du vielleicht, daß ich erraten kann, was du mit deinen Anspielungen meinst?“

Erneut nickte der Junge. „Natürlich, Herr. Als Ihr mich auf der Zugbrücke zurückließt, wußte ich nicht, was ich tun sollte. Ich konnte auf keinen Fall wieder in die Burg, also bin ich Euch gefolgt. Ich dachte, vielleicht würde mir unterwegs einfallen, wohin ich gehen könnte. Die letzten Wochen ritt ich hinter Euch her. Dann traft Ihr bei diesem Gut ein, und nachdem Ihr hineingegangen wart, habe ich meinen Schimmel im Wald untergestellt. Dann bin ich Euch nach und habe mich so gut es ging im Wirtshaus versteckt. Irgendwann seid Ihr dann auf Euer Zimmer gegangen, und ich schlich Euch nach. Allerdings wartete ich im Gang, um zu sehen, wenn Ihr das Wirtshaus wieder verlassen würdet. Ich wollte Euch schließlich nicht aus den Augen verlieren.“

„Und was hat dich dazu getrieben, doch noch in mein Zimmer zu kommen?“

Der Bursche sah auf, und mit einer hastigen Bewegung wischte er Blut von der Oberlippe. „Ich hörte, wie jemand anderes die Treppen hinaufstieg. Eigentlich hatte ich vor, mir eine Ausrede einfallen zu lassen, wenn mich jemand finden würde. Aber als die Schritte näherkamen, hörte ich die Stimme des Mannes, mit dem Ihr Euch unterhalten habt...“

„Reeves!“ zischte Dynes. Paves nickte kummervoll.

„Ich kenne seinen Namen nicht. Aber ich weiß, daß mit diesem Kerl nicht zu scherzen ist. Ehrlich gesagt habe ich sogar eine Heidenangst vor ihm.“

„Und darum hast du dich besser versteckt. Und natürlich in meinem Zimmer, denn welches würde sich sonst noch anbieten...“

Dynes musterte den Knaben, der sich auf dem Boden zusammenkauerte und vergeblich versuchte, kein Blut auf seine Kleidung tropfen zu lassen. So jung er auch war – er war nicht feige. Und das war eine Eigenschaft, die er mochte.

„Nun...“ begann er mitfühlend, „du wirst wahrscheinlich eine kleine Delle in deiner Nase zurückbehalten, Junge. Und finger nicht so daran herum, sonst verheilt die Wunde nie.“

Er bemerkte die hungrigen Seitenblicke, die Paves immer wieder auf die Früchte warf, welche in einer Schale auf einer Anrichte ruhten. Mit einem Nicken gestattete er dem Knaben, sich von dem Teller zu bedienen. Dankbar griff Paves zu, und Dynes beobachete erstaunt, was der Junge alles in sich hineinschlang.

„Hast nicht viel zu Essen bekommen, als du mir gefolgt bist, was?“

Mit vollem Mund schüttelte der Knabe den Kopf und sagte: „So gut wie gar nichts, Herr. Ich und mein Pferd, wir haben meistens dann Nahrung gesucht, wenn Ihr schlieft.“

Er verstummte und richtete einen fragenden Blick auf Dynes, der abfällig schnaubte.

„Wahrscheinlich willst du mich jetzt darum bitten, wenigstens die heutige Nacht hier verbringen zu dürfen, nehme ich an?“

„Ja, Herr“ antwortete Paves und war sich wohl bewußt, daß der Ritter ihn wahrscheinlich hochkant zu Tür hinausbefördern würde. Wie erwartet schüttelte Dynes den Kopf und ließ damit die letzte Hoffnung im Herzen des Knappen zerrinnen.

„Nein, das kann ich nicht zulassen. Es tut mir leid, Junge.“

Betrübt nickte Paves und wollte sich erheben, doch Dynes kräftige Hand senkte sich auf seine Schulter und preßte ihn wieder nach unten. Ein herbes Lächeln stand auf dem unrasierten Gesicht des Ritters.

„Ich kann nicht zulassen, daß du mich morgen früh schon wieder verläßt und vielleicht umkommst dort draußen. Ich denke, du solltest mit mir kommen.“

Ungläubig klappte Paves‘ Kinnlade nach unten, als er die Worte vernahm. Er sah auf und blickte in die Augen des Ritters, doch er konnte keine Spur eines Scherzes in ihnen entdecken. Arathas meinte es ernst.

„Danke, Herr“ sagte Paves und begann damit, sich zu verneigen.

„Wenn du dich noch einmal vor mir bückst, dann werde ich dir persönlich in den Arsch treten, Junge!“ fuhr Dynes ihn an, aber seine Mundwinkel waren leicht nach oben verzogen. „Dann werde ich es mir vielleicht doch überlegen, dich hier zu lassen.“

„Ja, Herr.“

„Und nenn mich nicht „Herr““ knurrte Dynes.

 

Nachtfalke zog seinen jungen Gefährten so schnell wie möglich aus den Fluten, doch der Jurakai war bereits besinnungslos. Behutsam legte er den betäubten Körper vor sich auf den steinigen Waldboden und beatmete Indigo nach Leibeskräften. Sekunden der Furcht, die wie halbe Ewigkeiten anmuteten, vergingen, aber die Atmung des Jungen wollte sich nicht wieder einstellen. Noch einmal preßte der alte Wanderer seine Lippen auf die Indigos und flößte ihm weiteren kostbaren Sauerstoff ein. Indigos Brustkorb bebte, und seine Lippen zuckten. Ein Schwall braunen Wassers ergoß sich über seine Lippen, und er fing zu würgen und husten an. Seine Augen schlugen auf, die Lider flatterten, schlossen sich aber sofort wieder. Mit den Armen begann der Jurakai, schwächlich nach Nachtfalke zu schlagen, und blubbernde Worte drangen aus seinem Mund.

Geh fort... du... Ungeheuer... bleib mir vom... Leib...

„Still, Indigo!“ murmelte Nachtfalke beruhigend auf ihn ein und wiegte den durchnäßten Körper in seinen Armen. „Wir sind noch lange nicht in Sicherheit. Wenn wir nun durch deinen Wahn entdeckt werden, war alles umsonst.“ Er bewegte den triefenden Kopf in seinen Armen, und mit der Zeit wurden die Worte des Jungen seltener und leiser.

Geh... weg... Falke... wo bist du...

„Ich bin bei dir, mein junger Freund. Bitte glaube mir, es ging nicht früher.“ Er beschwichtigte den Jurakai mit einer sanften, gesummten Melodie und preßte ihn fest gegen seine Brust. „Es wird vergehen; alles wird wieder vergehen. Nur Geduld, und alles wird gut.“

Nachtfalke versuchte, seinen eigenen Worten Glauben zu schenken.

Eine lange, lange Zeit saßen die beiden Gestalten so im Schlammbett des Flusses, fest umschlungen und Wärme spendend, als die Morgendämmerung schon längst hereingebrochen und die Sonne über die Wipfel der Bäume gekrochen war. Irgendwann am späten Nachmittag, als die goldene Sonne sich bereits wieder daran machte, hinter dem Horizont zu verschwinden, entkleidete Nachtfalke seinen Freund und bettete ihn in einen Laubhaufen. Das Wams baumelte an einem Baum, und Falke dankte Himmelfeuer, daß er eine starke Brise gesandt hatte, die die Kleider schnell trocknete. Vorsichtig bereitete er ein kleines Lagerfeuer unter einer Ansammlung von Steinen vor, für das er nur besonders trockenes Holz verwendete. Unter keinen Umständen wollte er die Aufmerksamkeit des Wesens aus der Nacht auf sich ziehen, denn er zweifelte keinen Moment daran, daß es noch immer nach ihnen suchte. Bestrebt, den entstehenden Rauch so gut wie möglich noch in Bodennähe zu verteilen, kochte er eine heiße Suppe in einem kleinen Schälchen aus ihrer Habe. Zum Glück hatte er all ihre Sachen retten können, und das war wenigstens etwas, für das man dankbar sein konnte.

Er saß vor dem Feuerchen und tat sein möglichstes, es am Leben zu erhalten, da es sich anschickte, bei jedem kleinen Windstoß zu flackern und beinahe zu erlöschen. Als die Suppe endlich kochte, brachte er das heiße Schälchen zu Indigo, der bereits wieder ein wenig zu Kräften zu gelangen schien. Er war erwacht, und zitternd hielt er die kleine Schale in den Händen, während er versuchte, nicht einen Tropfen der begehrten Flüssigkeit zu verschütten. Seine hellbraune Haut war übersät mit Wunden und Schürfungen, doch Nachtfalke, der ihn untersucht hatte, war der festen Überzeugung, daß keine Knochen gebrochen seien. Indigo schüttelte den Kopf, um deutlich zu machen, daß er das nicht glauben wolle, aber selbst das schmerzte so stark, daß er es lieber sein ließ und es sich unter dem Laub bequem machte. Die Blätter, schützend vor dem Wind, der aus dem Osten blies und so kühl wie die Nacht selbst war, wirkten wie eine Decke, und der Jurakai kam sich vor wie ein Igel, der sich zum Winterschlaf einkuschelte. Er lächelte über diesen Gedanken, und die plötzliche Wärme aus seinem Inneren ließ einen Schauer durch seinen Körper fahren. Nachtfalke hatte ihn gerettet, obwohl er, im Sog des Flusses, tatsächlich gedacht hatte, daß das Schattenwesen ihn soweit verfolgt und nun doch gefunden hatte. Aber die letzte Wärme der Sonnenstrahlen, die den Laubhaufen und seinen Schützling darunter erhitzten, ließen die Gedanken des Unwohlseins schnell vergehen. Mit Erstaunen dachte er wieder an die Worte, die Falke ausgesprochen hatte, und deren Wirkung. Konnte sein langjähriger Freund tatsächlich ein solches Geheimnis vor ihm verborgen haben? Aber ja, anscheinend hatte er es tatsächlich. Und jetzt, wo Indigo darüber nachdachte, merkte er auch, daß er den alten Jurakai nie auf die Mächte der Worte angesprochen hatte. Er hatte es nie für möglich gehalten, daß ein so erfahrener Schwertkämpfer und Waldläufer noch andere Ambitionen besaß als den Kampf von Mann gegen Mann oder die Reise durch das Land. Doch wenn man Falkes Lebensspanne berücksichtigte schien es nicht unmöglich, sich vorzustellen, wieviel man in all den Jahren erlernen konnte. Nachdenklich rollte Indigo ein wenig in seinem Nest aus Laub hin und her, um festzustellen, welche Stellen seines Körpers am meisten schmerzten. Nach wenigen Sekunden gab er das Unterfangen auf, weil Krämpfe seine Beine zu durchzucken begannen.

Nachtfalke kam zu ihm herüber und setzte sich vor den Blätterhaufen, bemüht, ein fröhliches Gesicht zu machen.

„Na, wie geht es dem Möchtegern-Fisch denn?“ fragte er und reichte Indigo eine kleine Flasche mit einer grünlich schimmernden Flüssigkeit. Skeptisch betrachtete der Jurakai die Phiole, deren Inhalt recht ungesund aussah.

„Was ist das?“ verlangte er zu Wissen, jedoch ohne echten Zweifel an der gutartigen Wirkung der Flüssigkeit. „Willst du mich denn auch noch vergiften, jetzt, da du es schon fast geschafft hast, mich zu ertränken?“

„Ein Wurzel-Kräuter-Gemisch“, antwortete Nachtfalke und zog den Stöpsel von der Flasche. „Ich habe sie schon vorhin gesucht, jedoch nicht gefunden. Sie hätte dir sicherlich geholfen, schneller zu Kräften zu kommen. Das Heilmittel ist sehr stark, und für gewöhnlich verabreiche ich es niemandem, wenn die Situation es nicht erfordert. Da wir aber hier nicht lange unser Lager aufschlagen wollen, denke ich, daß du es zu dir nehmen solltest.“

Zweifel befiel das zerschrammte Gesicht des jungen Wanderers, als er die kleine Flasche in Händen hielt. „Wollen wir uns das Mittel nicht für einen späteren Zeitpunkt aufheben, Falke? Immerhin könnte es sein, daß wir es noch viel besser gebrauchen können.“

Nachtfalke zeigte mit dem Finger in Richtung der Rucksäcke und Taschen, die geschützt unter den Felsen lagen. „Ich habe noch ein paar davon dabei“, gab er dem Jungen zu verstehen. „Es sind zwar nicht so viele, um ein ganzes Heer damit zu versorgen, aber es wird nicht übermäßig schaden, wenn du dieses hier austrinkst.“ Sein Finger tippte leicht gegen das Glas, und Indigo hob die Phiole zum Mund und leerte sie in einem Zug. Fast sofort begann sich ein angenehmes Gefühl der Wärme in seinem Körper auszubreiten und durch seine Adern zu kriechen. Er fühlte sich frei, fast, als würde er schweben, und doch wußte er, daß seine Wunden und Blessuren so schnell nicht besser geworden sein konnten.

„Was ist das für ein Zeug, Falke? Es verändert... mein Bewußtsein.“

„Zuerst hilft es dem Geist, anschließend dem Körper. Die beiden hängen eng zusammen. Ist das eine nicht gesund, kann auch das andere sich nicht entfalten.“ Der alte Jurakai stand auf, um Indigos Wams zu holen, das neben dem Feuer gelegen hatte und ein wenig angewärmt war. Inzwischen war es vollkommen getrocknet, wenn man es auch nicht mehr als vollwertiges Kleidungsstück anerkennen konnte. Fetzen hingen überall herunter, und das Wams wies mehr Löcher auf als ein Sieb. Nachtfalkes Gefährte zog sich die luftigen Kleider an und war erstaunt, daß er tatsächlich keine Schmerzen mehr empfand. Sein verblüffter Gesichtsausdruck blieb dem Alten nicht verborgen.

„Es ist nur eine zeitweise Linderung der Schmerzen, Indigo. Sie wird bald vergehen, und spätestens morgen früh werden dich deine Wunden bei jedem Schritt an den heutigen Tag erinnern. Aber es wird weit weniger schlimm sein als vorhin, und ich denke, du wirst laufen können.“ Er hielt inne und schien zu überlegen. Einen Finger im Wind lauschte er darauf, was die Landschaft ihm mitzuteilen hatte, wandte sich anschließend wieder dem Jurakai zu. „Und es wird nötig sein, zu laufen. Wenn das Wesen uns noch immer auf den Fersen ist, wird es schwierig sein, ohne weitere Probleme zur Weide des Sommers zu gelangen. Wir sollten so bald wie möglich von hier verschwinden. Dieser Ort ist zu ungeschützt.“

Indigo nickte müde und machte sich daran, wieder in seinen vorgewärmten Laubhaufen zu kriechen. Wenn sie morgen schon wieder losmarschieren würden, dann konnte er wenigstens heute Abend noch einmal seine geschundenen Knochen ausruhen, fand er. Er kuschelte sich in das Laub, und Nachtfalke legte behutsam eine Decke über ihn, doch das bemerkte sein junger Freund schon gar nicht mehr. Wie er dort so friedlich in seinem Nest schlummerte, konnte Nachtfalke sich nicht dazu überwinden, ihn wieder aufzuwecken für eine zweite Suppe, die er auf dem Feuer aufgesetzt hatte. Er schlenderte zurück zu den Felsen, trank die heiße Flüssigkeit selbst und machte sich fertig für die Nacht. Bei ihm allerdings bestanden die Vorkehrungen aus mehr als bloßem Zudecken und Einkuscheln in warme Blätter. Er entzündete ein kleines, rauchendes Stäbchen neben seinem Lager, das bis tief in die Nacht brannte. Als das kleine Ding nach langer Zeit erlosch, öffnete Nachtfalke die Augen, rollte sich zu seinem Rucksack und entzündete ein weiteres der seltsamen Stäbchen. Der Rauch hüllte den kleinen freien Fleck ein, und bis zum Morgen schlief der Jurakai ohne ein weiteres Erwachen. Fast zeitgleich mit dem letzten Funken, der vom zischenden Stab sprang, stand Nachtfalke im Morgengrauen auf und betrachtete das abgebrannte Ding interessiert. Nach eingehendem Studium machte er einen zufriedenen Gesichtsausdruck und fing an, die Sachen der beiden Jurakai zusammenzupacken. Er begann, ein fröhliches Lied zu pfeifen und die Spuren der Feuerstelle zu verwischen. Die Asche schob er in die Ritzen der Felsen, und die Reste von Holzstücken warf er zurück in den Weilerwald. In weitaus besserer Stimmung als am Vorabend sog er die frische, klare Luft des Waldes ein und ließ sie mit einem lauten Schnaufen wieder entweichen.

Er schlenderte zu dem kleinen Häuflein, das Indigos Nest markierte und schob sanft die Blätter beiseite. Der zu Tage geförderte Jurakai, gerade erwacht, nieste heftig, als die Sonne ihm mitten ins Gesicht schien, und er versuchte, die Decke wieder über sich zu ziehen. Knurrend rollte er von Nachtfalke fort.

„Einen guten Morgen, junger Schläfer. Ich weiß, das Mittel wird seine Wirkung verloren haben, doch es sollte dir eigentlich so gut gehen, daß wir aufbrechen können.“

Unter einem lauten Ächzen streckte Indigo seine steifen Glieder und war erstaunt, wie wenig sie schmerzten. Er erhob sich und lief ein paar Schritte zur Probe, doch auch das entlockte seinen Muskeln nicht mehr als ein wenig Ziehen. Die quälenden, stechenden Beschwerden des letzten Tages waren wie aufgelöst.

„Na, siehst du“, schmunzelte Nachtfalke mit einem leichten Grinsen auf dem faltigen Gesicht. „Wenn du so gut laufen kannst, schaffen wir es vielleicht sogar heute noch, das Lager des Volkes zu erreichen. Dort werden deine Blessuren dann richtig behandelt.“ Der Sarkasmus, der in seiner Stimme lag, war unverkennbar, doch Indigo ging nicht darauf ein.

Nachtfalke überließ seinem jungen Gefährten seinen eigenen Mantel, den einzigen, den sie noch besaßen. Indigos mußte irgendwo auf der hastigen Flucht verloren gegangen sein, doch wenigstens heute war es dem alten Jurakai egal, ob er einen Mantel trug oder nicht. Er freute sich ebenso wie sein Freund, bald am vorläufigen Ziel zu sein. Fröhlich brachen sie ihr Lager ab und machten sich auf den erneuten Weg durch den Wald, der diesmal allerdings wesentlich kürzer war. Indigo trat anfangs noch vorsichtig auf, um keinen Muskel zu viel zu beanspruchen und sein schwaches Fleisch zu schonen. Doch bereits nach einer Stunde Wanderzeit hatte er sich an das leichte Ziehen gewöhnt, das durch seine Körperpartien zuckte, sobald er einen Schritt tat, und sie konnten in normaler Geschwindigkeit voranschreiten.

Nach nur zwei weiteren Wanderstunden - die Sonne stand noch lange nicht im Zenit - erreichten sie die letzten Ausläufer des Weilerwalds. Von hier erstreckten sich vereinzelte Grüppchen von Bäumen ins Grasland, wie Arme aus dem tiefen Wald ragend. Nachtfalke rechnete damit, spätestens bis zum frühen Abend am Ziel zu sein, und die beiden legten einen Schritt zu. Nachdem sie ein paar kleine Hügel überwunden und zwei Flüsse überquert hatten, zeigte Indigo über den Wald, und die Wanderer hielten inne.

„Eine Rauchfahne, Falke“, sagte er und deutete auf die schwarzen Wolken, die hinter einem kleinen Laubwäldchen hervorkrochen. Eine üble, dreckige Farbe haftete an den Schwaden.

„Hinter dem Wäldchen befindet sich die Weide des Sommers“, meinte Nachtfalke erklärend. „Vielleicht machen sie ein großes Feuer. Komm, laß uns schneller laufen, damit wir bald da sind.“

Indigo folgte seinem Freund, obwohl immer wieder leichte Wellen des Schmerzes durch seine Glieder jagten. Aber die Vorfreude ließ ihn die Beschwerden vergessen, und so hatten sie das kleine Wäldchen bald umrundet, und ihr Blick reichte in das weite Tal.

Die Rauchschwaden waren tatsächlich vom Lager aufgestiegen, jedoch war das Feuer, das in der Zeltstadt brannte, bestimmt nicht beabsichtigt.

Das Lager der Jurakai, die Weide des Sommers, stand in Flammen!

 

(c) Dirk Wonhoefer , 2001

Weitere Texte sowie Hintergrundinformationen finden sich auf der Homepage zu Roter Mond.