Kapitel 1
Aufbruchstimmung

(c) Dirk Wonhoefer , 2001


 

Die beste Gelegenheit ist immer die, die man nutzt.

Talama Winterlocke

Der diesjährige Sommer war kühl und verfroren.

Weiden schaukelten zitternd im reinen, kalten Wind, ihre langen Äste wie Schleier dem Boden zugeneigt. Ein kleines Grüppchen dieser Bäume hatte sich inmitten von riesigen Kiefern und Eichen seinen festen Platz bewahrt, bildete einen lichten Weidenzirkel mitten im tiefsten Wald. Die Zweige einer der Weiden raschelten, und eine lange, schlanke Gestalt kletterte von ihnen herab.

Mit flinken Bewegungen ließ sich die Person nach unten rutschen, vom krachenden Getöse splitternder Äste begleitet. Als ihre Füße festen Boden berührten, schien sie zu verharren und den Geräuschen des Waldes zu lauschen, dann jedoch schüttelte sie den Kopf, schien sich eines Besseren zu besinnen und legte sich auf das Gras am Fuße des Baumes. Sie schloß die Augen, und die ruhige Atmosphäre schien wie Geschaffen zum Einschlummern, die wogende Melodie der Zweige wie ein hölzernes Wiegenlied. Ein entspanntes Lächeln breitete sich auf den Zügen der Gestalt aus, und mit einem Seufzer legte sie die Hände auf die Brust und ließ die frische Luft tief in ihre Lungen fließen.

Der Tag zählte nur noch wenige Stunden, bis die Nacht erneut über den Weilerwald hereinbrechen würde, doch Indigo verspürte nicht den geringsten Drang, noch weiteren Tätigkeiten nachzugehen oder sich gar nützlich zu machen. Das nahegelegene Walddorf, Eldraja’aro, würde auch ohne sein Zutun weiter existieren, und die letzten Jurakai, die noch in dieser Stadt lebten, würden auch ohne seine Hilfe zurechtkommen. Es war das erste Jahr, in dessen Sommer er nicht mitsamt seines Volkes in die Täler gezogen war, um die dortigen Jagdmöglichkeiten zu nutzen und die Herden weiden zu lassen. Sein Vater, Teagar, hatte diesen Entschluß zwar mißbilligt, sich jedoch eines abfälligen Kommentars enthalten. Seine Mutter hatte ein Gleiches getan, und so war Indigo nun der einzige junge Jurakai, der sich gegen Ende des Hochsommers noch in Eldraja’aro aufhielt. Alle restlichen Bewohner waren entweder alt oder krank, doch sie waren versorgt und geborgen in den Tiefen des Weilerwaldes.

Nun war er allein, abgeschieden von all seinen Freunden und Bekannten, und er wußte, daß er diese Zeit brauchte, ja, sie sogar herbeigesehnt hatte. Er mußte endlich mit seinen Gedanken ins Reine kommen, konnte sein Leben nicht wie bisher leben. Ständig war er hin- und hergerissen zwischen zwei Seiten, die so unterschiedlich waren und ihm beide doch so nah.

Einerseits wollte Teagar, der für den Jurakaistamm Eldraja’aros die Verantwortung trug, seinen einzigen Sohn zum Diplomaten ausbilden und ihn an den Hof der Manur schicken, den Sitz des Hochkönigs. Der alte, fürsorgliche Mann hatte sich in den letzten sechzig Sommern alle Mühe gegeben, Indigo beizubringen, was er wußte, doch die Aufmerksamkeit des Jungen wurde ausgerechnet vom besten Freund seines Vaters abgelenkt. Naigaras, ein Jurakai, der weitläufig nur unter dem Namen Nachtfalke bekannt war, nutzte jede freie Sekunde, die er mit Indigo verbringen konnte, um ihn nach seiner Auffassung von Recht und Ordnung aufzuziehen.

Von Kindesbeinen an war Nachtfalke bei ihm gewesen, war sein Begleiter, als er die ersten Streifzüge durch die Wälder unternommen, seine ersten Jagdversuche gewagt hatte. Der seltsame Jurakai war einer der Ältesten seiner Rasse, die überhaupt noch auf Rubens Antlitz lebten, und doch war er auch gleichzeitig der Erfahrenste und Geschickteste von ihnen. Ungeachtet seines enormen Alters, das Erzählungen zufolge bereits ein ganzes Jahrtausend währte, übte er sich mit Indigo im Schwertkampf und verschiedenen anderen Disziplinen, als wäre er ein junger Spund von vielleicht hundert Sommern, gerade in der Blüte seiner Jugend und so ausgelassen wie ein tollender Hund. Im Gegensatz zu Indigos Vater, der die Hälfte dessen Lebens auf Reisen zu Manurstädten verbrachte, hatte Nachtfalke die Nächte an der Seite des Jungen verbracht, ihn gelehrt, die Gaben der Natur zu nutzen und in den Wäldern zurechtzukommen. Zwar war auch Nachtfalke oft in Ruben unterwegs, hatte manchmal sogar mehrere Jahre lang nichts von sich hören lassen, doch wenigstens verbrachten sie all die Zeit miteinander, die der alte Kauz sich in Eldraja’aro aufhielt. Der Jurakai betrachtete den Alten vielmehr wie einen Freund, nicht als den Lehrer, der er tatsächlich war. Und vielleicht schmerzte die Einsamkeit, die Indigo nun empfand auch gerade deshalb so sehr, weil Nachtfalke zusammen mit dem Volk in die Täler gezogen war, um die dortige Jagd zu beaufsichtigen.

Er rollte sich auf die andere Seite, blickte hinauf in die hohen Baumwipfel, in die verästelten Kunstwerke der Zweige, die sich über seinem Kopf erstreckten. Ein Eichhörnchen kraxelte geschwind über das Spinnennetz aus verwobenen Ästen, und wo der Weg abrupt endete, sprang es ohne erkennbare Schwierigkeit einfach zum nächstbesten Zweiglein, federte davon ab und wuselte weiter. Wie dieses kleine Nagetier wollte er sein, so unbeschwert und frei; jede Sekunde konnte den Tod bergen, der mit tausend verschiedenen Gesichtern auf das winzige Geschöpf herabsah, doch er wäre auch lebendig, viel lebendiger, als er es wohl jemals sein würde...

Nun, er würde sich letztendlich zu einer Entscheidung durchringen müssen. Sein Vater hätte ihn bestimmt schon dieses Jahr dazu gezwungen, sich von denjenigen Jurakai unterrichten zu lassen, die den meisten Umgang mit den Manur pflegten, doch Indigos spontaner Entschluß, den Sommer über in Eldraja’aro zu bleiben, gewährte ihm einen letzten Aufschub, eine Gnadenfrist, bevor er tatsächlich beginnen würde, sich mit den Menschen und ihren Gewohnheiten auseinanderzusetzen. Die größte Angst hatte er davor, daß sein Vater ihm möglicherweise sogar den Kontakt zu Nachtfalke verbieten könnte, doch diese Sorge schien unberechtigt. Nachtfalke und Teagar waren die besten Freunde, und Indigo argwöhnte, daß Vater sich dem alten Waldläufer zu etwas schuldig fühlte, andererseits er ihn wohl niemals so lange hätte gewähren lassen. Wie dem auch sei, die Gedanken an Nachtfalke hatten ihn angeregt, seine erzielten Tagesleistungen ein wenig zu verbessern. Das Herumklettern auf Weidenbäumen konnte wohl kaum als nützliche Tätigkeit angesehen werden.

Unter Ächzen und Stöhnen erhob er sich von seinem schönen Fleckchen auf der Wiese, dankte der Weide mit einem neckischen Knicks fürs bereitwillige zur Verfügung stellen von Schatten und schlenderte langsam einen alten Waldpfad entlang, der zum Übungsring führte. Die dortigen Bäume, allesamt Eichen, die heute wohl schon tot sein mußten, soviele fehlplazierte Pfeile sich in ihre wunde Borkenhaut gebohrt hatten, reihten sich aneinander wie eine Gruppe von Tänzern, bildeten einen fröhlichen Ringelreigen. Das Licht, das sich seinen Weg durch das Blätterdach hart erkämpfen mußte, erhellte die Umgebung nur spärlich, machte das Zielen auf die vielen an den Eichen angebrachten Scheiben zu einer wahren Herausforderung.

Indigo nahm seinen Bogen vom Rücken, zückte einen Pfeil und visierte sein potentielles Opfer an. Ein alter, dicker Baum war es, auf den sich nun eine metallene Spitze richtete. Wie bei so vielen Dingen, denen Indigo eine bevorzugte Behandlungsweise angedeihen ließ, zählte auch der Baum zu den besonders in Mitleidenschaft gezogenen Übungsobjekten des Jurakai. Viele Jahre hatte er nun schon als Fänger für danebengeschossene Pfeile herhalten müssen, doch in letzter Zeit wurden die Fehltreffer immer seltener, blieben die Schüsse aus, die dem Baum sein heutiges vernarbtes Aussehen gegeben hatten. Indigo wurde von Tag zu Tag besser, und das, obwohl Nachtfalke erst letzten Sommer damit begonnen hatte, ihn in die Technik des professionellen Bogenschießens einzuweihen. Er kniff das linke Auge zu, zielte sorgfältig und ließ die gespannte Sehne mit einem Zischen in ihre Ausgangsposition zurückschnellen. Das Projektil raste durch die Luft, um zitternd in der Mitte der Zielscheibe steckenzubleiben. Zufrieden betrachtete Indigo das Ergebnis. Viel besser konnte es wohl kaum werden. Er erwog kurz die Möglichkeit, das Bogenschießen für Heute aufzugeben, da er seine Leistung wohl sowieso nicht steigern konnte, verwarf sie jedoch sogleich, als er sich an Nachtfalkes Lehren erinnerte: „Niemand ist so gut, daß er keine Übung mehr gebrauchen könnte.“

Indigo nickte leicht, legte dann einen zweiten Pfeil an die Sehne und spitzte die Lippen, als ein leichter Wind aufkam. Die Brise würde die Flugbahn zwar nicht entscheidend verändern, dennoch aber den Schuß interessanter gestalten. Wenn er den Pfeil ein wenig mehr nach rechts ausrichtete...

„Indigo!“

Die Hand des Jurakai zuckte, das Geschoß entfloh seinem Griff, wurde von der Sehne geschleudert und suchte sich seinen Weg durch den Wald. Mit einem lauten Krachen fuhr es ins Holz der alten Eiche, fügte den bereits verheilten eine neue Wunde hinzu. Ein Fluch legte sich auf Indigos Lippen, als er sich umdrehte, verschwand jedoch sogleich, als er erkannte, wer sich ihm im Schattenlicht der Wälder genähert hatte.

„Indigo“ rief die große Gestalt erneut und ließ einen skeptischen Blick zur getroffenen Eiche schweifen. „Hm. Falls es deine Absicht war, diesen Baum zu erlegen, so muß ich dir leider mitteilen, daß Holz nicht sehr nahrhaft ist...“

„Falke!“ rief Indigo seinerseits und umarmte die vertraute Gestalt erfreut. „Falke“ wiederholte er, als er den alten Jurakai betrachtete. „Es ist schön, dich zu sehen! Ich... ich dachte, du wärst in der Weide des Sommers, beim Volk?“

Nachtfalke zögerte einen Moment zu lange, bevor er antwortete: „Ich war dort. Mein Rat wurde nicht länger benötigt, deshalb dachte ich, es wäre nicht falsch, dir einen Besuch abzustatten. Und zwar genau zum richtigen Zeitpunkt, wie ich sehe. Deine Schießkünste scheinen noch schlechter zu sein als dein Schwertkampf.“

Indigo hob die Brauen. „Du hast mich abgelenkt. Mir blieb keine Zeit, um zu zielen...“

„Auch im echten Kampf bleiben Ablenkungen nicht aus, törichter Narr.“

„Ja, Falke, aber dann bin ich darauf vorbereitet...“ wandte Indigo ein, wollte sich jedoch auf kein Streitgespräch mit seinem Freund einlassen. Nachtfalke war bei ihm, und nun würde die Einsamkeit, mit der er zu kämpfen hatte, ein Ende finden.

„Aber mal im Ernst, was tust du zu dieser Jahreszeit in den Wäldern, Falke? Du kannst mir doch nicht weismachen, daß man dein Jagdgespür nicht benötigt!“

„Ich habe mich entschieden, dich noch etwas zu unterrichten, bevor dein Vater mir diese Verantwortung abnimmt. Ich habe das Gefühl, daß er langsam ungeduldig wird. Wahrscheinlich täten wir gut daran, die Zeit zu nutzen, die uns noch zur Verfügung steht.“

Indigo verzog die Lippen. „Das gleiche ging mir auch schon durch den Kopf. Aber ich werde alles tun, um nicht an den Königlichen Hof zu müssen. Mein ganzes Leben lang habe ich von dir gelernt, in den Wäldern zu leben und die Natur zu nutzen... und nun will Vater mich zur Hochburg schicken?“

„Es wird einst die Zeit kommen, da Teagars Bürde auf dich übergeht, Indigo. Deine Eltern haben innerhalb der letzten Jahre ein besseres Verhältnis zwischen Jurakai und Manur aufgebaut, als es ihre Vorgänger in Jahrhunderten vermochten. Es besteht zwar ein dünnes Band zwischen den Völkern, das jedoch noch sehr zart und fein ist und jeden Moment zu zerreißen droht. Freundschaft würde ich es nicht nennen, denn man sieht unser Volk noch immer schief an, wenn wir uns in Manurstädte begeben oder ihr Land durchqueren... aber am Hof haben sich Teagars Lehren bereits soviel Gehör verschafft, daß unsereins dort ungehindert ein- und ausgehen kann.“

„Ich habe gehört, daß der derzeitige Hochkönig nicht viel von uns hält...“

„Das mag stimmen. Doch er wird ersetzt werden, genauso wie all die Monarchen der Manur vor ihm. Die Lebensspanne dieser Menschenwesen ist so kurz, daß sie uns manchmal wie ein Augenzwinkern vorkommt. Auch wenn der jetzige König vielleicht streitsüchtiger ist als seine Vorgänger, so wird er schon bald einem neuen Platz machen müssen. Und wenigstens ist er so klug, den alten Krieg zwischen Manur und Dverjae nicht wieder anzufachen.“

„Oh ja, die Dverjae“ murmelte Indigo, an einen Baum gelehnt. „Sie werden wohl noch schlechter mit König Westfald zurechtkommen, vermute ich.“

„Sie sind ein starkes Volk. Sie haben den Manur seit jeher Widerstand geleistet, ohne sich einfach feige zurückzuziehen..."

„Also bist du doch dieser Meinung!“ warf Indigo unvermittelt ein. „Ich war mir nie schlüssig darüber, wie du zur Entscheidung meines Vaters standest, den Manur die Grenzen des Hochlands zu überlassen!“

„Es wäre auf einen Krieg hinausgelaufen, wenn dein Vater ihnen dieses Stück Land nicht anerkannt hätte. Das Volk der Menschen dehnt sich immer mehr aus, und sie beanspruchen Platz, der seit Urzeiten den Jurakai gehört. Doch wir sind ein friedfertiges Volk, und ich denke, dein Vater hat nicht falsch gehandelt. Doch auf lange Sicht gesehen... wird es irgendwann im Blut enden. Teagar will das nicht begreifen, denn er hält noch immer an der Vorstellung fest, daß unsere Rassen in Frieden nebeneinander existieren können.“

„Aber die Menschen breiten sich aus...“ sagte Indigo leise, und beide führten sie im Geiste die Gedankenkette weiter. Beide schüttelten sie den Kopf.

Nachtfalke ergriff als erster wieder das Wort. „Es wird noch lange dauern, bis es soweit ist, Indigo. Viele Herrscher aus den Reihen der Manur werden sich noch des Thrones bemächtigen, und wer weiß, vielleicht wird einst einer unter ihnen sein, der eine andere Denkweise an den Tag legt und den Jurakai Freundschaft und Vertrauen entgegenbringt? Doch vielleicht auch nicht, und unter Umständen wirst du es sein, Indigo, dem die Jurakai folgen werden, wenn es zu einem Krieg zwischen Menschen und Jurakai kommen sollte.“

Indigo seufzte. „Deswegen frage ich mich, warum Vater mich unbedingt in seine Politik einbeziehen muß. Er lehrt mich, die Manur zu verstehen... doch sie versuchen erst gar nicht, uns zu verstehen! Viel lieber lerne ich von dir, Falke! Du bringst mir wenigstens bei, mich zu wehren, anstatt mich rückgratlos zu verstecken, so wie Vater es tut.“

Indigo blickte auf und empfing voller Überraschung eine schmetternde Ohrfeige. Nachtfalkes Gesicht war verbissen, jedoch nicht zornig.

„Indigo! Keine abfälligen Bemerkungen über Teagar! Du kennst ihn nicht halb so gut wie ich, auch wenn er dein Vater ist! Er tut dies alles, weil viel Schmerz in ihm verborgen ist. Es ist seine Philosophie, und wenigstens Zeitweise können die Jurakai glücklich leben, ohne einen Krieg befürchten zu müssen!“

„Ich... es tut mir leid“ gestand der Junge sich ein und neigte das Haupt. „Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich nur deine Gedanken aussprechen oder zu Ende führen.“

„Ich habe niemals schlecht über deinen Vater gedacht, und ich werde es niemals tun. Unser ganzes Volk sieht ihn als den größten Mann, den die Welt jemals hervorgebracht hat. Und was zählt in dieser Hinsicht schon die Meinung eines alten, verdrehten Schwachkopfes, der gern durch die Wälder zieht und der Stimme des Windes lauscht...“

„... doch vielleicht kann dieser Schwachkopf wenigstens dem Sohn dieses Mannes zeigen, was es heißt, ein Jurakai zu sein...“ warf Indigo ein, und in Nachtfalkes Augen blitzte es.

„Möglicherweise“ flüsterte der Alte und legte Indigo eine Hand auf die Schulter. „Ich versuche nur, dir ein wenig Kampfgeist einzuprägen, verstehst du? Ich will nicht, daß du einmal, wenn ich schon lange nicht mehr bin, in deines Vaters Fußstapfen trittst, und plötzlich bemerken mußt, daß diese Spuren dich und unser Volk in den sicheren Tod führen. Denn dann wird es zu spät sein, um die Jurakai wachzurütteln. Ich behaupte nicht, daß du schon jetzt damit beginnen solltest... doch ich will, daß du selber erwachst, Junge. Daß der Kämpfer erwacht. Ohne ihn... sind wir nur Gestalten, die sich im Laufe der Zeit immer mehr verlieren werden.“ Die Hand noch immer an Indigos Schulter, drückte Nachtfalke plötzlich zu, und ruckartig blickten sich Schüler und Lehrer in die Augen.

„Der Kämpfer muß erwachen!“ flüsterte Nachtfalke. „Der Kämpfer muß erwachen...“

 

Das dämmrige Licht erblühender Sterne sponn das Netz der Nacht über Eldraja’aro, als Indigo und Nachtfalke sich der Waldstadt näherten. Die fahlen Strahlen drangen durch die Baumwipfel und erhellten das schlummernde Dorf.

Weide des Schlafes wurde es von den Jurakai auch genannt, und tatsächlich mutete Eldraja’aro ruhig an, fast verträumt, als läge es in einem tiefen, zauberhaften Schlaf und würde selbst dann nicht wieder erwachen, wenn die Sonne am nächsten Morgen über die Stätte schlich. Von allen Seiten her kommend führten Pfade in die Waldstadt, gesäumt von langen Pfählen, welche die Eingänge der Siedlung markierten. Auch wenn sie im Sommer verlassen schien und die übrigen Jurakai nur wie umherirrende Geister wirkten, so war sie doch so lebendig wie der Wald selbst, ja, sie war der Wald.

Hier wuchsen die Giganten des Weilerwalds, die Könige unter den Bäumen. Stämme, deren Umfang keine zehn erwachsenen Männer mit ausgestreckten Armen zu umfassen vermochten, ragten aus dem bemoosten Boden in den Himmel empor. Ihre Borke so alt, daß selbst die Schnitzer und Einkerbungen, die die ältesten der Jurakai in ihrer Kindheit hineingeritzt hatten, längst verwachsen und vergessen waren, verharrten sie stoisch auf ihrem Platz, unbeirrbar und zeitlos wie die Berge.

In ihren riesigen Leibern klafften Löcher, das Innere der Bäume war ausgehöhlt auf Bodenhöhe, die Waldriesen waren zu Behausungen umgeformt. Doch die geschickten Hände der Jurakai hatten gerade soviel Holz entfernt, wie der Baum entbehren konnte, nicht einen Splitter mehr. Noch immer floß Leben durch die Stämme, pulsierten die Adern des Waldes im selben gleichmäßigen Takt.

Dünne, verschlungene Pfade zogen sich kreuz und quer durch die Siedlung, wanden sich schlangengleich zwischen den Bäumen und bildeten ein phantastisches, blühendes Labyrinth. Nebeneinander und gelegentlich sogar übereinander liefen sie, manchmal bildeten hölzerne Brücken Verbindungen zwischen zwei höher gelegenen Stellen, jedoch schienen die Wege keiner inneren Ordnung zu folgen. Die Stimme des Waldes war hier allgegenwärtig, doch die Natur schien sich nur dort aufzuhalten, wo es ihr erlaubt war. Keine Büsche oder Gräser hatten sich auf den Pfaden ausgebreitet, kein Pilz wuchs dort, wo er nicht erwünscht war. Es war, als würde der Wald sich selbst in Zurückhaltung üben, als wolle er das Kunstwerk, das er an diesem Ort geschaffen hatte, nicht zerstören – wie ein Künstler, der darauf bedacht ist, sein Bild nicht zu überfüllen, um damit dessen Wirkung nicht zunichte zu machen.

Nachtfalke, der nun zum ersten Mal seit mehreren Monaten  wieder in der Weide des Schlafes war, füllte seine Lunge mit mehreren tiefen Atemzügen, spürte das Gleichgewicht und die Ausgewogenheit, die an diesem Orte herrschten. Er zwinkerte, als sie das Sa’e Indigos erreichten.

„Meine Güte“ murmelte er beeindruckt und merkte nicht, wie seinem Gefährten ein Lächeln über die Züge huschte. Der Waldriese, in dessen Bauch Indigo wohnte, war vollkommen bewehrt mit Bannern und bunten Schnüren, die sich um seine Rinde legten und bis hinauf in die höchsten Äste spannten, so daß er wie ein flatterhaftes Zelt wirkte, oder wie eine übergroße Marionette. Trotz der Farbenpracht fügte sich der Gigant reibungslos ins übrige Bild Eldraja’aros, denn die Farben schienen zu fließen, reichten von Grün über ein schattiges Rot bis hin zu laubfarbenem Braun. Indigo strahlte förmlich, als Nachtfalke sein Werk bewunderte.

„Ich habe mir viel Mühe gegeben“ bemerkte er, doch zu seinem Erstaunen verzog sich das Gesicht seines Freundes, und Mißfallen glänzte in seinen Augen.

„Wenn ich gewußt hätte, wofür du deine freie Zeit nutzt, dann hätte ich deinem Vater beigestimmt, als er dir befahl, mit dem Volk in die Täler zu reisen“ sagte Nachtfalke düster. „Ich hätte mehr von dir erwartet als ein geschmücktes Sa’e, Junge.“

Betrübt blickte Indigo zu Boden, denn der Zorn seines alten Freundes schien ernst gemeint. Im übrigen hatte Falke Recht, gestand Indigo sich ein. Er war zurückgeblieben, um mit seinen Gedanken ins Reine zu kommen und zu Üben, was Falke ihn gelehrt hatte. Aber andererseits hatte ihn die Arbeit an seiner Wohnung von überdrüssigen Gedanken befreit und ihm Platz zum Denken gelassen. Er zuckte die Achseln, als er die Vorhänge beiseite schob, die das Eingangsloch im Baum bedeckten. Stärkere Türen waren nicht notwendig, da sich keine größeren Tiere ungeladen in der Weide des Schlafes aufhielten, und jeder Sturm, der über die Wipfel des Weilerwalds peitschte, unterhalb der Kronen zu einem bloßen Lüftchen zerrann.

„Kommst du mit hinein oder nicht?“ verlangte er zu wissen, und Nachtfalke ließ sich nicht zweimal bitten. Immerhin lagerten viele Flaschen guten Weins sowie andere Leckereien im Inneren des Baumes. Nachdem Indigo ein kleines Lämpchen entzündet hatte, erfüllte ein flackernder Schein den doch recht großen Raum. Die Luft roch nach Harz, doch auch viele andere Gerüche mischten sich dazu; alles in allem konnte man kaum sagen, welche Düfte sich in der Behausung zusammentaten, doch das Resultat war durchaus angenehm.

„Ah...“ seufzte Nachtfalke und ließ sich auf dem harten Boden des Sa’e nieder. „Es geht doch nichts über die gute alte Weide.“ Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte zur gemaserten Decke. Tausende von Jahresringen breiteten sich dort in konzentrischen Kreisen aus, verliefen wellenförmig, manchmal im Zickzack. „So oft ich auch in den Weiten Rubens unterwegs bin... nichts ersetzt den Geruch im Innern eines Sa’e.“

Indigo nickte. „Ich wäre froh, wenn ich wenigstens ein einziges Mal eine deiner Reisen unternehmen dürfte, Falke. Ich würde jeden Duft dafür aufgeben.“

„Vielleicht wird es bald soweit sein“ murmelte Nachtfalke, doch ehe Indigo auf die seltsamen Worte eingehen konnte, sprach sein Freund erneut: „Möchtest du deinem alten Lehrer nichts zu trinken anbieten, Indigo?“

Schuldbewußt verzog Indigo die Lippen. „Natürlich. Entschuldige, ich hatte es einfach vergessen.“ Mit einem Satz war der Jurakai auf den Beinen, begann eine kleine Odyssee durch die Schubladen seiner Schränke, um anschließend mit zwei Gläsern und einer Flasche Wein zurückzukehren.

„Er stammt aus dem Hochland“ erläuterte Indigo mit Blick auf die rötliche Flüssigkeit. „Ein Perdobles.“

Nachtfalke nickte anerkennend. Er lebte schon lange genug, um auf weitreichende Erfahrung in Hinblick auf Wein zurückblicken zu können. Außerdem stieg ihm der leicht säuerliche Duft in die Nase, und dieser Geruch hätte jeden Zweifler überzeugt. „Ausgezeichnet“ kommentierte er nach dem ersten Schluck. Dann leerte er sein Glas in einem Zug und füllte es wieder auf.

Geduldig wartete Indigo, bis der Durst seines Freundes gestillt schien. Dann sah er ihm fragend in die Augen.

„Du hast mir nicht die Wahrheit gesagt, als ich vorhin wissen wollte, warum du nach Eldraja’aro gekommen bist, Falke.“

Nachtfalke überlegte, füllte sich sein Glas erneut, verzichtete jedoch diesmal darauf, es zu völlig zu leeren, so daß die Hälfte der roten Flüssigkeit darin verblieb. Er deutete darauf.

„Die halbe Wahrheit, Indigo. Ich habe dir nur einen Teil von ihr verraten. Möglicherweise habe ich nicht alles gesagt, was ich weiß, aber ich habe dich auch nicht belogen. Es ist wahr, daß ich noch so viel Zeit wie möglich mit dir verbringen möchte, bevor dein Vater sich endgültig dafür entscheidet, dich in der Etikette des Hofes zu unterrichten. Ich selbst war noch nie in der Hochburg, auch wenn ich schon hundert andere Städte der Manur besucht habe. Ich bedauere es nicht. Die andere Sache ist die: Die Jagd läuft mehr schlecht als recht dieses Jahr. Es ist, als ob sich das Wild und die Vögel in andere Regionen zurückgezogen hätten, denn die Beutezüge fallen sehr spärlich aus. Selbst nach Ausweitung der Jagdgründe stießen wir nicht auf die erhofften Tiere, sondern auf eine Gruppe von Jurakai, die sich weiter westlich im Weilerwald niedergelassen hatte und ebenfalls auf der Suche nach Wild war.“

Indigo zögerte. „Dann... dann verstehe ich es umso weniger, daß du hier bei mir bist, Falke. Das Volk ist doch sicherlich auf dein Geschick angewiesen?“

„Einer mehr oder weniger... das ist so gut wie egal“ meinte Nachtfalke, doch diese vage Antwort befriedigte Indigo keineswegs, der argwöhnte, daß sich mehr hinter dem Besuch seines Freundes verbarg. Wieviel mehr es tatsächlich war, das sollte er erst viel später erfahren.

 

Wind zerrte an den befestigten Zelten der Weide des Sommers, als ein weißes Laken zurückgeschlagen wurde. Eine hochgewachsene, schlanke Person warf die Plane beiseite, achtete nicht auf das Geräusch zerreißender Seide. Noch bevor sie das Zelt ganz verlassen hatte, trat eine zweite Gestalt hinter ihr hervor und faßte sie am Arm. Wütend wandte sie sich ihr zu.

„Laß mich los!“ fauchte sie aufgebracht und versuchte, sich ihrem Griff zu entwinden.

„Nein! Hör mir doch bitte erst einmal zu! Talamà!“

Das Mädchen drehte sich um, funkelte den Mann an, der ihren Arm umklammert hielt. „Was?“

Der Mann schlug sofort die Augen nieder.

„Es tut mir leid.“

„Es ist ein wenig spät für diese Erkenntnis, findest du nicht?“

„Ich habe nicht nachgedacht, und...“

„Dann denk das nächste Mal! Allerdings wird sich dir bei mir keine Gelegenheit mehr dafür bieten!“

Die junge Frau namens Talamà schüttelte die Hand ab und rannte davon. Nachdem sie die Sicherheit mehrerer Zelte zwischen sich und Mandas wußte, blieb sie stehen, um zu verschnaufen. „Verdammt“ murmelte sie leise. Aber was hatte sie auch anderes erwarten können? Es war von vornherein klar gewesen, daß dieser Mistkerl nichts für sie empfand. Nun, auf der anderen Seite konnte sie nicht behaupten, ihrerseits jemals etwas derartiges wie Gefühle für den Jurakai entwickelt zu haben, aber es kränkte sie dennoch, daß er untreu geworden war. Es war wie ein Messer, das sich in eine Wunde bohrte und darin herumstocherte, nur um zu sehen, wo es am meisten weh tat. Sie hatte ihn gemocht. Er hatte sie nett behandelt, ihr Geschenke gemacht. Er... war einfach da gewesen. Auch wenn es kein Band der Liebe gegeben hatte, das die Stärke ihrer Beziehung festigte, so hatte sie in ihm doch eine Person gefunden, die sie in den Armen hielt, der sie vertrauen konnte... dachte sie jedenfalls.

Talamà blickte sich um, ob sie beobachtet wurde. Doch die meisten Jurakai befanden sich derzeit auf der Jagd, das Dorf war so gut wie leer. Sie verzog die Lippen und erlaubte sich ein paar Tränen des Schmerzes und des Verlustes. Sie hatten eine schöne gemeinsame Zeit gehabt. Auch wenn ihr von Anfang an klar gewesen war, daß sich beide Seiten zwar auf die Beziehung einlassen, jedoch nicht ihre Augen von anderen Jurakai lassen würden. Es war nicht viel mehr als das Abkommen, während der Suche nach jemand Besserem mit dem Nächstbesten Vorlieb zu nehmen...

Hätte er es nicht getan, wäre sie diejenige gewesen...

Doch die ganze Überzeugungsarbeit ihres Selbsts konnte trotzdem nicht das flaue Gefühl verschwinden lassen, das sich nun in ihrem Magen ausbreitete. Sie fluchte. Wieso hatte sie nicht diejenige sein können? Er hätte es wahrhaft verdient gehabt! Talamà sah auf und bemerkte, daß ihre Füße sie unterbewußt durch das Dorf geführt hatten, daß die hoch aufragenden Zelte an ihrer Seite weitab von Mandas Behausung lagen. Das Ende des Lagers war erreicht, und vor ihren Augen breiteten sich die schier unendlichen Weiten der Täler aus. Grüne Flächen, in denen vereinzelte Baumgrüppchen und Seen kleine Anhaltspunkte boten, jedoch schnell von der umfassenden Landschaft verschluckt wurden.

Mit ein paar langen Schritten ließ Talamà das Lager hinter sich, erstieg die kleine Anhöhe, an deren Spitze sich ein Wäldchen erstreckte. Die Luft hier oben roch schärfer, und im Licht der untergehenden Sonne wirkte sie farbig, beinahe rötlich.

Eine leichte Brise kam auf und zerrte an Talamàs Haar, spielte mit ihm und ließ es wieder los, um es alsbald auf ein neues zu umgarnen. Ihre Zehenspitzen benetzt vom kalten Tau, der sich bereits auf die Gräser legte, trat sie einmal, zweimal mit den Füßen auf die harte Erde, bis die Halme sich geglättet hatten. Die junge Jurakai blickte auf, sah zur sinkenden Sonne und seufzte leise. Ein rot schimmernder Punkt spiegelte sich in Talamàs Pupillen wieder, glühte wie der Funken eines erlöschenden Feuers. Sie seufzte erneut.

Es lag etwas in der Luft. Etwas, das sich nicht durch bloßes Schnuppern erahnen ließ. Talamà füllte ihre Lungen mit einem tiefen Zug und versuchte, den Geruch zu deuten, doch er war noch zu schwach. Vielleicht würde er zu gegebener Zeit stärker werden, und vielleicht würde sie dann wissen, was das sonderbare Gefühl zu bedeuten hatte, das sich hier oben so deutlich gegen den Rest der Welt abzeichnete. Aber noch war es nicht so weit. Noch schien sie darauf angewiesen zu sein, zu warten.

Noch lange bis nach Sonnenuntergang stand sie auf dem Hügel und ließ ihre Gedanken treiben.

 

Die Kälte der Nacht drang durch die Öffnung des großen Baumes, bis Indigo sich endlich dazu durchringen konnte, aufzustehen und den Vorhang so zu verschließen, daß er dicht war. Trotzdem fröstelte der Junge noch, als er sich wieder zu seinem alten Freund setzte und den Geschichten lauschte, die Nachtfalke zu erzählen hatte. Der alte Jurakai berichtete von der Weide des Sommers, von Indigos Eltern und allen anderen Personen, deren Handeln für den Jungen interessant war. Nach all der Zeit, die Nachtfalke zusammen mit Teagar, Indigos Vater, verbracht hatte, wußte er so vieles zu berichten, daß der junge Zuhörer manchmal wie gebannt vor dem kleinen Feuer saß, das im Innern des Sa’e loderte.

Erst als Nachtfalkes nicht enden wollender Strom der Worte abriß und die Laute des Waldes und des Feuers wieder die Oberhand gewannen, zwinkerte Indigo mit den Augen und besann sich seiner Umgebung. Es war spät geworden, viel später, als es seinen normalen Schlafgewohnheiten entsprach, doch die Begierde, selbst die letzten Informationen aus seinem Freund herauszukitzeln, hielt ihn wach.

„Wie lange wart ihr draußen auf dem See, Falke?“ fragte er und unterdrückte mühsam ein Gähnen.

„Zwei Tage lang waren wir abwechselnd auf dem Geriadru und auf dem Ginslet. Und es ließen sich nicht ein einziges Mal irgendwelche Fische blicken, Indigo. Ganz so, als ob die Seen ausgestorben wären. Ich kann es mir einfach nicht erklären.“

„Wenn ich es nicht von dir erfahren hätte, würde ich es nicht glauben“ gab der Junge zu und starrte gedankenverloren ins Feuer. „Zwei Tage! Das ist wirklich eine lange Zeit, und ihr habt kein einziges Mal einen Fisch zu Gesicht bekommen... wo können sie nur alle hin sein? Und warum sollten sie plötzlich verschwinden?“

„Ich bezweifle, daß sie einfach so verschwunden sind“ antwortete Nachtfalke nach einigem Überlegen. „Wahrscheinlich sind sie bloß in tiefere Regionen der Seen geschwommen, aber wieso und warum... das weiß ich nicht.“

„Fische sind nicht gerade dafür bekannt, sich viele Gedanken über ihr Verhalten zu machen...“ dachte Indigo laut. „Das heißt vielleicht, daß es etwas zu bedeuten hat, wenn sie alle gleichzeitig ihr Verhalten ändern. Sie werden... wohl kaum...“

Indigos Stimme wurden langsamer, verstummte dann gänzlich. Seine Augen starrten ins Leere, als lausche er angestrengt einer schönen Melodie oder einem Geräusch. Nachtfalke bedachte seinen Schüler mit einem verwunderten Blick, lauschte dann jedoch ebenfalls, konnte aber nichts besonderes vernehmen. Doch er war erfahren genug, Indigo nicht auf sein Verhalten anzusprechen, sondern ihm seine Frage durch Gebärden verständlich zu machen. Ebenfalls in Zeichensprache gab ihm der Junge zu verstehen, leise zu sein, dann stand er auf und schlich zur verhangenen Öffnung des Sa’e.

Nachdem er den Vorhang mit unendlicher Langsamkeit zurückgezogen hatte, glitt er vorsichtig nach draußen, darauf bedacht, keinen einzigen Laut zu erzeugen. Er sah sich um und schien nach etwas zu suchen.

Die Nacht war kühl, sehr kühl sogar, wenn man in Betracht zog, daß es noch immer Sommer war. Trotzdem kam das Frösteln, das Indigo nun empfand, nicht von der bloßen Kälte. Er hatte etwas gehört, während er zu Falke gesprochen hatte, dessen war er sich völlig sicher. Möglicherweise hatte er es nicht wirklich gehört, sondern vielmehr gespürt, was es auch sein mochte. Es war wie... das plötzliche Empfinden des Belauscht- oder Beobachtetwerdens, und in dem Moment, in dem sich in seinen Gedanken die sonderbare Empfindung geregt hatte, waren auch seine Beine weich geworden, hatten zu zittern begonnen. Es lauerte etwas in der Weide des Schlafes, das nicht an diesem Ort gehörte.

Doch alles, was er erkennen konnte, waren die Umrisse der anderen Sa’e, von denen die meisten sowieso unbewohnt waren. Die wenigen, in denen sich noch Jurakai aufhielten, spendeten kein Licht, da die Alten längst zu Bett gegangen waren. Also mußte er sich im Dunklen zurechtfinden. Indigo kniff die Lippen zusammen und wagte sich weiter hinaus.

Die großen Bäume, die wie Monolithen in den Himmel ragten, regten sich nicht. Zwischen manchen der Giganten sprossen kleinere Gewächse und Bäumchen, die neben ihren riesenhaften Nachbarn wie winzige Nachbildungen wirkten. Das spärliche Licht der Sterne, das noch seinen Weg durch das dichte Blätterdach fand, war zwar keineswegs ausreichend, aber es half doch ein wenig. Indigo wagte sich ein paar Schritte nach vorn, bis er einen kleinen Weg überquert hatte und an einem anderen Sa’e lehnte. Schweiß perlte von seiner Stirn, obwohl es jetzt eisig kalt zu sein schien. Aber vielleicht bildete er sich das ja auch nur ein...

Er beobachtete die Silhouette zweier kleiner Bäume, und in genau diesem Moment vernahm er ein winziges Zucken an einem von ihnen. Dort war es! Indigo hastete vor, doch als er die Bäumchen erreichte, erwiesen sie sich nur als dünne Stämme, die jeglichem Geheimnis entbehrten. Die Kälte jedoch war noch nicht gewichen.

Komm heraus, flüsterte Indigo im Geiste, als er die Umgebung absuchte.

Zeig dich! Ich kann dich spüren...

Es mußte hier irgendwo sein, denn in unmittelbarer Umgebung ließen sich keine Zufluchtsorte finden. Indigo konzentrierte sich, suchte in den Schatten, doch es war schwer, etwas zu erkennen, denn sie schienen sich direkt vor seinen Augen zu verdichten.

Du bist hier! Komm heraus!

Noch mehr fließende Schatten, noch weniger Sicht. Es war schwer, selbst die eigene Hand vor Augen zu sehen. Wenn er doch nur –

Jetzt war dort etwas! Einer der Schatten bewegte sich auf unnatürliche Art und Weise, verriet die Anwesenheit eines größeren Geschöpfs. Indigo hielt den Atem an, und alle seine Muskeln wollten in seinem Körper bersten vor Anspannung. Er schlich nach vorn, weiter auf das Wesen zu, das sich dort in den Büschen versteckt haben musste. Ein bitterer Wind schien aufzukommen, unwirklich und kalt.

Die verkanteten Schatten, die so an dieser Stelle nicht vorkommen durften, erbebten, und langsam aber sicher näherte sich Indigo, glitt wie ein geschmeidiges Wiesel an sein Opfer heran.

Näher...

... und noch näher...

... die Schatten flossen, verdichteten sich noch mehr...

... und noch ein winziges Stück näher, bloß eine Handbreit...

... und dann verflüchtigte sich das seltsame Gefühl des Beobachtetwerdens plötzlich, die Schatten lichteten sich, und Sternenlicht fiel auf die langen Zweige. Wie ein Gerippe stachen die Äste aus dem Dickicht hervor, erinnerten Indigo an den Brustkorb eines Tieres. Doch die seltsamen Knochen waren tot, trugen kein Leben mehr in sich, keine Regung. Das Wesen war fort.

Die Stimme des Waldes kehrte zurück, laut, majestätisch, und erst jetzt bemerkte Indigo, daß er die ganze Zeit über nichts gehört hatte als völlige Stille.

Der Wald hatte geschwiegen. Und hatte sein Geheimnis zusammen mit dem Schweigen wieder in sich aufgesogen.

Indigo schüttelte sich, um das Gefühl abzuwerfen, das sich wie ein Affe an seine Schultern geklammert hatte. Es war vorbei. Was auch immer es gewesen war, das sich unerlaubt in der Weide des Schlafes aufgehalten hatte – es war fort. Ein unheimliches Bild drängte sich unwillkürlich in Indigos Gedanken: Früher, als er noch ein Kind war und tollend durch den Weilerwald lief, hatte er einmal ein sonderbares Geschöpf entdeckt. Er war auf einen Baum geklettert, höher und höher hinauf, hatte, knapp unter dem Wipfel angelangt, die Hand nach einem dürren Zweig ausgestreckt, um sich zu stützen. Doch als sich seine Hand um das Ästchen geschlossen hatte, begann das vermeintliche Holzstück auf einmal zu zittern und sich unter seinem Griff zu winden. Erschrocken hatte Indigo aufgeschrien und wäre beinahe vom Baum gestürzt, doch die kindliche Neugier war stärker als der Ekel. Er öffnete die Hand, um nachzusehen, warum der Ast plötzlich lebendig geworden war, und sah zum ersten Mal eine Stabheuschrecke. Das klapprige Geschöpf stakste auf seiner Haut, bis der Jurakai es wieder an die Borke der Schierlingstanne legte. Dort, auf vertrautem Terrain, begann das Wesen sicheren Schrittes die Zweige entlangzutrotten, bis es einen geeigneten Platz gefunden hatte, um sich erneut auf die Lauer zu legen. Es ordnete seine Beine, versteifte sich, und hätte Indigo nicht gewußt, wonach es Ausschau zu halten galt, hätte er die Heuschrecke mit Sicherheit wieder übersehen.

Und hier, im finsteren Weiler seiner Kindheit, formte sich aus den Erfahrungen früherer Tage ein Bild in seinem Geiste, das sich nicht wieder abschütteln ließ: Ein groteskes Geschöpf, eine monströse Stabheuschrecke, die größer war als ein Jurakai und sich durch das Unterholz wand, sich vor Entdeckung einfach dadurch schützte, daß es eins wurde mit seiner Umgebung...

Indigo schüttelte sich, doch so unwahrscheinlich der Gedanke auch war, so verlockend schien er zu erklären, was gerade vorgefallen war. Erst der Ruf Nachtfalkes brachte ihn wieder zurück in die Wirklichkeit.

 „Indigo!“

„Ich komme!“ gab der Junge zurück und warf einen letzten Blick auf die verknoteten Äste vor sich, versuchte einen Kopf oder Augen zu erkennen, die nicht in das Dickicht hineinpassten. Doch da war nichts, abgesehen von bleichen Zweigen und starren Ästen...

„Indigo?“

„Sofort.“ Er wandte sich ab und fand Nachtfalke vor seinem Sa’e, mit verschränkten Armen und erbostem Ausdruck. Der Alte nahm Indigo bei der Hand und zerrte ihn in die Höhle des Baumes.

„Es ist weg“ sagte er mit vorwurfsvoller, jedoch väterlicher Stimme, um den aufgebrachten Jungen zu beruhigen. „Kurz nach dir habe auch ich es gespürt, doch es ist weg.“

„Ich weiß“ erwiderte Indigo. „Ganz kurz dachte ich, daß ich es erwischen könnte...“

Nachtfalke musterte ihn grimmig. „Bist du dir im Klaren darüber, welcher Gefahr du dich gerade ausgesetzt hast, Junge? Dort draußen war etwas, das uns unbekannt ist, und das erste, was dir einfällt, ist, ihm nachzuspringen. Ebensogut hättest du dir auch ein Messer an die Kehle setzen können.“

„Ich wollte es finden, Falke! Und glaubst du wirklich, daß es etwas Böses hier in Eldraja’aro geben könnte? Daß jemand oder etwas es schaffen könnte, bis hierher vorzudringen und—„

„Verlaß dich nicht auf eine Sicherheit, die du dir nicht selbst geschaffen hast, Indigo. Diese Weisheit kann dir eine Menge Ärger ersparen.“

Obwohl auch Indigo die Fremdartigkeit des Wesens gespürt hatte, so war er sich doch unschlüssig darüber, ob es tatsächlich etwas Böses im Schilde geführt hatte. „Ich denke, die Wissenden Gräser hätten uns mitgeteilt—„

„Nichts bietet einen völligen Schutz, Indigo. Kein Schild ist so sicher, daß man es nicht umgehen könnte, keine Falle so perfekt, daß man sie nicht sieht. Wir dürfen uns nichts vormachen: Wenn jemand oder etwas es tatsächlich darauf anlegt, bis ins Innere von Eldraja’aro vorzudringen... so kann er es durchaus schaffen. Nichts ist völlig sicher. Hüte dich vor derlei Gedanken. Sie führen zu Torheit.“

Indigo blinzelte. Was war nur mit Falke los? Er war so anders, seit er von der Weide des Sommers zurückgekehrt war. In allem sah er etwas Schlechtes oder eine Bedrohung... doch so war er früher nicht gewesen. Was veranlaßte ihn bloß dazu, derart schwarz zu sehen?

„Ich war doch vorsichtig, Falke!“ rechtfertigte sich Indigo und setzte in einem Versuch von Auflockerung hinzu: „Du selbst hast mir beigebracht, wie ich mich anschleichen muß, weißt du nicht mehr?“

Nachtfalkes altes Gesicht runzelte sich, dann glätteten sich die Falten, und ein gutmütiger Ausdruck trat statt dessen auf sein Antlitz. „Ja, ich erinnere mich an all die Wochen und Monate voll Qualen, als wäre es Gestern gewesen. Bei deinem ersten Versuch hätte ein Bär dich auf tausend Meilen entdeckt. Und er hätte nicht einmal besonders gute Augen haben müssen“, lachte er. Der Alte brach in fröhliche Heiterkeit aus, in die auch Indigo einfiel. Gemeinsam leerten sie, Erinnerungen an alte Zeiten auffrischend, die kümmerlichen Reste des Weines, und lange starrten sie noch gedankenverloren, jeder für sich selbst, in die züngelnden Flammen.

Erst, als die beiden sich wieder gesammelt hatten, fuhr der erfahrene Jurakai ein wenig ernster fort: „Das, was heute Nacht dort draußen war, hat nach etwas gesucht. Ich weiß nicht, ob es fand, wonach es Ausschau hielt, aber es ist fort. Doch das heißt nicht, daß es nicht wiederkommen kann! Wir müssen auf jeden Fall gewarnt sein, Indigo. Wenn es wieder auftaucht, werden wir es stellen. Was immer es sein mag.“

Indigo nickte müde. Die Züge aus dem Weinschlauch hatten zusammen mit der fortgeschrittenen Uhrzeit ihren Gutteil dazu beigetragen, daß der Jurakai es sich auf dem Boden des Sa’e bequem machte und sich nach einer geeigneten Schlafstätte umsah. Er gähnte herzhaft und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Ohne Zweifel würden sie das Wesen finden, das den nächtlichen Wald durchstreift hatte. Natürlich. Aber das konnte bis Morgen warten. Oder länger. Jedenfalls würde es heute nicht wiederkehren, dessen war Indigo sich sicher.

„Ich wünsche dir einen erholsamen Schlaf, Falke. Es ist schön, dich wieder in Eldraja’aro zu sehen. Ich hoffe, du kannst mir noch viel von den Tälern und der Jagd in diesem Jahr erzählen, aber laß’ uns das bitte auf morgen verschieben...“

„Ich wünsche dir ebenfalls einen erholsamen Schlaf, Indigo. Möge Jarondai dir schöne Träume schenken.“ Nachtfalke setzte sich vor das Feuer, das sich langsam in Glut verwandelte, und stützte das Gesicht auf die Hände. Irgendwann beugte auch er sich hintenüber und fiel in einen unruhigen Schlaf.

 

Als die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne die Zinnen der Hochburg berührten und den grauen Stein, der direkt aus den eisigen Höhlen des Ra’an-Gebirges geschlagen und mühsam bis ins Innere Reich transportiert worden war, in ein goldenes Licht tauchten, war Arathas Dynes bereits lange wach.

Noch vor Dämmerung war er aus einem schlechten Traum erwacht und nicht mehr in der Lage gewesen, wieder einzuschlafen, jedoch erinnerte er sich auch nicht mehr daran, was genau er geträumt hatte. Bloß der Schrecken war noch allgegenwärtig und ließ seine Glieder zittern. So war er aufgestanden, um unruhig auf den Anbruch des Tages zu warten. Aber die Stunden hatten sich in die Länge gezogen, und bis zum Turnier dauerte es noch eine Weile.

Jetzt, da die Sonne sich am östlichsten Rand des Landes zeigte, würden die Spiele bald beginnen. Der Hof war bereit, die Pferde gesattelt und die Knappen in heller Aufruhr. Überall in der großen Burg wuselten Putzkolonnen und brachten  verstaubte Zimmer in Ordnung, die jahrelang keinen Putzlappen gesehen hatten. Tausende von Menschen hatten sich eingefunden, um ein besonderes Schauspiel zu verfolgen. Denn wie in jedem dritten Jahr hielt der König das Turnier der Sommerwende ab, in der letzten Woche vor Herbstbeginn. Es war eine alte Tradition, die die Herrscher der Manur schon so lange vollzogen, daß niemand mehr genau wußte, warum oder wofür sie abgehalten wurde, noch, warum sie genau alle drei Jahre stattfand. Nichtsdestotrotz wurde es jedesmal ein einziges, riesiges Fest, das nicht nur die Hochburg in eine Arena der Heiterkeit verwandelte, sondern auch die anliegende Königsstadt Neru und die umliegenden Dörfer. So kam es, daß trotz ihrer gewaltigen Größe die Burg aus allen Nähten zu platzen schien, erfüllt war vom Lachen der Hofdamen und den Schreien spielender Kinder.

Nur eine einzige kleine Nische, die so zugig und dreckig war, daß niemand in ihr einen Gast hatte unterbringen wollen, war so abgelegen gewesen von all dem Trubel, daß Dynes sich sofort für sie entschieden hatte. Es war der zweithöchste Turm der Burg, nur noch übertroffen von der Königszinne, und so verfallen und brüchig mutete er an, daß selbst Dynes seine Entscheidung fast bereut hätte, als er gestern dort einzog. Es stellte sich allerdings heraus, daß die Wände zwar in schlechter Verfassung, jedoch allemal stabil genug waren, einem starken Sturm zu trotzen, und auch sonst erwies sich die luftig hohe Residenz als wahres Juwel der Einsamkeit. Ungestört und ruhig lag sie abseits des Hofes, das Stimmgewirr der Menschen drang nicht hier herauf.

Arathas lehnte sich über die Brüstung eines kleinen Fensters, dessen Glasscheiben zerbrochen auf dem Steinboden lagen, und blickte hinunter auf die Arbeiten, die sich jetzt, da das Fest bald beginnen würde und die Vorbereitungen sich dem Ende zuneigten, noch verdoppelten. Es glich fast einem Ritual, mit welchem Eifer sich die verschiedenen Belegschaften ins Zeug legten, wenn der endgültige Augenblick in sichtbare Nähe rückte. Anstatt mehrere Wochen zuvor zu beginnen, wurden die Arbeiten lieber zur Seite geschoben, um dann letzten Endes den Streß und den Zeitdruck bis zur völligen Erschöpfung auskosten zu können. Vor allem die Köche und Köchinnen durften heute nicht einmal Luft holen, so sehr wurde ihre Zeit in Anspruch genommen, denn schließlich mußten noch tausende von Suppen gekocht und Millionen von Kuchen gebacken werden, wenn die hohen Herrschaften des Adels sich hungernd und dürstend im Kern des Inneren Reiches einfanden.

Dynes Blick fixierte eine Stelle am unteren Ende des Turnierplatzes, wo gerade ein lauter Schrei ertönte, als einem der Knappen ein Pferd durchging. Die braune Stute trabte in neu errungener Freiheit über den Hof, überrannte beinahe einen jungen Mann, der sich nur noch durch einen halsbrecherischen Sprung aus der Bahn des Pferdes werfen konnte, und kam erst zum Stehen, als sie die lange Reihe von kleinen Ständen und schnell zusammengezimmerten Läden erreicht hatte, die die ganze Seite einer Burgmauer in Anspruch nahm. Mit einem wiehernden Laut, der vielleicht Zufriedenheit zum Ausdruck brachte, verspeiste sie seelenruhig die Torten und  Obststücke, die fein säuberlich auf den Tellern plaziert worden waren. Nur das beherzte Eingreifen eines großen muskulösen Mannes, der sich gut mit Pferden auszukennen schien, verhinderte ein konditorisches Desaster, das wahrscheinlich so manchen Koch ins Grab gebracht hätte – und den unvorsichtigen Knappen obendrein. Der stämmige Mann führte die Stute an ihrer Leine zurück zu ihrem Herren, der sich mit hochrotem Kopf und schuldigem Blick schleunigst aus dem Staub machte. Arathas mußte unwillkürlich schmunzeln, als er einen kleines Mädchen beobachtete, das sich die Verwirrung des Augenblicks zu Nutze gemacht und ein paar günstige Einkäufe getätigt hatte. Mit den breiten Taschen voll von Früchten wollte auch sie gerade in der Masse der Menschen untertauchen, als ein schlaksiger Mann aus den Reihen trat und die Kleine am Arm packte. Noch während das Mädchen den Kopf nach oben wandte, empfing sie eine brutale Ohrfeige, die ihr eine rote Wange bescherte. Dynes kniff die Augen zusammen, denn die schlanke Gestalt, die eine buschige und ungepflegte Frisur auf dem Schädel trug, kam ihm bekannt vor.

„Fegget!“ fluchte er im Stillen und sah zu, wie der Ritter dem Mädchen die stibitzten Gegenstände aus der Tasche zog. Ein arrogantes Grinsen zog sich dabei wie eine bösartige Narbe von einem Ohr zum anderen, ganz so, als ob er gerade eine Heldentat vollbracht hätte. Nun, wahrscheinlich war das Schnappen der kleinen Diebin sogar tatsächlich um einiges heroischer als die Dinge, die er geleistet hatte, um in den Ritterstand gehoben zu werden. Der angeberische Emporkömmling wurde wegen seiner verpickelten Haut von allen nur „Krater“ genannt – natürlich ausschließlich hinter vorgehaltener Hand, denn der Bursche war der Schwager des Prinzen, und zudem sein bester Freund. Nachdem Fegget sicher sein konnte, auch wirklich alle gestohlenen Schätze wiederbekommen zu haben, ließ er die Hand des Mädchens los, nicht jedoch, ohne ihr vorher noch eine saftige Ohrfeige mitgegeben zu haben.

„Man sollte dich aufhängen, zusammen mit deinem verdammten Prinzchen und deinem gesamten Gefolge“ knurrte Dynes und ließ seine geballte Rechte auf den Fenstersims niederkrachen. Er wandte sich ab und prüfte sein Erscheinungsbild, bevor er sich hinunter begab. Nicht, daß es ihm besonders wichtig gewesen wäre, wenn andere Leute sich über sein unrasiertes Gesicht beschwert hätten, doch der König verlangte ein tadelloses Äußeres am Tage des Turniers. Arathas sah in den Spiegel und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Graue Strähnchen mischten sich an den Schläfen unter die kurzen Braunen. Er drehte den Kopf ein Stück. Die Strähnen zogen sich sogar noch weiter hinab. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sich all seine Haare verfärbt hatten...

Dynes wandte den Kopf, um sich von vorn zu betrachten. Seine hageren Züge bekamen etwas grimmiges durch die Augenringe, die er schon seit Jahren mit sich herumtrug, fand er. Gut. Es half, Abstand zu wahren.

Er riß die Tür auf, die dem wütenden Griff beinahe erlag und fast aus den Angeln brach. Auf der langen, gewundenen Treppe des Turmes nahm er zwei Stufen auf einmal.

Er hatte es sich nicht ausgesucht, heute hier zu sein. Seine Lehen, die sich weit im Osten erstreckten, waren ihm wichtiger als jedes Turnier. Sie waren zwar klein und bestanden hauptsächlich aus Bauernhöfen und Siedlungen, die die größeren Städte im Hochland mit Nahrung versorgten, doch er mochte die einfachen Leute, die dort lebten, und ihr einfaches Denken. Für sie war es unbedeutend, wer bei welchem Ritterspiel wo gewann, oder ob der Prinz sich nun diese oder jene zur Frau nahm. Die größten Sorgen waren das Wetter und die Willigkeit des Landes, und keines dieser Beiden unterstand dem Gesetz des Königs.

Dynes verabscheute die meisten der Ritter, nicht deswegen, weil sie sich für etwas Besseres hielten, sondern vielmehr, weil sich die übrigen Menschen in ihrer Gegenwart für etwas Schlechteres hielten. Den Bauern und Landleuten wurde in diesen Teilen des Landes von klein auf beigebracht, daß ein Ritter etwas Hohes, etwas Besonderes war, und deswegen glaubten sie an diese Tatsache. Für einen Ritter war es im Inneren Reich fast unmöglich, sich nicht wie etwas Besseres zu fühlen, denn von überall her wurde ihm dieses Gefühl entgegengebracht, strahlte wie das Feuer des Glaubens in den Augen eines Priesters.

Dynes hingegen war unbekannt am Hof, und außerdem achtete er darauf, keine Kleidung zu tragen, die seinem Stand gerecht wurde. Überhaupt trug er den Adelstitel nur, weil er ihm in die Wiege gelegt worden war, denn die Dienste, die er seinem Land erwies, waren nicht von der Sorte, wie der König sie ehren würde.

So zollten ihm die Burgjungen nicht mehr Achtung, als er durch die Gänge schritt, die sich durch die Burg schlängelten und hinaus auf den Hof führten, als man einem Hindernis beimißt, das es zu umgehen gilt. Nur ein paar der Gesichter, die ihm begegneten, erkannten ihn, doch er hastete an ihnen vorüber und ließ sich absichtlich auf kein Gespräch ein. Erst, als er den großen Saal erreicht hatte, wurden seine Schritte gemächlicher, sein Blick wachsamer und nicht nur starr geradeaus gerichtet. Im hellen Licht der Sonne, mitten auf dem Turnierplatz, wo bald Ritter gegen Ritter reiten würde, um die Herzen der Damen zu erfreuen, fand er, wonach er Ausschau gehalten hatte: Fegget! Ein paar große Schritte brachten ihn seinem Ziel näher, doch bevor die erzürnten Worte, die sich in seiner Brust gestaut hatten, seinen Mund verlassen konnten, bemerkte er eine weitere Gestalt an dessen Seite, und der aufgesparte Zorn verblaßte wie ein Pfütze unter brennender Sonne.

„Ah, Sir Arathas“ stellte Leonart, der Kronprinz, zuckersüß fest. „Wie schön, Euch an unserem Hof begrüßen zu dürfen.“

Obwohl die gesprochenen Worte im Gegensatz zu dem Funkeln in des Prinzen Augen standen, antwortete Dynes höflich und neigte leicht den Kopf.

„Mein Prinz.“

Fegget legte seine Hand auf Arathas Arm und beugte sich vor. „Aras, wißt Ihr, ob wir beide uns heute gegenüberstehen? Auf dem Turnierplatz, meine ich?“ Obwohl Dynes niemals versucht hatte, den Anschein zu erwecken, als würde er Fegget mögen, betrachtete ihn dieser als engen Freund und nutzte jede Möglichkeit, mit ihm in Kontakt zu treten. Bei Fegget allerdings lag dies wohl jedoch nur an dessen grenzenloser Dummheit und Verrohtheit, denn er wußte, daß Leonart, den er nicht anders behandelte, in auf den Tod haßte, dies aber hinter einer Maske der Freundlichkeit verbarg.

„Womöglich“ gab Dynes zurück und versprach sich, sich irgendwann dafür zu rächen, daß der Emporkömmling ihn mit „Aras“ ansprach, wie er es nur seinen besten Freunden erlaubte.

„Womöglich treffen wir tatsächlich aufeinander...“ Wenn es auch nicht hier und heute geschehen sollte.

Leonart lachte leise. „Höre ich etwa einen Anflug von Gereiztheit, Sir Arathas? Ihr solltet Euch einmal richtig ausschlafen, denn Ihr seht aus, als hätte ein Pferd auf Euch genächtigt. Ein wenig Schlaf täte Euch sicherlich gut, denn Ihr scheint mir aggressiv und gestreßt.“

Dynes nickte. „Ihr habt Recht. Ich werde mich besser zurückziehen...“ begann er und versuchte, nach hinten zu weichen. Leonart trat ihm in den Weg. Ein schmales Lächeln stand auf seinen Lippen, als er seinen Freund Fegget betrachtete.

„Ralf, wie wäre es mit einem kleinen Vorab-Turnier mit Sir Arathas?“

Fegget, der nach einer Möglichkeit suchte, sich seiner Entdeckung der Diebin zu rühmen, konnte sich sofort für den Vorschlag begeistern.

„Ich habe gehört, daß die Bogenzielscheiben schon aufgestellt seien“ fuhr der Prinz fort und lächelte unverwandt. Dynes verspürte den nur schwer zu zügelnden Drang, dem Lächeln des Prinzen mit einem Faustschlag ein Ende zu bereiten.

„Ich schätze, daß mein Knappe meine Ausrüstung noch nicht vorbereitet hat“ wollte er sich herauswinden, doch wieder machte Leonart einen Strich durch seine Rechnung.

„Ihr braucht Euch doch darum keine Sorgen zu machen, Sir Arathas! Ich werde einen Bogen für Euch und meinen Freund bereitstellen, damit niemand im Nachteil ist.“

„Und außerdem solltet Ihr Eurem Knappen ein wenig mehr Gehorsam einprügeln. In den jungen Jahren lernen sie noch am meisten“ schnaubte Fegget, dem die Jugendlichkeit selbst noch in vollen Zügen ins Gesicht geschrieben stand.

Gerade als Dynes sich zu einer Bemerkung hinreißen lassen wollte, die ihm in Gegenwart des Prinzen beträchtlichen Ärger hätte einbringen können, wurden die drei von einem Boten unterbrochen.

„Was willst du?“ fragte Leonart ärgerlich, und es hätte nicht viel gefehlt, daß er dem Mann einen Hieb versetzt hätte.

„Ich bringe eine Botschaft von Eurem Vater“ sagte der Mann und wich vorsichtshalber einen Schritt zurück. Er führte zwar einen königlichen Befehl aus, doch die Reizbarkeit des Prinzen war allgemein bekannt. „Er möchte mit Sir Arathas sprechen. Sofort“ setzte er hinzu.

„Geh“ winkte der Prinz dem Boten zu, dann, an Dynes gewandt: „Schade, findet Ihr nicht auch? Es wäre sicherlich ein interessantes Schauspiel gewesen, wenn Ihr Eure Geschicklichkeit mit der meines Schwagers gemessen hättet. Doch es ist nicht zu ändern. Bitte geht Euren Pflichten nach und meldet Euch bei meinem Vater, was immer er auch von Euch will...“

„Es war mir eine Ehre, mein Prinz“ verabschiedete sich Dynes und konnte den Zorn Leonarts förmlich spüren, der wie ihn wie eine Wolke umgab. Es dauerte eine Weile, bis er sich durch das Gewirr der Menschen gedrängt, die von der Putzkolonne belegten Gänge umlaufen und die Strecke zwischen Hof und Thronsaal zurückgelegt hatte. Der König empfing ihn – wie immer – förmlich. Von seinem großen, mit rotem Samt besticktem Thron aus blickte er auf, als Dynes in seine Gemächer trat. Ein Ausdruck der Langeweile huschte über sein Antlitz.

„Ich habe Euch erwartet, Sir Arathas.“

„Herr?“

„Es gibt eine unerfreuliche Nachricht, über die ich gern mit Euch sprechen möchte.“

„Ja, Herr.“

„Ich weiß sehr wohl, daß Ihr erst gestern angereist seid, um uns beim Turnier mit Euren Künsten zu erfreuen, Sir Arathas. Doch ich fürchte, daß Ihr nicht lange bleiben werden könnt. Ein Falke traf bei Sonnenaufgang ein – er brachte eine Botschaft mit dem Siegel Djenhalms, dem Lehnsherren Yarks.“

„Herr?“

„Djenhalm berichtet, daß ungewöhnliche Dinge vor sich gehen in den Hochlanden, daß einige der Bauern aus Eueren Lehen sich in seine Städte geflüchtet hätten, Dynes.“

Dynes blickte auf. „Herr?“

„Ihr wißt davon?“

„Als ich aufbrach, war mir nichts derartiges bekannt, Herr.“

„Gleichviel. Die Bauern berichten von seltsamen Dingen, die in ihren Dörfern vorgehen, und der Stoßtrupp, den Djenhalm daraufhin aussandte, kehrte nicht zurück. Wovor fürchten sich diese Bauern, Dynes?“

Dynes verzog das Gesicht. „Oh, sie fürchten sich vor allem, was sie nicht kennen, Herr.“ Aber meist haben sie einen guten Grund dafür, fügte er in Gedanken hinzu.

„Also kein Anlaß zur Sorge?“

Dynes witterte die Gelegenheit, dem Festbetrieb entgehen zu können. „Möglicherweise. Vielleicht sollte ich aufbrechen, um nach dem Rechten zu sehen, Herr.“

Der König nickte. „Gut. Ihr dürft natürlich noch am Turnier teilnehmen, Sir Arathas, wenn auch nicht die vollen sieben Tage“ fügte er mit einem Lächeln hinzu, das dem seines Sohnes aufs Haar genau glich. „Ihr werdet heute Abend abreisen. Wenn wir Euren Kampf vorverlegen, werden die Leute Euch trotzdem kämpfen sehen.“

„Ja, Herr.“

Dynes tat sein möglichstes, das Gesicht nicht zu verziehen. Verdammt! Nun, der Apfel fiel nicht weit vom Stamm, wie es so schön hieß.

„Ich bin fertig, Dynes. Ihr dürft gehen.“

„Herr.“

Dynes erhob sich aus seiner knieenden Position und trat ein paar Schritte zurück, bevor er dem König den Rücken zuwandte. Zwei Wächter öffneten die Tore des  Thronsaals und ließen ihn hinaustreten. Mit vollkommen ausdruckslosem Gesicht schlenderte er durch die langen Gänge, bis er einen Flur erreicht hatte, in dem er sich endlich allein glaubte. Er vergewisserte sich noch einmal, dann verzogen sich seine Mundwinkel und machten einem verbissenen Ausdruck Platz. Mit entfachter Wut schlug er seine geballte Faust gegen die steinerne Mauer, bis der Schmerz so groß war, daß er keinen weiteren Schlag zustande brachte.

Erst, als das Brennen nachgelassen hatte, setzte er seinen Weg in die Gemächer der Turmzinne fort.

 

Finsternis umgab Indigo, als er seine Augen aufriß. Der harte Untergrund hatte ihn aus dem Schlaf geholt, ihn zurück in die wache Welt gebracht. Doch obwohl er nicht imstande war, in der Dunkelheit zu sehen, wußte er doch, daß etwas an diesem Ort schrecklich falsch war. Mit angespannten Gedanken richtete er sich auf, und mit einem leichten Schreck fuhr er in die Höhe.

Seine Hände, die er auf den Boden stützte, berührten nicht etwa Holz, sondern kalten, festen Stein. Doch das durfte nicht sein! Nicht in diesem Sa’e, dessen hölzerne Auskleidung warm und... vertraut war. Ängstlich tastete er sich nach vorn, doch auch hier, inmitten der seltsamen Düsternis, fand er nichts weiter als erkalteten Stein, unnachgiebig und hart.

Wo befand er sich? An welchen dunklen, unheilvollen Ort hatte es ihn verschlagen? Er stand auf, und aus einem Reflex heraus verschränkte er die Arme vor der Brust, rieb sich bibbernd die Haut. Es war kalt hier. Und es windete. Das fiel ihm zwar erst jetzt auf, dafür aber umso stärker. Ein Sturm zog heran. Indigos Gedanken rasten, als er sich in der fremden Umgebung zurechtzufinden versuchte. Ein Sturm war im Anzug, und er brachte nur Kälte und Unbarmherzigkeit...

Zitternd trat der Jurakai nach hinten, schritt langsam zurück, in der Hoffnung, an einen anderen, freundlicheren Platz zu gelangen. Unförmiger Boden war unter ihm, vernarbt und voller Tücken. Sein Fuß, der eigentlich auf festen Boden hätte treten sollen, glitt plötzlich nur noch durch leere Luft, und mit einem kurzen Aufschrei fiel Indigo nach hinten. Nur durch Glück konnte er sein Gleichgewicht soweit wahren, daß er nicht haltlos stürzte, sondern mit pochendem Herzen auf festem Stein zum Liegen kam. Erleichtert atmete er tief durch, dann fuhr er tastend mit der Hand den Untergrund ab, fand bald, wonach er gesucht hatte. Knapp neben ihm endete der Stein abrupt, mündete in einem tiefen, alles verschlingendem Loch, aus dem Kälte emporströmte. Instinktiv wußte der Jurakai, daß es den unweigerlichen Tod bedeutet hätte, dort hinabzustürzen, und zitternd schob er seinen Körper fort von der unheimlichen Grube.

Während er mit  durchdringender Angst über den Boden krabbelte, schien sich die Dunkelheit aufzulösen, einem unwirklichen und fahlen Licht nachzugeben, das sich schwerfällig ausbreitete. Er erkannte das felsige Gestein, auf dem er robbte, wie sich kleine, spitze Steinchen unter seine Fingernägel gruben, und wie Blut aus ihnen hervorquoll und den Boden benetzte.

Er rollte sich auf den Rücken, sah hinauf zum Himmel, an dem keine Sterne leuchteten, keine Wolken schwebten. Statt dessen erhob sich ein dunkler, roter Mond am Firmament, dessen unheiliges Licht die Welt überflutete. Im Schein des grotesken Mondes richtete Indigo sich auf, und Grauen machte sich in ihm breit, als er sah, wo er sich befand. Er stand auf einem Felspfeiler, tausende von Fuß über dem Land. Die Säule, die sich wie eine schlanke Nadel aus der Erde erhob und in den Himmel stach, schien zu schwanken, als der Sturm an Heftigkeit gewann und sie mitsamt ihrem Gefangenen durchrüttelte. Panisch ließ Indigo sich zu Boden sinken und seinen Blick über die Ebene schweifen, die tief unter ihm lag.

Nebel wogte am Boden, und durch die Schleier des Dunstes brachen immer wieder alptraumhafte Kreaturen, wurmähnlich und schwarz, die sich wanden und ringelten. Manche der riesigen Leiber, die aus den Nebeln hervorstießen, versuchten, sich den rauhen Fels des Pfeilers emporzuschlängeln, und mit Grauen dachte Indigo an die Möglichkeit, daß eines der Monster es tatsächlich schaffen könnte.

Angewidert wandte er sich ab, sank auf den Stein und umklammerte seine Kleider, die im stärker werdenden Wind flatterten. Der Sturm riß an seinen Haaren, zog an seiner Haut und schob ihn über die Plattform, die zur Zeit seine einzige Sicherheit bedeutete. Der Jurakai wehrte sich gegen die Gewalt des Orkans, doch er wußte, daß der Kampf aussichtslos war. Die scharlachfarbene Nacht selbst, deren blindes Auge der rote Mond war, zerrte an ihm und verlangte nach seiner Wärme.

Indigo krallte sich an den felsigen Vorsprüngen fest, die sich am schwankenden Untergrund boten, doch der Stein bekam Risse, ein plötzliches Gitternetz aus feinen Linien breitete sich auf ihm aus. Entsetzt ließ der junge Mann los, doch der Zerfall der Säule hatte begonnen und war unaufhaltsam. Die schwarzen Spalten verbreiterten sich, und am Rande des Pfeilers brachen bereits die ersten Stücke, fielen hinab in die Tiefe, hinab zu den sich windenden Würmern. Indigo richtete sich auf, balancierte auf den kippenden Teilen, kämpfte gleichzeitig gegen den Sturm an, der ihn mit Eiseskälte umspülte.

Und dann hing der Jurakai in der Luft, der Fels unter seinen Füßen nur noch eine bloße Ansammlung von zerberstenden Steinen. Für eine Sekunde blickte er zum Himmel empor, und das rote Antlitz des Mondes schien auf ihn herabzusehen, ihn zu betrachten. Dann verlangte das Gesetz der Schwerkraft dem Leib ihren Tribut ab, und Indigo stürzte dem Boden entgegen. Eine Stimme drang durch seinen Kopf, eine Stimme, die älter als die Zeit selbst klang, hart und donnernd.

Hüte dich, schoben sich die Worte in seinen Geist, als er in die Würmer fiel. Die schlangengleichen Körper umringten ihn, und Köpfe, aus denen blinde, milchige Augen blickten, schnellten auf ihn zu.

Hüte dich vor dem dunklen Blut.

 

Der angenehme Duft nach gebratenem Fisch riß den jungen Jurakai schließlich aus seinem Schlaf. Er wälzte sich unruhig auf dem Boden und dachte mit einem Schauern an den Alptraum der letzten Nacht. Der Sturm war noch immer gegenwärtig in seinen Gliedern, und die Stimme, diese uralte Stimme, hallte noch in seinem Kopf wider. Er rieb sich die Schläfen, sah sich im Sa’e um.

„Ich wünsche dir einen guten Morgen, Indigo.“ Nachtfalke kauerte an einem kleinen Feuer und briet eine Forelle aus dem Bestand der Jael’vre. „Wenn du schon keine gute Nacht hattest...“

Erstaunt sah Indigo seinem Freund ins Gesicht. Dieser lächelte und betrachtete seinen Schüler mit Interesse. „Es war nicht schwer, das zu erkennen. Dein Körper hat gebebt, und Schweiß stand auf deiner Stirn. Es war ganz bestimmt kein vergnüglicher Traum, der dich in dieser Nacht beschäftigt hat, nicht wahr?“

„Ich möchte nicht darüber reden, Falke. Es war nur ein Alptraum, weiter nichts. Ich habe ihn bereits fast vergessen“, log er.

„Nun, dann darf ich dir zur Stärkung deines Körpers und zur Belebung deines Geistes sicherlich ein Stück von diesem Fisch anbieten?“

Grinsend nahm Indigo einen Teil der Forelle entgegen, die Nachtfalke gebraten hatte. „Eine sehr gute Idee, Fisch zum Frühstück“, bemerkte er beim Kauen. „Ich war mir sowieso noch nicht ganz im Klaren darüber, woraus meine heutige Mahlzeit bestehen sollte.“

„Ich weiß“, bemerkte Falke ein wenig ernster. „Die Vorräte sind recht spärlich ausgefallen dieses Jahr. Ich hoffe, daß dem Volk das Jagdglück wohlgesonnen ist. Ansonsten könnte es ein harter Winter werden für die Jurakai.“

„Oh, mach dir deswegen keine Sorgen. Wir haben noch soviele getrocknete Vorräte, daß es für zwei Winter reichen würde.“

„Trotzdem solltest du deinen Fisch genießen, Indigo. Es kann ein harter Tag werden, wenn wir meinen Übungsplan auch schaffen wollen.“

„Welchen Übungsplan meinst du, Falke?“

„Ich bin nicht umsonst hier, du törichter Kerl“ sagte Nachtfalke mit grollender Stimme. „Ich will dir etwas beibringen, wie ich es schon die letzten sechzig Sommer versucht habe - allerdings mit wenig Erfolg, wie ich zugeben muß.“

Indigo grinste breit. „Na, dann wird es hoffentlich auch etwas sein, das mir nützen wird, Falke. Dein Schwertkampf ist ein wenig eingerostet, wie mir scheint. Und deine Augen können es mit meinen auch nicht mehr aufnehmen, oder irre ich mich?“

„Hüte deine Zunge“, fauchte Nachtfalke. „Ich mag alt sein, aber das sagt nichts über meine Kräfte aus. Merk dir das, du junger Narr: Der Schein trügt nur allzu oft. Gib dich niemals mit dem zufrieden, was du siehst. Schau dahinter - dann erkennst du vielleicht mehr.“

„Dann schlage ich vor, daß wir mit dem Spiel aufhören und uns dem Kampf zuwenden.“ Indigo erhob sich rasch und verstaute ein wenig Proviant in seinem Rucksack. Sein Schwert balancierte er mehrere Sekunden lang am Heft auf dem Finger, um es anschließend an seinem Gürtel zu befestigen. Zum Abmarsch bereit stand er im Eingang des Sa’e und wartete auf seinen Lehrer. „Ich bin fertig, Falke.“

„Geduld, Indigo, Geduld. So schnell du auch handeln magst, in Zeiten der Ruhe ist die Bedachtsamkeit dein mächtigster Verbündeter.“ Auch Nachtfalke packte seine Sachen und wandte sich dem Ausgang zu, nachdem er die Glut gelöscht hatte. „Jetzt geh, wenn du es schon nicht erwarten kannst.“

Die Jurakai wanderten durch die Weide des Schlafes, und die wenigen zu dieser Jahreszeit bewohnten Sa’e lagen noch still im Morgengrauen. Die Dämmerung zog schnell heran und tauchte die Stadt in eine rötliche Oase des Lichtes. Beim Anblick des roten Himmels erinnerte Indigo sich wieder an seinen Traum und fragte sich, was er wohl zu bedeuten hatte. Doch er beschloß, ihn erst einmal auf sich ruhen zu lassen. Vielleicht konnte er später in Erfahrung bringen, was die sonderbaren Worte meinten. Und wenn nicht - nun, es war wohl nicht von allzu großer Bedeutung. Hüte dich vor dem dunklen Blut...

„Die Singarische Steppe ist heutzutage kein friedlicher Ort“, begann Nachtfalke unvermittelt zu erzählen. „Nahe am Waldrand ereigneten sich... Vorfälle. Die Weide des Sommers ist uns nicht wohlgesonnen dieses Jahr.“

Interessiert wanderte Indigo neben seinem Freund. „Was für... Vorfälle?“

Nachtfalke zögerte. „Vorfälle von... alarmierenden Ausmaßen. Geschlachtetes Vieh. Tote Herden.“

Indigo glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. „Was für Vieh, Falke? Ich dachte, ihr hättet keine Jagdgelegenheiten gefunden?“

„Es ergaben sich auch keine. Das Vieh... war nicht von uns geschlachtet worden. Ich bezweifle, daß es Manur oder andere Jurakai waren, die diese Tat vollbrachten. Die Tiere waren verstümmelt und oft zur Unkenntlichkeit zerfetzt. Als wären sie zerrissen worden. Rehe, Hirsche, Wölfe... es wurden keine Ausnahmen gemacht. Wir fanden die Kadaver überall... vor allem in der Nähe des Hochlands...“ Nachtfalke verstummte, als die Erinnerung hochstieg. Seine Augen wurden glasig.

„Also könnten es Manur gewesen sein?“ sagte Indigo aufgebracht. „In der Nähe des Hochlands... wer sonst sollte sich dort aufhalten? Die Dverjae kommen bestimmt nicht vom Ra’an herunter, um Tiere zu schlachten.“

„Nein, es waren keine Menschen.“ Nachtfalkes Stimme klang so fest, daß Indigo kein Raum für Zweifel blieb. Er wußte, daß Nachtfalke ihn nicht belog.

„Es waren Blutbäder“ fuhr der Alte fort, noch immer den glasigen Blick in den Augen, durch den er auf Szenarien blickte, die sich seinem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt hatten. „Aufgequollene Leichen, zerschmetterte Körper... nichts, an das du dich gern erinnern würdest, glaub mir...“

„Und wer meinst du, ist für so etwas verantwortlich?“

„Ich weiß es nicht. Ich habe wirklich keine Ahnung. Ich weiß bloß, daß es schwierig werden wird, Nahrung zu finden. Es wäre eine Schande, wenn wir unser Vieh notschlachten müssten. Oder auch nur Teile davon. Es ist ein verfluchtes Jahr, Indigo.“

 „Das nächste wird dafür umso besser“, beschwichtigte Indigo seinen alten Freund. „Du wirst sehen, es gibt genug zu essen für alle.“

„Nun, deine Eltern sehen der Sache nicht ganz so wohlgelaunt entgegen. Immerhin ist es die Pflicht deines Vaters, ganz Eldraja’aro durchzufüttern. Und das ist keine leichte Aufgabe, glaube mir. Irgendwann wird diese Pflicht auch auf dich übergehen. Und bis dir dein Vater Politik und Verstand eintrichtert, will ich dir lieber zeigen, was du brauchst, um in der Wildnis zu überleben. Sei froh, daß deine Eltern dich noch in meine Lehre schicken. Sie selbst haben nicht halb so viel für den Kampf und das Bogenschießen übrig wie ich. Würde es nach ihnen gehen, würdest du bereits die Floskeln lernen, die du am Hofe der Manur besitzen mußt, um dich auszudrücken. Dort kann allein die Frage nach dem Essen eine tödliche Beleidigung sein, wenn du sie falsch hervorbringst.“ Der Alte lachte schnaubend. „Aber jetzt konzentrierst du dich wohl lieber auf unser Training. Denn wenn du hier durchfällst, werde ich deinen Eltern leider schlechten Bericht erstatten müssen, fürchte ich.“

„Kein Angst, Falke. Komm, lass' mich dir zeigen, daß der Schüler seinen Lehrer weit hinter sich gelassen hat!“ Er lächelte zuversichtlich.  „Ich möchte sehen, ob ich es schaffe, dich noch ein wenig früher in die Knie zu zwingen als sonst.“

Mit einem gewandten Schwung zog er seine Klinge und ließ sie in der Luft rotieren. Die Schneide blitzte bei jeder Umdrehung in der frühen Morgensonne, aber die Kälte der Nacht war noch in der Luft zu spüren.

„Nun, wenn du es nicht abwarten kannst, eine Niederlage hinnehmen zu müssen, junger Narr.“ Nachtfalke zog sein Schwert aus der am Rücken hängenden Scheide, und ging in Angriffsstellung über. Auf einer kleinen Lichtung mitten in Eldraja’aro umkreisten sich die Kontrahenten langsam und vorsichtig, achteten auf jede winzigste Bewegung ihres Gegenübers. Von einem sonderbaren Hochgefühl zehrend und ein wenig unvorsichtig, versuchte Indigo, seinen ersten Schlag zu landen. Als das Schwert niederfuhr, befand sich Nachtfalke bereits an einem völlig anderen Platz, und die Klinge schnitt nur leere Luft.

„Werde niemals übermütig, mein Schüler. Übermut ist der Tod des Geistes.“ Nachtfalke griff seinerseits an, und Indigo konnte die Schläge nur mit Mühe abwehren. Immer weiter und weiter trieb der alte Jurakai ihn zurück, direkt auf die Wand eines Sa’e zu. Dort wäre seine Bewegungsfreiheit immens eingeschränkt, erkannte Indigo mit Schrecken, und er versuchte, nach links zu entkommen. Schlag auf Schlag traf sein Schwert, und es kostete ihn seine ganze Konzentration, die gegnerische Klinge abzuwehren. Nachtfalke war alles andere als ungeschickt. Wie ein junger Krieger, dessen Geist sich ganz dem Kampf widmet, bewegte sich der Alte vor ihm, ließ wieder und wieder seine Klinge niederfahren. Wie ein Hammer krachten die Schläge jetzt auf sein Schwert ein, fuhren durch seine Arme und ließen seine Muskeln zittern. Indigo wurde mehr und mehr zurückgedrängt. Er keuchte erschöpft, ließ seinen Körper fallen, sprang zur Seite und entkam nur knapp einem weiteren Hieb von Nachtfalke. Dieser drehte sich um und ging wiederum seinerseits in eine Abwehrhaltung über, während Indigo sich ein paar Schritte entfernte.

Er hat die Energie eines jungen Pumas, dachte der junge Jurakai bei sich, während er sein Gegenüber musterte. Leichtfüßig tänzelte Nachtfalke, sein Alter vollkommen mißachtend, um Indigo herum. Ohne Mühe fuhr seine Klinge durch die Luft und erzeugte pfeifende Geräusche. Woher nimmt er nur all diese Kraft?

Indigo stieß vor und vollführte einen Ausfall, drehte sich um die eigene Achse und kam hinter Nachtfalke zu stehen. Sofort mußte er einen meisterhaft geführten Schlag abfangen, der ihm den Arm hätte kosten können. Verdammt, er kämpft, als wolle er mich umbringen. Was ist nur in ihn gefahren?

Indigo zog sich zurück, vorbei an einem kleinen Sa’e, als ihm eine Idee in den Geist sprang. Auch er tänzelte ein paar Schritte zur Seite, und in einem vorgetäuschten Angriff ließ er absichtlich eine kleine Lücke in seiner Verteidigung. Nachtfalke erkannte den Fehler und lenkte sein Schwert in die entsprechende Richtung. Indigo, der diesen Zug erwartet hatte, hob seine eigene Klinge, riß sie nach rechts und lenkte Nachtfalkes Schwert an ihm vorbei. Die Waffe des anderen bohrte sich in das Holz des Sa’e, wo sie zitternd verharrte. Anschließend setzte Indigo Nachtfalke die Klinge an die Brust und keuchte erschöpft.

„Das war’s. Du wärst tot, Falke“, brachte er unter Schnaufen hervor. Und er atmet noch nicht einmal schwer.

Nachtfalke nickte anerkennend. „Du hast dich zweifellos gut geschlagen und deine Phantasie benutzt. Ein schöner Kampf, Indigo.“ Der Alte hob eine Augenbraue. Der Junge war einfallsreich und geschickt. Seine kämpferische Leistung war zwar nicht perfekt, doch er konnte noch viel lernen. Sein Vater hatte Recht – er war zweifellos der beste Schüler, den Nachtfalke je gehabt hatte.

„Falke?“ fragte Indigo nach Luft schnappend.

„Hat der Kampf dir zugesagt?“

„Ja, das hat er“, keuchte der Junge. „Aber was ist nur in dich gefahren... wieso hast du gekämpft, als würde es um Leben und Tod gehen? Wolltest du mich verletzen? Du hättest es beinah geschafft!“

„Ich wollte dir eine Lektion erteilen, Indigo. Und wenn du nicht mit allen Kräften und Mitteln gekämpft hättest, die dir zur Verfügung standen, dann hätte ich dir als Andenken eine Wunde verpaßt. Du mußt lernen, deinen Gegner niemals zu unterschätzen. Das kann schnell dein Verderben sein.“

„Danke, Falke. Aber beim nächsten Mal bitte ich dich, etwas nachsichtiger mit mir zu sein. Es ist noch früh am Morgen, und meine Knochen sind unausgeschlafen. Du hast Recht gehabt. Ich habe dich zu Anfang noch unterschätzt. Ich dachte, ich hätte genug gelernt, um es mit dir aufnehmen zu können - du hast mich eines Besseren belehrt.“ Er lächelte müde, um sein fehlerhaftes Verhalten zu entschuldigen.

„Es tut mir leid, daß unsere Übungsstunden nicht mehr so leichtfertig wie früher ausfallen können, Indigo. In letzter Zeit geschehen merkwürdige Dinge in Ruben, und die Kälte des Sommers und der Tierschwund sind nur ein geringer Teil davon. Im Herzen spüre ich, daß etwas sonderbares naht. Und ich möchte nicht, daß du unvorbereitet in eine Sache hineingezogen wirst, die deinen Tod bedeuten kann.“

„Wovon sprichst du eigentlich, Falke?“ fragte Indigo aufgebracht. Er setzte sich auf einen bemoosten Stein. Der Morgentau durchdrang seine luftigen Kleider und benäßte seine Haut. „Was verschweigst du mir? Ist etwas geschehen, von dem ich eigentlich wissen sollte? Warum kämpfen wir plötzlich, als ginge es um Leben und Tod? Nicht, daß ich damit nicht fertig werden könnte - es ist nur, daß ich gern mehr erfahren würde. Du läßt mich im Dunkeln tappen, wenn es um diese Sache geht, aber wie soll ich mich vorbereiten, wenn ich nicht weiß, worauf es sich vorzubereiten gilt? Sprich mit mir, Falke!“

Nachtfalkes Gesicht zeugte von Unruhe und Unzufriedenheit. Der Jurakai sah mit einem Mal sehr, sehr alt und sehr gebrechlich aus. Die Falten in seinem Gesicht schienen sich zu verhärten, als er über die Worte Indigos nachsann. Er fasste einen Gedanken und drehte sich in Richtung des Westtores Eldraja’aros.

„Folge mir, und ich will dir erklären, was du zu erfahren verlangst. Aber es sind unerfreuliche Neuigkeiten von großer Wichtigkeit, und deswegen ist es ratsam, an einen... ruhigen Ort zu gehen.“ Mit schnellem Schritt verließ der Jurakai die Lichtung, dicht gefolgt vom neugierigen Indigo. Sie passierten das Westtor, und ihre Spur führte weiter hinaus, direkt in den Weilerwald hinein. Grüne, taufeuchte Zweige streiften die beiden Gesichter und deren Körper, während sich die zwei einen Weg durch das Dickicht bahnten. Auf einer Lichtung, die mehrere Wegminuten von Eldraja’aro entfernt lag, machte Nachtfalke halt.

„Die Stadt hat Ohren, Indigo“ erklärte er seinem Begleiter. „Es gibt zwar keinen Jurakai, der sich unaufgefordert in die Angelegenheiten eines anderen einmischen würde, aber Vorsicht ist besser als Nachsicht, vor allem nach dem, was am gestrigen Abend geschehen ist. Nicht viele wissen von den Dingen, die ich erfahren habe. Und in nächster Zeit werden auch nicht viel mehr davon erfahren. Es ist eine Sache, die nur beunruhigt, und deswegen keinen Frieden in die Weide des Schlafes bringen würde. Nur ein paar Jurakai wissen überhaupt davon, und nicht einmal wir haben ausreichende Informationen. Es sind Vermutungen, gepaart mit Gerüchten, und das erste Opfer dieser zwei ist die Wahrheit. Dennoch ist genug bekannt, um wenigstens ein paar Dinge zu... schlußfolgern.“

Nachtfalke mühte sich um ein gelassenes Gesicht und fuhr fort: „Diejenigen vom Volk, die im Norden wohnen, ließen uns Nachricht zukommen. Nachricht von Zerstörung und Leid. Es gab zahllose Tote, aber keine—„

„Das Volk wurde angegriffen?“ unterbrach Indigo entsetzt. Es war seit Jahrhunderten nicht mehr vorgekommen, daß das Volk einen Krieg gefochten hatte.

„Langsam, Junge. Nicht das Volk wurde angegriffen. Die Manursiedlungen, die unterhalb der Ra’an-Gebirge liegen, waren das Opfer der Attacken. Auch die Dverjaestädte wurden nicht verschont. Glücklicherweise wurden bis jetzt noch keine Jurakai in diese Kämpfe verwickelt. Obwohl das vielleicht sogar ein Segen wäre - denn wir wissen nichts von dem Etwas, das imstande ist, ganze Siedlungen auszulöschen. Würden erst ein paar Jurakai miterleben, was den Manur und Dverjae widerfuhr, könnten wir vielleicht mehr sagen.“ Nachtfalke zögerte einen Moment. „Aber auch das ist unwahrscheinlich. In den überfallenen Städten gab es niemals Überlebende. Und falls doch, dann waren sie so grausam verstümmelt, daß kein Wort mehr über ihre Lippen kam. Es ist alles sehr seltsam, was sich dort oben zuträgt. Sehr kalt.“

Mit Grauen hatte der junge Jurakai gelauscht, um nun heftig den Kopf zu schütteln. „Aber das kann nicht sein. Wieso wissen wir nichts? Gibt es denn keine Spuren?“

Nachtfalke lachte verbittert. „Spuren? Du meinst, abgesehen von zerfetzten Körpern und brennenden Häusern? Nein, andere Spuren lassen sich nicht finden. Es ist, als wäre ein Alptraum über die Siedlungen hereingebrochen, hätte gemordet und vernichtet, um anschließend wieder zu verschwinden. In den Trümmern wurde nichts gefunden - ganz so, als hätten Schatten die Attacken verübt, um anschließend wieder eins mit dem Dunkel zu werden, aus dem sie kamen.“

„Das... das hatte ich nicht erwartet, Falke. Ich dachte nicht an ein solches Übel. Jetzt verstehe ich, warum du vorhin so hart mit mir umgesprungen bist.“ Die Blicke der beiden Jurakai trafen sich und wechselten stumm eine vielsagende Botschaft.

„Ja, das ist der Grund für meine Besorgnis, Indigo. Und auch der Grund, warum ich vorzeitig von den Jagdgründen aufbrach, um nach Eldraja’aro zu kommen. Sie hätten mich bei der Jagd sicherlich gut gebrauchen können, aber ich wollte nicht, daß du allein - oder doch zumindest fast allein - durch die Wälder streifst. Die wenigen, die noch in der Weide anzutreffen sind, wären dir keine große Hilfe. Und da ich deinem Vater einen Treueeid auf dein Leben geleistet habe, fühlte ich mich verpflichtet, dich aufzusuchen, nachdem ich die schreckliche Nachricht bekam.“

„Danke“, murmelte der junge Jurakai leise. „Aber was würde deine Anwesenheit hier nutzen, wenn dieses Etwas tatsächlich keine Gefangenen macht? Dann wärst auch du machtlos, und würdest nur unnütz hier mit mir sterben. Nein, ich kann mir weitaus bessere Dinge vorstellen, die dir zustoßen, Falke. Der Tod ist ganz bestimmt keines davon.“

„Falls Eldraja’aro angegriffen werden sollte, könnte ich wenigstens meinen Eid leisten und dich beschützen. Wenn Himmelfeuer es so will, dann werden wir eben gemeinsam sterben. Aber ich habe eigentlich an etwas anderes gedacht. Es sind ein paar Jurakai aufgebrochen, um am Hof des Hochkönigs vorzusprechen und ihm von dem Unheil zu berichten. Die Geschehnisse fanden viel zu weit Abseits statt, als daß die Informationen schnell ins Innere Reich gelangen könnten. Deswegen haben wir einige Boten entsandt, die dem König zutragen sollen, was wir in Erfahrung bringen konnten.“

„Kenne ich diejenigen, die gegangen sind, Falke?“

„Ich denke, daß es nur zwei sind, mit denen du vertraut bist. Beltiar und Kemlian, ansonsten nur ein paar ältere Jurakai.“

„Glaubst du, daß sie es schaffen werden, dem König die Nachricht rechtzeitig zu bringen?“

„Erstens ist nicht gesagt, daß sie tatsächlich lebend bis zum Hof vordringen.“ Indigos schmerzerfüllter Blick ließ ihn das Haupt senken. „Es ist wahr, Junge. Sie brachen nicht auf, um von einem frohen Ereignis zu berichten. Es ist gefährlich, die Reise durch das Hochland zu wagen, und es ist nicht sicher, daß sie jemals ihr Ziel erreichen, so leid es mir tut. Und zweitens ist der Hochkönig keinesfalls verpflichtet, uns Glauben zu schenken oder uns gar zu helfen. Es sind nur die Siedlungen und Dörfer im Äußeren Reich, die das grausame Schicksal ereilte. Nichts, was König Westfald auch nur im geringsten tangieren würde.“

Indigo wollte zu einer Erwiderung ansetzen, doch sein Freund kam ihm zuvor.

„Ich habe einen Gedanken, den ich unbedingt verfolgen will. Und es wäre mir sehr recht, wenn du mir dabei behilflich sein könntest.“

„Von was sprichst du, Falke?“ Indigos Wissensdurst war für den heutigen Tag gestillt. Er wäre am liebsten erst einmal auf den Waldboden gesunken, um das Gehörte zu verdauen. Zerstörte Manurstädte! Die Zwerge angegriffen von einem Etwas, das mordend und zerstörend über die Siedlungen herfiel! Was konnte denn Nachtfalke jetzt von ihm verlangen?

„Dein Vater wollte meinen Rat nicht befolgen, die Entsandten in mehreren, kleineren Gruppen losmarschieren zu lassen. Er verharrte auf dem Standpunkt, daß eine größere Gruppe viel mehr Stärke und Macht besäße als eine kleine. In diesem Punkt hat er Recht, doch ich wies ihn darauf hin, daß die Boten getötet werden konnten. Was, wenn dieses Etwas nun auch die Jurakai angreifen würde? Zu diesem Zweck erläuterte ich ihm meinen Plan, verschiedene Boten zu verschiedenen Zeiten loszuschicken. So wäre zwar die Gesamtstärke der Gruppe gemindert, aber die Wahrscheinlichkeit, daß die Nachricht zum königlichen Hofe gelangt, wäre um einiges höher. Nun, dein Vater blieb stur, und so marschierten alle acht am selben Tage los. Besser gesagt, in der selben Nacht. Das ist nun über einen Mond her. Inzwischen müßten sie die Täler hinter sich gelassen haben und die Hochländer durchqueren. Und ausgerechnet dort haben sich diese Zwischenfälle ereignet, Indigo! Aber der kürzeste Weg ist ja bekanntlich der schnellste...“

In Indigo keimte eine Ahnung, den Gefallen, um den Nachtfalke ihn beten wollte, betreffend. Er fühlte sich geehrt, daß sein Freund ihm eine Sache solcher Wichtigkeit abverlangte.

„Du willst selbst zum Hof reisen, habe ich Recht? Du willst sichergehen, daß der König die Nachricht erhält?“ Er betrachtete seinen Freund aufmerksam. Nachtfalke bestätigte die Vermutung mit einem traurigen Nicken.

„Die Idee ist bloßer Wahnsinn, Indigo. Ich weiß nicht, warum ich dich da mit hineinziehen will, aber ich denke, du wärst mir eine große Hilfe. Außerdem wäre es schön, einen Freund dabei zuhaben.“

Und außerdem hatte der Junge noch etwas anderes an sich... wenn er auch nicht genau sagen konnte, was es war! Etwas, das ihm sagte, daß es richtig wäre, ihn mitzunehmen. Nun, er würde es herausfinden...

Nachtfalke verwarf seine Gedanken und klopfte dem Jurakai auf die Schulter. „Ich brauche dich, Indigo. Es wäre mir eine Freude, dich an meiner Seite zu haben.“

„Natürlich werde ich dich begleiten, Falke. Es ist mir eine Ehre.“

„Freue dich nicht zu früh. Wir wissen nicht, was uns erwartet auf unserer Reise. Der Sitz des Hochkönigs ist viele hundert Meilen entfernt, und ein unheiliger Krieg ist zwischen den Völkern und einem unbekannten Angreifer entbrannt. Wir könnten genau zwischen die Fronten geraten. Oder wir treffen zufällig auf das Objekt des Anstoßes selbst, die Wurzel des Übels. Aber dann, denke ich, würden wir den Hof wohl niemals erreichen. Es gibt so viele Dinge, die schiefgehen können bei diesem Unterfangen, daß ich mich hasse, dich mit hineingezogen zu haben. Nein, eine Ehre ist das sicherlich nicht, mein junger Freund. Wohl eher ein sicherer Marsch ins Verderben.“

„Ist es so schlimm?“ erkundigte sich Indigo. „Wieso sollte die Aufmerksamkeit denn ausgerechnet auf zwei Wanderer fallen, die das Land durchqueren? Warum denkst du, daß unser Weg so beschwerlich werden wird, obwohl wir zum Volk gehören... du kennst das Land wie dein eigenes Sa’e! Auch wenn uns tausend Gefahren drohen sollten, Falke: Mit dir zusammen wird mir nichts passieren. Ich vertraue darauf.“ Indigos Lächeln stärkte das Selbstvertrauen des alten Jurakai ein wenig.

„Danke“, flüsterte er leise.

Die Bilder der verstümmelten Tierkadaver krochen noch immer durch seinen Geist.

 

Stechender Schmerz fuhr durch Dynes Beine, als sich ein Scharnier seiner Rüstung genau in seine Wade bohrte. Fluchend wollte er sich bücken, doch die starre Rüstung ließ keine derartige Bewegung zu. Mit einem unter seinem silbernen Helm verborgenen Zähnefletschen rief er nach Paves, seinem Knappen.

Als der Junge endlich angetrabt kam, meinte Dynes schon, sein Bein nicht mehr spüren zu können. Der rotschöpfige Kerl – vielleicht gerade der Pubertät entwachsen – war anscheinend nicht so dumm, wie er aussah, denn sofort erkannte er das verbogene Scharnier und begann, es mit einer Zange aus Dynes Wade zu ziehen. Arathas musterte den Jungen, der sich alle Mühe gab, trotz verpickeltem Gesicht erwachsen auszusehen. Nun, vom Verhalten her bewies er auf alle Fälle ein höheres Alter als Graf Fegget...

„Schon draußen“ murmelte Paves mit fragendem Blick.

„Danke“ antwortete der Ritter und deutete auf die Tür des Stalles, in dem sein Roß wartete. Ohne zu zögern sprintete der Knabe los, um nach dem Pferd zu sehen. Helles Köpfchen, dachte Dynes, während er vorsichtig ein paar Schritte in der ungewohnten Rüstung tat. Er selbst war natürlich ohne Knappen angereist – woher hätte er auch einen nehmen sollen? – doch der Hochkönig hatte ihm freundlicherweise diesen Jungen zugewiesen. Arathas hatte die Vorstellung, einen Bediensteten zu haben, nie zugesagt, doch in diesem Falle mußte er wohl eine Ausnahme machen, denn die Etikette verlangte es.

Als Dynes bei seinen Gehversuchen zu fest auftrat, rutschte sein Visier herunter und nahm ihm im ersten Augenblick vollends die Sicht. Erst nach ein paar Sekunden hatte er sich an die kleinen Sehschlitze gewöhnt, die seinen Blick auf die Außenwelt auf das Nötigste reduzierten. Zu den Seiten hin konnte er nun überhaupt nichts mehr erkennen, nur sein direktes Gegenüber würde sichtbar sein, wenn es zum Kampfe kam. Erneut quoll ein Fluch über seine Lippen und er versuchte, das Visier zurechtzurücken. Er dachte an seine Kontrahenten. Wie konnten die Bastarde sich in diesen verdammten Rüstungen nur wohl fühlen? Der Schrotthaufen schränkte jede nur erdenkliche Bewegungsfreiheit ein, oder besser gesagt, ließ sie sich gar nicht erst entfalten. Wenn es tatsächlich jemanden geben sollte, der in einer solchen Rüstung in den Kampf zog... er hatte Dynes vollstes Mitgefühl.

Er beobachtete, wie Paves seinen Hengst Sturmauge aus den Ställen führte und zum Kran brachte. Das Pferd scheute nicht und zeigte auch keine Furcht, obwohl es über und über mit klimpernden und funkelnden Gegenständen behängt worden war, die ihm das Aussehen eines zum Julfest geschmückten Tannenbaums gaben. Arathas richtete seine Aufmerksamkeit auf die gegenüberliegende Seite des Hofes, wo der letzte Kampf sich seinem Ende näherte. Es war ein Wettbewerb im Bogenschießen, und nach dieser Übung sollten die Ritter im Turnier gegeneinander antreten. Nun, die Zeit schien gekommen. Unter ächzendem Stöhnen stakste Dynes über den kopfsteingepflasterten Teil des Hofes zu seinem Pferd, das ihn mit aufmerksamem Blick erwartete.

Er unterließ es, dem Tier über die Schnauze zu fahren, aus Angst, es mit der Rüstung zu verletzten. „Du hast es gut“ murmelte er leise zu seinem Hengst, der ihn wissend musterte. „Du bist nur an den Füßen beschlagen... ich bin es am gesamten Körper. Sieh mich an! Diese Mistkerle haben mich in eine Büchse gesteckt wie ein Angler einen Regenwurm!“

Die Augen des Pferdes leuchteten, erinnerten Dynes daran, was ihn dazu veranlaßt hatte, ihm seinen Namen zu geben: Sturmauge. Er hatte ihn eines Tages einer Bauersfrau abgekauft, deren Mann verstorben war und die das Geld dringender gebrauchen konnte als das Pferd. Natürlich hatte er ihr weit mehr gegeben, als selbst der beste Gaul der Welt wert gewesen wäre... doch der Hengst hatte Dynes mehr als einmal verblüfft. In seinen Augen loderte ein Feuer, ein brennender Sturm, der niemals zu versiegen schien, und wenn Sturmauge erst einmal galoppierte, dann hielt kein anderes lebendes Wesen mit ihm mit.

Jetzt sah ihn Sturmauge mit eben diesem Feuer an, das ihn einst so verwundert hatte. Der strahlende, glänzende Blick forderte, und Arathas atmete tief ein unter der Rüstung und streckte seinen Körper. Nun gut. Sie sollten ihren Kampf bekommen. Auch wenn er diesen Schwachsinn niemals übte und für die Turniere trainierte...

Ein Schrei ertönte von irgendwo über seinem Kopf, Seile wurden herabgelassen und eine Schlaufe um Dynes Körper gebunden. Die ledernen Riemen des Flaschenzugs strafften sich, als der Ritter nach oben gehievt wurde, immer höher, bis er weit über Sturmauge baumelte. Der Knappe Paves kam herbei und hielt den Hengst am Zaumzeug, während ein paar andere Männer ruckartig Seil gaben und Arathas herunterließen. Langsam senkte er sich auf das Roß herab, das ruhig und gelassen stand. Mit einem Knarren wie bei einer quietschenden Tür schob sich Dynes‘ Rüstung in den Sattel, und als er fest saß, wurden die Stricke um seinen Körper wieder gelöst.

Stoisch verharrte Sturmauge noch immer reglos an seinem Platz, und Dynes brach fast das Herz, als er an das unglaubliche Gewicht dachte, das der Hengst nun zu tragen hatte. Verdammt, es war eine Schande, ein unschuldiges Tier so zu quälen! Wahrscheinlich ruhten jetzt hunderte von Pfund auf dem armen Pferderücken, doch das Roß ließ sich nichts von etwaigen Schmerzen anmerken.

„Ich... ich glaube, ich sollte Euch zum Turnierplatz führen“ stotterte der Knabe Paves mit hochrotem Kopf, für den es das erstemal war, daß er vor so viele Leute trat. Arathas brachte ein Nicken zustande, und geschwind machte der Junge sich auf den Weg, gefolgt von Sturmauge.

Als Dynes die Tribünen passierte, die zu beiden Seiten aufgestellt worden waren, erfüllte der ohrenbetäubende Lärm von mehr als tausend klatschenden Händen die Luft. Dynes atmete auf. Sturmauge schien mit der Situation besser umgehen zu können als der junge Paves, der vor Konzentration beinahe das Atmen vergaß.

Fahnen wurden in die Luft gestreckt, Fahnen mit dem königlichen Wappen, und Fanfaren erklangen, als Dynes samt Gefolge vor den König geführt wurde. Auf Handzeichen Westfalds hin verstummten die Trompeten, und auch die übrigen Geräusche rückten in den Hintergrund. Westfald, auf einer erhöhten Bank sitzend, mit seinem Sohn an der Seite, beugte sich lächelnd vor.

„Und nun...“ intonierte er, und erwartungsvolles Schweigen füllte die Luft, „ist es Zeit für das Turnierreiten!“

Donnernder Applaus begleitete die letzten Silben des Satzes, und zufrieden lehnte der König sich zurück. Nun war es an seinem Sohn, vorzutreten und ein kleines Podest als Podium zu benutzen. Die Jubelschreie verebbten, und gebannte Ohren klebten an den Worten des Thronfolgers.

„Zu meiner Linken“ rief Leonart, und für eine Sekunde trafen sich die Blicke des Prinzen und des Ritters, „Sir Arathas Dynes aus dem Äußeren Reich. Sein Lehnsort und sein Gut sind leider so klein, daß ich mich gerade nicht an ihren Namen erinnern kann...“

Leises Gelächter zu beiden Seiten, und ein selbstgefälliges Lächeln auf Leonarts Antlitz.

„Und zu meiner Rechten...“ Er verharrte, während ein schlaksiger Knappe ein Pferd samt Ritter auf den Platz führte und vor Dynes stehenblieb, „Graf Fegget von Middenstrey. Daß er hier ist, hat er nur seiner Schwester beziehungsweise meiner Gemahlin zu verdanken, die mir im Falle seiner Nichtteilnahme mit... verschiedenen Maßnahmen drohte...“

Verhaltene „Aaahs“ und „Ooohs“, dann erneutes Lachen. Leonart, dessen Ansprache noch nicht vorbei war, wandte sich den beiden Rittern zu.

„Für die Ehre König Westfalds“ rief er, und Dynes sowie Fegget taten es ihm gleich. „Auf daß es ein faires Turnier werde“ fügte Leonart hinzu und begab sich unter Applaus an seinen Platz zurück, wo sein Vater ihn mit stolzem Gesicht empfing.

Die beiden Knappen, die tagelang für eben diese Situation trainiert hatten, führten die Pferde der Ritter an die entgegengesetzten Enden des Turnierplatzes und besorgten den Kontrahenten ihre Waffen. Dynes nahm seine hölzerne Lanze, auf der sein violettes Wappen – ein von Flammen umgebenes Auge – eingebrannt war, entgegen und bedankte sich bei Paves, der sofort errötete und zur Seite trat.

Arathas blinzelte. Gleich würde es soweit sein. Der Fanfarenstoß würde erklingen, und er und Fegget würden aufeinander zureiten und versuchen, den Gegner mit der Lanze aus dem Sattel zu stoßen. Verflucht sollte der Prinz sein! Hatte er es doch tatsächlich geschafft, diesen Bastard von Fegget gegen ihn aufzustellen. Aber egal, es ließ sich nichts mehr daran ändern. Er würde den Kampf hinter sich bringen, und anschließend würde er vom gesamten restlichen Tumult befreit sein...

Drei kurze Trompetenstöße kündigten den Beginn des Wettkampfes an, und die eine Hand an den Zügeln, in der anderen die Lanze, deren Spitze gen Himmel ragte, forderte Dynes Sturmauge zum Laufen auf. Mit einem Wiehern trabte das Pferd los, die vorgefertigte Bahn entlang, in deren Mitte sich die Ritter begegnen würden. Auch Fegget, ebenfalls in einer blitzenden Rüstung, hatte seinem Pferd die Sporen gegeben und stürmte nun auf ihn zu. Doch im Gegensatz zu Dynes, der noch lange keinen Galopp von Sturmauge verlangte, ritt der Graf mit zunehmend höherer Geschwindigkeit.

Arathas spürte seine Knochen überall, spürte, wie der metallene Käfig um ihn herum ihn zwar schützen sollte, andererseits aber auch eine Todesfalle darstellen konnte, stürzte er falsch vom Pferd. Und wie es aussah, wollte Fegget genau dies erreichen, denn er war mit seinem Hengst bereits in einen so schnellen Galopp verfallen, daß sie sich weit hinter der Mitte treffen würden.

Jetzt spornte auch Dynes seinen Hengst an, gab Sturmauge zu verstehen, daß es nun auf ihn ankam.

„Zeig’s dem verdammten Mistkerl“ flüsterte er dem Roß zu, und als würde das Tier ihn verstehen, wieherte es erregt und ließ die Hufe wuchtig in die staubige Erde einfahren. Schlag auf Schlag rollte durch Sir Arathas Körper, während er sich Fegget näherte, der schon längst seine Lanze nach vorn gerichtet hatte. Dynes Waffe, die noch immer in der Vertikalen lagerte, senkte sich ebenfalls herab, denn die Entfernung minderte sich zusehends. Fegget war jetzt nah, sehr nah, nur noch wenige Fuß entfernt, und er streckte seinen Waffenarm mit der Lanze von sich weg, auf daß sie Dynes so früh wie möglich berührte und aus dem Sattel stieß.

„Na warte, Bürschchen“ keuchte der alte Lehnsherr aufgebracht und zog an den Zügeln. „Kannst es wohl nicht erwarten, du Bastard!“ Sturmauge wurde langsamer, und Dynes fletschte die Zähne, als genau das eintraf, worauf er spekuliert hatte: Das Gewicht der Lanze zog an Feggets Armen, der die Waffe nicht lange in der ausgestreckten Position halten konnte. Bevor er etwas dagegen unternehmen konnte, kippte die Spitze abwärts, knallte auf den Boden und verfing sich dort. Nur durch Glück riß es den Grafen nicht aus dem Sattel, als er übertölpelt auf den langsam trabenden Sturmauge zuritt.

Dynes richtete gemächlich seine Lanze aus, und unfähig, sein Roß noch zu verlangsamen oder gar in eine andere Richtung zu lenken, hielt Fegget genau auf die Spitze der Holzleiste zu. Sir Arathas Miene wurde zu einem verbissenen Grinsen, während er versuchte, unter den Helm seines Gegners zu schauen. Was mußte Feggets Antlitz für ein wunderbarer Anblick sein, so verblüfft, wie er von Dynes Verhalten war!

„Guten Flug“ schnaubte Dynes, doch noch im selben Moment riß er entsetzt die Augen auf. Erst jetzt, wo Fegget so nah heran war, sah er, daß mehrere lange Gurte den Grafen mit Sattel und Geschirr seines Pferdes verbanden! Der verdammte Narr hatte sich tatsächlich an seinen Gaul binden lassen, wahrscheinlich in der Hoffnung, dadurch schwieriger aus dem Sattel zu stoßen zu sein! Dynes verfluchte Fegget, doch für ein Umlenken der Lanze war es jetzt viel zu spät. Mit stockendem Herzen beobachtete er, wie die Spitze auf des Grafen Brustplatte prallte und ihn nach hinten drückte. Doch anstatt durch den Aufprall vom Roß zu fliegen, rutschte er bloß, von den Gurten und Striemen gehalten, am Rücken des Pferdes herab.

Dynes schlimmste Befürchtungen wurden wahr, als die Gurte sich nicht lösten, sondern den Grafen am galoppierenden Hengst festzurrten. Die baumelnde Gestalt Feggets hing kopfüber von seinem Roß herab und  schleifte mit dem Kopf auf dem staubigen Untergrund. Wieder und wieder schepperte es, als die Hinterläufe des Rosses gegen die Rüstung stießen und Fegget durchrüttelten, bis ein Huf des Tieres sich letztendlich an einem Arm des Grafen verfing und das Pferd die Kontrolle verlor.

In einem einzigen Gewirr aus Beinen und Metall brach das bemitleidenswerte Tier mitten im schnellsten Galopp zusammen. Schreie gingen durch das Publikum, als das ungleiche Paar zu Boden ging, und grauenerfülltes Entsetzen stand in des Prinzen Gesicht geschrieben. Scheppernd und krachend und in einer Wolke aus Staub rutschten Pferd und Reiter weiter, bis sie nach einer Zeit, die wie die Ewigkeit anmutete, endlich zum Liegen kamen.

Eine blutige Spur zog sich über den Turniersplatz und endete an einem Knäuel aus Metall und Fleisch, der nichts Tierisches oder Menschliches mehr an sich hatte. Die schreiende Menge war verstummt, Grabesstille herrschte auf dem sonnenbeschienenen Hof. Niemand wagte es, auch nur einen Ton von sich zu geben. Irgendwann wurden einzelne Stimmen laut, Schluchzer oder verhaltenes Stöhnen.

Dynes, der Sturmauge inzwischen gewendet hatte, blieb vom Anblick seines einstigen Gegners nicht verschont. Kopfschüttelnd schob er sein Visier zurück, während die ersten Helfer über den Platz strömten, um zu retten, was noch zu retten war.

 

Talamà schickte sich an, die Fährte ihrer Beute nicht zu verlieren.

Sie konnten es sich einfach nicht erlauben, diesen Hirsch entkommen zu lassen, der sich hier, tief in der Singarischen Steppe, gezeigt hatte. Und das, obwohl niemand von der kleinen Gruppe, die aus fünf Jurakai bestand, tatsächlich daran geglaubt hatte, so weit entfernt von den Wäldern noch Nahrung zu finden.

Die kleinen, gedrungenen Bäume und das hüfthohe Gras waren einfach nicht der geeignete Lebensraum für solch große Geschöpfe, und ob es nun Zufall war oder Glück, jedenfalls folgten sie nun einem der mächtigsten Waldbewohner Rubens. Die Spur des Hirsches war nicht zu verkennen, die beiden Fährtenleser hatten es leicht, den geknickten Halmen und der zertrampelten Erde zu folgen. Talamà lief ein Stück weit hinter ihnen, ihre Armbrust geschultert und mit zusammengebundenen Haaren. Sie hasste es zwar, die Haare nicht offen tragen zu können, doch gerade bei der Jagd war es wenig vorteilhaft, wenn ein plötzlicher Windstoß die lange Mähne flattern ließ und einen verriet.

Normalerweise hätte sie niemals zugestimmt, als Teagar Jael’vre, das Stammesoberhaupt, sie bat, bei der Jagd zu helfen. Normalerweise hätte sie dankend abgelehnt und ihre Zeit mit der Valae verbracht, um sich immer tiefer in die Geheimnisse der Worte einweisen zu lassen, welche die alte Frau wie eine zweite Stimme beherrschte.

Doch dieser Sommer war alles andere als normal, und sie hieß die Jagd diesmal sogar willkommen, da sie Abwechslung und Ablenkung von Mandas brachte. Auf diese Weise mußte sie nicht ständig an ihn denken, wurde nicht andauernd an ihn erinnert. Die Zelte und Pfade, all die Jurakai um sie herum hatten sie fast verrückt gemacht, hatten sie sich wünschen lassen, daß sie wenigstens für ein paar Tage alleine sein könnte, oder doch zumindest für ein paar Stunden. Zwar war sie nun nicht allein mit den vier Jägern um sich herum, doch da kaum mehr als Augenkontakt gehalten und noch weniger gesprochen wurde, fühlte sie sich gnädigerweise ein wenig zufriedener.

Sie wußte, daß es nicht schwer sein würde, sich von Mandas loszureißen. Er hatte keine einzige Saite in ihrem Herzen berührt, hatte nicht einmal dessen Oberfläche gekitzelt. Allerdings hatte er andere Qualitäten vorzuweisen gehabt...

Nein, diese Gedanken führten zu nichts. Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte eingewilligt, die Jäger zu begleiten, doch wenn sie sich jetzt nicht zusammenriß, dann würde sie womöglich noch das Wild verscheuchen, vermutlich das letzte, das sie dieses Jahr noch finden würden! Auf leisen Sohlen folgte sie Jensai, der nur wenige Schritte vor ihr lief, sich langsam umdrehte und den Finger an die Lippen legte. Talamà gemahnte sich zur Ruhe, versetzte sich innerlich eine Ohrfeige für ihre Unvorsichtigkeit. Das Steppengras war bei weitem nicht so hoch, als daß es sie und ihren konfliktzerrissenen Körper verdeckt hätte, wenn es darauf angekommen wäre.

„Er ist ganz nah“ flüsterte Jensai und deutete auf einen Hain nur wenige Fuß vor ihnen. Talamà blickte angestrengt auf, doch ihre Augen erblickten nichts als wehende Halme und knorrige Bäume.

„Wo?“ fragte sie, doch der Jurakai hatte sich schon auf die Knie gestützt und wankte wie ein Frosch durch die Gräser. Ein Lachen unterdrückend tat die junge Frau es ihm gleich, obwohl ihre Beine schon nach wenigen Schritten in dieser unüblichen Haltung ihren Tribut forderten und sie Schmerzen spüren ließen. Talamà fluchte leise; Jensai drehte sich um und schenkte ihr ein wissendes Lächeln. Seine Hand fuhr erneut nach oben und zeigte direkt auf eine Lücke zwischen zwei Bäumen. Dahinter sollte sich also der Hirsch verstecken. Die Jurakai verzog die Lippen, mißachtete ihre Knie, die Morgen noch genug Zeit haben würden, sich zu beschweren, und stakste weiter.

Sie versuchte, die anderen Jäger auszumachen, doch bis auf Jensai konnte sie keinen von ihnen entdecken, was jedoch nichts zu bedeuten hatte. Auch Jensai verschmolz wie ein Chamälion mit seiner Umgebung, passte sich mit seiner laubbraunen Kleidung perfekt in die beige Umgebung ein.

Langsam umrundeten sie den Hain der Knorpelbäume, und jetzt kam auch der Hirsch in Sicht, der tatsächlich wie eine Zielscheibe im Grasland stand. Sie waren nun nah genug, um einen sicheren Schuß zu landen, doch Jensai wollte die gute Gelegenheit beim Schopfe fassen. Er schlich sich so nah, daß noch genug Zeit für einen zweiten Pfeil bleiben würde, sollte sein erster nicht ins Ziel finden. Seine Muskeln spannten sich, als er seinen Bogen hob, den angelegten Pfeil zurückzog und auf das Tier richtete, das sich noch immer nicht regte.

Aufgeregt trat Talamà einen weiteren Schritt vor, und in dem Moment stieß ihr Fuß gegen ein aus dem Boden ragendes Hindernis, und mit einem lauten Aufschrei ging sie zu Boden. Jensai, erschreckt vom Lärm, ließ den Pfeil unkontrolliert fliegen, und das Geschoß fuhr krachend in die Äste der Bäume ein, wo es endgültig verharrte.

Doch noch im selben Moment, in dem er den Pfeil losgelassen hatte, wußte der erfahrene Jäger, daß etwas nicht stimmte. Der Hirsch hätte bereits bei Talamàs hastiger Bewegung das Weite suchen müssen, hätte den Schrei der Jurakai gar nicht abwarten dürfen... und trotzdem stand er noch immer an Ort und Stelle, reglos wie eine aus dem Fels geschlagene Statue. Den Kopf gesenkt starrte das Tier geradeaus, auf einen Punkt, den weder Jensai noch Talamà oder einer der anderen Jäger einsehen konnte.

Weitere Köpfe tauchten nun um die Baumgruppe aus dem Gras heraus auf, einem jeden ein ungläubiger Blick ins Gesicht geschrieben. Talamà, von ihrem Sturz erholt, war die erste, die wieder zu Worten fand.

„Wieso... wieso läuft er nicht weg?“ fragte sie stirnrunzelnd. „Er müßte doch vor Angst schier rasen...“

„Das stimmt“ hauchte Jensai und nahm ihre Hand, zog sie näher zu sich heran. „Aber es kommt manchmal – sehr selten zwar, aber doch manchmal – vor, daß ein Tier nicht davonrennt, sondern wie leblos stehenbleibt und dem Tod ins Auge sieht.“

„Aber warum...“

„Oft geschieht es einfach, und niemand weiß, warum es passiert ist“ flüsterte der Jäger. „Aber... manchmal flüchten die Tiere nicht, weil... es etwas gibt, vor dem sie noch mehr Angst haben...“ Jensais Stimme wurde leiser, bis sie sich im Rauschen der Halme verlor. Talamà blickte ihm in die Augen, und sie sah, daß er noch mehr zitterte, als die Gräser im Wind es taten.

Sie holte tief Luft und betrachtete das große Tier, dessen Kopf gesenkt war, so daß das Geweih nach vorn zeigte, wie, um sich vor etwas zu verteidigen. Talamà blickte zu den anderen Jägern, doch keiner von ihnen regte sich. Keiner von ihnen sah sie an.

Nun, wenn keiner dieser harten Kerle den Mumm dazu hatte... dann würde sie sich ein Herz fassen müssen. Sie richtete sich auf und ging erhobenen Hauptes durch die Gräser auf den Hirsch zu, bereit, beim kleinsten Anzeichen einer Gefahr zu flüchten. Doch die Halme blieben ruhig, wiegten sich nur im Wind, wie ein endloses goldbraunes Meer.

Als sie den Hirsch fast erreicht hatte, fiel ihr etwas sonderbares auf... über dem Gras direkt vor dem Tier schienen kleine Wölkchen zu sein, schwarze Schatten, die schwebten. Bei näherer Betrachtung erkannte Talamà, daß es weder Wolken noch Schatten, sondern tausende von kleinen Fliegen waren, die sich dort in der Luft sammelten. Sie schritt nach vorn, zollte dabei dem großen Waldbewohner, dem sie bis hierher gefolgt waren, kaum Beachtung, bis sie die erste Wolke der Fliegen erreichte. Die kleinen Biester machten keine Anstalten, auseinanderzustieben, so wie die Jurakai es erwartet hatte, sie machten ihr nur kurz Platz, um anschließend wieder schwirrend aufzusteigen.

Der Blick der jungen Frau fiel auf den Grund für die enorme Fliegenpopulation. Brechreiz keimte in ihr, doch inmitten der Insektenwolke blieb sie stehen und drehte sich zu den Jägern um, die sie mit furchtsamen Augen betrachteten. Doch es schien keine Gefahr auszugehen von dem Ort, an dem Talamà stand, und so wagten sie sich aus ihren Verstecken hervor, um ebenfalls zu sehen, was den Hirsch veranlaßte, noch immer leblos vor den Bäumen zu verharren.

Talamà wandte ihnen den Rücken zu, um wieder auf das Etwas zu starren, das in den Gräsern lag und Ungeziefer anzog. Bei genauerem Hinsehen erkannte sie jetzt auch Blutschlieren, die sich über die Halme und die Erde zogen, doch sie waren schon alt, vertrocknet und braun. Auch das Objekt des Anstoßes wirkte nicht sehr frisch, war dafür umso abscheulicher.

Es war der Kadaver eines Wildpferdes, oder besser gesagt, das, was davon noch übrig war. Es schien nicht in zwei Hälften gerissen, sondern regelrecht zerfetzt worden zu sein. Verklebte Überreste des Kopfes waren etwas weiter Abseits auszumachen, und in unmittelbarer Nähe waren Beine und Teile des Brustkorbes zu finden. Das meiste Fleisch war bereits abgenagt, nur die Knochen ragten vielerorts noch aus der harten Masse, von der Sonne schon gebleicht und spröde.

Talamà ging weiter, am ersten Pferd vorbei, das auf bestialische Weise getötet worden war, und fand ein weiteres vor. Es war, wenn überhaupt möglich, noch schrecklicher zugerichtet als das vorherige, und die junge Frau sank zitternd auf die Knie und übergab sich ins Gras. Als sie endlich wieder aufsah, fiel ihr das getrocknete Blut in die Augen, und sie sank erneut zu Boden. Jensai trat hinter sie und legte seine Hand auf ihren Rücken, doch sie bemerkte es gar nicht. Niemand sprach ein Wort, während sie durch das Grasland gingen. Nur die Geräusche sich erbrechender Jurakai hallten über die Ebene.

Hinterher, als sie eine Umgebung von mehreren Wegminuten abgelaufen hatten, fanden sie die Kadaver von insgesamt acht Wildpferden, alle auf die gleiche grausame Weise zerrissen und verstümmelt. Niemand wagte es, die Leichname anzurühren oder sich ihnen auch nur zu nähern, aus Angst, daß das, was ihnen widerfahren war, sich übertragen könnte oder zurückkehren.

Später – viel, viel später – trafen die fünf Jurakai wieder bei der Weide ein, um zu berichten, was sie vorgefunden hatten. Den Hirsch hatten sie zurückgelassen.

 

Die Weide des Schlafes lag unruhig in den Winden des neuen Tages. Die mächtigen alten Stämme der Behausungen ächzten unter den stürmischen Launen der Natur, wenn erneut eine Bö über Eldraja’aro fegte und altes Laub aufwirbelte und auf den Wegen verteilte. Die Blätter tanzten in kleinen Wirbeln auf dem Boden, verfingen sich in den Ritzen der Sa’e und umspielten die Gestalten zweier Jurakai, die den Weg zu Indigos Heim beschritten. Einer der beiden war zutiefst in Gedanken verloren, als er durch das heimatliche Dorf ging. Seine Nachdenklichkeit war auch zum Teil Sorge und böse Vorahnung, und er schüttelte ab und zu den Kopf über sein Verhalten.

Den ganzen Weg über schwieg Nachtfalke, auch wenn sein jüngerer Gefährte gerne mehr Einzelheiten und Details über die Reise erfahren hätte. „Alles zu seiner Zeit“, hatte der Alte verwiesen und war in stummer Versunkenheit weitergelaufen. Sein Haupt gesenkt und den Blick auf den Boden gerichtet, lief er doch den kürzesten Weg zum Sa’e, so als ob er die äußeren Sinne gar nicht brauchen würde. Indigo spürte, daß sich tief in der Person, die er seinen Freund nannte, zahlreiche Wunder und Dinge versteckten, die noch nicht ans Tageslicht gelangt waren. Er hoffte, vieles davon noch kennenlernen zu dürfen.

„Wir müssen packen und uns bald auf den Weg machen“, sagte Nachtfalke unvermittelt, als sie das große Sa’e betraten. „Uns bleibt nicht viel Zeit. Es könnten Tage zählen, wenn meine Vermutungen stimmen.“ Nachtfalke sah auf, und in seinen Augen blitzte ein Funkeln von Stärke und Kraft. „Wenn überhaupt etwas helfen kann... denn falls ich recht behalten sollte mit meinen Vermutungen... dann wäre es vergeblich, den Hochkönig aufzusuchen. Trotzdem müssen wir es versuchen.“ Die letzten Sätze hatte er mehr zu sich selbst gesagt, in immer leiser werdendem Tonfall vor sich hin gemurmelt.

Indigo legte seinen Kopf schief und studierte das Gesicht des Alten eingehend. „Du hast mir nicht verraten, was deine Vermutungen sind, Falke. Ich würde auch das gern wissen, bevor wir aufbrechen.“

„Nein, Indigo. Dafür ist es noch zu früh. Viel zu früh. Ich habe nur etwas berechnet und ein paar Gedanken angestellt. Um etwas genaueres zu sagen, brauche ich mehr Zeit und vor allem mehr Informationen. Diese paar Fetzen über vernichtete Siedlungen und brennende Städte helfen mir nicht viel weiter. Ich muß dich enttäuschen, aber noch kann ich dir nicht alles erzählen. Noch nicht, junger Freund.“

Zornig wandte sich Indigo von seinem Lehrmeister ab. Wunderbar! Nachtfalke erzählte ihm von Dingen, die nichts Gutes zu verheißen hatten, nahm ihn auf eine Reise mit, deren Ausgang alles andere als gewiß war - und trotzdem wollte er ihm nicht einmal sagen, mit welchen Mächten sie sich seiner Meinung nach einließen! Es war unmöglich, den alten Kauz vollkommen zu verstehen!

„Ich werde die nötigsten Dinge zusammensuchen“, murmelte er und begab sich in eine andere Ecke des Sa’e.

Besorgt sah Nachtfalke auf. Der verwirrte Junge tat ihm leid, doch manche Dinge konnte er ihm jetzt noch nicht mitteilen. Sie waren ihm selbst noch nicht gänzlich klar, und er durfte einfach niemanden mit unhaltbaren Vermutungen belasten. Auf der Karte seines Wissens gab es viel zu viele weiße Flecken...

Der alte Jurakai besah sein Hab und Gut skeptisch und mit einigermaßen unzufriedenem Ausdruck. „Indigo, ich habe etwas in meinem Sa’e vergessen“ sagte er zu seinem Schüler gewandt. „Ich werde es holen gehen. Wenn ich zurückkomme, denke ich, werden wir soweit sein, aufzubrechen. Wir benötigen nicht viel - vielleicht einen Bogen, ein wenig Proviant, ein paar Angelhaken und ein paar Waffen. Zieh dir dicke Kleidung an, denn je höher wir ins Nordland vordringen, desto schneller werden die Temperaturen fallen, vor allem in diesem kalten Sommer. Benutze hauptsächlich braune und graue Kleider, denn ein helles Grün wäre viel zu auffallend in den meisten Gegenden. Denk auch daran, Dinge der Sauberkeit einzustecken: eine Bürste oder einen Schwamm vielleicht. Wir wollen doch nicht anfangen zu stinken, wenn wir den königlichen Hof besuchen, oder? Ach ja, und vergiß nicht, etwas zur Wundenbehandlung mitzunehmen. Um alles übrige werde ich mich kümmern.“

Mit diesen Worten verließ der Alte die Baumbehausung und machte sich rasch auf, seine eigene Wohnung aufzusuchen. Indigo blieb zurück mit einer Vielzahl von Dingen, die ihm im Kopf herumschwirrten, und er versuchte, möglichst schnell möglichst viel zusammenzusuchen, bevor ihm etwas davon wieder entfiel.

Nach einiger Zeit kehrte Nachtfalke zurück. Er sah so aus, wie Indigo ihn schon viele Male hatte gehen sehen, wenn der Jurakai auf eine neuerliche Reise aufbrach: Sein Wams war vollgepackt mit den verschiedensten Utensilien, und seine dicken Kleider schienen dem jungen Jurakai etwas unangemessen für den späten Hochsommer. Sein Gesicht, wettergegerbt und roh, jedoch nicht einer gewissen Sanftheit entbehrend, war zu einer Maske der grimmigen Entschlossenheit verzerrt.

„Sag deinem Heim Lebewohl, Junge. Es wird für lange Zeit das letzte Mal sein, daß du es zu sehen bekommst. Wenn du dich noch von irgendjemandem verabschieden möchtest in der Weide, dann ist jetzt der passende Zeitpunkt dafür gekommen. Ansonsten denke ich, daß wir aufbruchbereit sind, oder?“

Indigo verzog die Lippen zu einem Schmollmund und betrachtete das elterliche Sa’e mit Wehmut. „Es ist in der Tat nicht leicht, loszulassen. Aber da ich es in nicht allzu langer Zeit wiedersehen werde, und zwar um viele Erfahrungen reicher, sage ich nur: Bis bald. Alle meine Freunde sind beim Volk, das in den Tälern auf der Jagd ist, oder aufgebrochen, um dem König Nachricht zu erstatten, ebenso wie ich es jetzt tun werde. Nein, ich lasse keine Gedanken zurück in Eldraja’aro. Dieses langweilige Dorf mit seinen langweiligen Bewohnern lasse ich hinter mir zurück. All mein Denken ist auf unsere Aufgabe gerichtet.“

Nachtfalke nickte lobend. „Tapfere Worte, junger Freund. Dein Verhalten verdient Anerkennung, wenn es tatsächlich so ist, wie du sagst. Aber ich verspreche dir: Irgendwann wirst du dir wünschen, wieder hier zu sein, am Feuer zu sitzen und nichts anderes zu tun als mit Freunden zu sprechen und nachzusinnen. Außerdem solltest du die Stadt nicht vergessen und hinter dir lassen, Indigo. Immerhin unternehmen wir diese Reise auch dafür, um die Weide vor einer - möglicherweise - drohenden Gefahr zu beschützen. Das, was hinter deinem Rücken bleibt, ist ebenso wichtig wie die Dinge, die vor dir liegen.“

Nachtfalke schulterte eine Tasche, hängte seinen Bogen über den Arm und blickte Indigo aufmerksam an. „Also los.“

„Also los“, bestätigte der Junge und folgte dem Alten, der mit schnellem Schritt voranging.

Wieder traten sie hinaus in den beginnenden Sturm, und wieder wurde Indigo auf unangenehme Weise an seinen Traum erinnert. Hüte dich vor dem dunklen Blut... Er schüttelte sich und verwarf die schlechten Gedanken schnell. Es bestand kein Grund zur Sorge! Endlich hatte er, was er sich wünschte. Er konnte Ruben erkunden, und das zusammen mit Falke, seinem besten Freund und seinem Lehrer. Von Kindesbeinen an hatte er ein tiefes Vertrauen zu dem alten Jurakai aufgebaut, mehr sogar als zu seinen gleichaltrigen Freunden, ja, er vertraute ihm sogar mehr als seinen eigenen Eltern! Falke hatte ihm alles beigebracht, was er über den Wald und seine Bewohner wissen mußte. Er hatte ihn Lesen und Schreiben gelernt, und einmal hatten sie gemeinsam einen Markt der Manur besucht, um Kräuter und Zutaten einzukaufen, die Falke benötigte. Er hatte ihm den Umgang mit dem Bogen gezeigt und ihn gelehrt, die Wendigkeit eines Schwertes zu nutzen. Und er hatte seinen Lehrer niemals enttäuscht, obwohl der Alte sich oft zu lästerlichen Bemerkungen hinsichtlich Indigos Können hinreißen ließ. Doch es waren nur neckische Spielereien, aufstachelnd, um den Jurakai anzutreiben.

Indigo seufzte. Er liebte diesen alten Kauz, der ihm - jedenfalls solange er nicht auf Reisen war - immer all seine Zeit zur Verfügung gestellt hatte. Und nun brachen sie auf, um ein gemeinsames Abenteuer zu bestehen!

Sie verließen Eldraja’aro durch das Westtor und vorbei an den Wissenden Gräsern, den Wächtern der Stadt. Indigo wußte nicht, was genau die Gräser waren, aber er hatte sie schätzen gelernt. Sollte es vorkommen, daß ein Eindringling versuchte, die Stadt zu betreten, begannen die Gewächse zu wogen und ein Geräusch zu erzeugen, das wie Wellen klang, die an eine Klippe klatschten. Das Rauschen war im ganzen Dorf zu hören, und selbst die Wipfel der höchsten Bäume fielen in das Zittern ein. Er vermutete zu Recht, daß ein Zauber auf den Gräsern lag, doch er wußte nicht, von welcher Art er wohl sein mochte. Er war noch niemals einem Zauberer oder etwas ähnlichem begegnet. Die Worte stellten leider ein Buch mit sieben Siegeln für den Jurakai dar, auch wenn er gern mehr über diese Kunst erfahren hätte. Er fragte sich, ob Falke sich mit diesen Dingen wohl besser auskannte, sah auf und bemerkte, daß dieser schon ein ganzes Stück vorauseilte. Indigo war so in Gedanken versunken gewesen, daß er mehrere Fuß zurück lag. Mit ein paar schnellen Schritten setzte er dem Alten nach, bis sie wieder auf gleicher Höhe gingen. Ihr Weg führte sie über die laubbefallenen Pfade bergab, immer tiefer in den Weilerwald hinein, der sich über eine Distanz von so vielen Meilen erstreckte, daß selbst ein Vogel lange Zeit brauchen würde, um über ihn hinweg zu fliegen. Eine seltsame Ruhe lag auf den Wanderern, ein Gefühl der Stille, das jedoch nichts Übles verhieß. Es war eher eine freudige Aufbruchstimmung, die Indigos Gemüt schon sehr bald veranlaßte, ein Lied vor sich hin zu pfeifen. Mit einem wohlklingenden Summen fiel Falke in das Lied ein, und so spazierten sie in die Wälder. Zwei Wanderer, die dem ungewissen Schicksal entgegengingen, das Himmelfeuer für sie bereithielt.

Viele Schritte hinter ihnen, im feuchten, dunklen Laub verborgen, blinzelten Augen, die den beiden nachspähten. Ein leises Rascheln erklang, und das fremde Geschöpf befand sich in einer neuen Deckung, ein kleines Stück dichter an den beiden Jurakai. Es hatte schon einmal den Fehler begangen, sich ungeschützt in ihre Nähe zu wagen. Dieses Mal jedoch wappnete sich das Wesen sorgfältig und verbarg sowohl seine Gedanken als auch seine Anwesenheit vor den Jurakai, während es ihnen unauffällig folgte.

 

„Ich kann Euch nicht anklagen, Sir Arathas“ begann König Westfald, doch in seinen Augen funkelte Zorn. „Es war nicht Eure Schuld, daß Fegget, dieser Narr, sich an sein Pferd gurten ließ.“

Leonart, der neben dem Thron seines Vaters stand, wollte protestieren, doch Westfald fuhr fort: „Nichtsdestotrotz habt Ihr Glück gehabt, daß Fegget noch lebt... auch wenn er selbst keine Freude daran finden wird.“

Dynes starrte zu Boden. „Herr.“

„Verflucht seid Ihr, Dynes!“ fuhr Prinz Leonart ihn an und wollte sich auf ihn stürzen. Die starke Hand Westfalds umschloß Leonarts schwächlichen Arm und zerrte ihn zurück.

„Verflucht seid Ihr!“

Dynes blickte gleichmütig auf. „War ich es etwa, der mich im Turnier sehen wollte? Und war ich es, der Graf Fegget gegen mich aufstellte?“

„Wegen Euch wird mein Freund nie wieder laufen können!“ schrie der Prinz aufgebracht, doch noch immer hielt sein Vater ihn fest. „Er wird sein rechtes Bein verlieren!“

„Noch nie gab es solch einen Vorfall bei den Spielen“ sagte Westfald. „Natürlich bleiben Verletzungen nicht aus, und auch diese Katastrophe wird nichts daran ändern, daß das Turnier weitergeht. Ihr allerdings werdet uns verlassen, Sir Arathas. Ihr tragt keine Schuld an dem Unglück, doch die Leute werden es so empfinden. Für sie werdet Ihr es sein, der Graf Fegget vom Pferd stürzte. Ihr werdet ohne Verzögerung aufbrechen, Dynes. Wartet nicht bis heute Abend. Nehmt, was Ihr braucht, und macht Euch auf den Weg nach Yark. Und noch etwas...“ Westfald beugte sich vor. „Ich werde Euch nicht den Gefallen tun, Euch von weiteren Turnieren zu befreien. Beim Fest der Sommerwende werden alle Ritter gegeneinander antreten. Auch Ihr werdet bei den nächsten Spielen wieder dabei sein, Sir Arathas.“

Dynes nickte. „Ja, Herr.“

Der Prinz schnaubte, riß an seinem Arm, doch der starke Griff seines Vaters ließ ihn nicht los. „Ich werde Euch...“ schnaubte er wutentbrannt, aber Westfald fiel ihm ins Wort.

Niemand wird irgendetwas! Auch du nicht, Leonart.“ Er packte fester zu, und schmerzerfüllt drehte der Prinz sich um, und Vater und Sohn blickten sich in die Augen.

Niemand, Leonart. Du hast mich verstanden.“

Eine Sekunde lang zögerte der Prinz, dann erschlaffte sein Zerren, und er nickte. „Natürlich.“

„Gut. Und Ihr, Dynes... macht Euch auf den Weg. Und vergeßt nicht, zu berichten. Djenhalm ist nicht umsonst beunruhigt. Ich will wissen, warum die Bauern sich auflehnen, Dynes. Das letzte, was ich gebrauchen kann, ist ein Aufstand im Äußeren Reich. Geht jetzt.“

„Ja, Herr.“ Dynes wandte sich ab, sah die zusammengeballte Faust Prinz Leonarts nicht mehr, die sich ihm hinter seinem Rücken entgegenstreckte und Vergeltung forderte.

„Ich werde Euch töten, Dynes“ flüsterte Leonart so leise, daß selbst sein Vater die Worte nicht verstand. Dann war die Gestalt Sir Arathas` durch die Türen des Thronsaals getreten, und endlich gab Westfald den Arm seines Sohnes frei.

Zurück in seinen Gemächern packte Dynes ein, was er mitgebracht hatte – nicht gerade viel – und nahm Abschied von den wenigen Personen, die er bei seinem kurzen Aufenthalt kennengelernt hatte. Sturmauge fand er in seinem Stall, befreit von all den Glitzerdingen des Turniers und gesattelt. Er streichelte das Roß, das seinen Kummer spüren konnte, und saß auf.

„Es geht nach Hause, Junge.“ Arathas straffte die Zügel, und der Hengst trabte langsam aus den Ställen, auf das große Burgtor zu. Er sah sich noch einmal um, blickte auf die Mitte des Hofes, wo bereits zwei Ritter feierlich Stellung bezogen, um ihre Kraft und Geschicklichkeit zu messen. Von den Tribünen hallte schallender Applaus, und Dynes verzog das Gesicht, als er unter all dem Lärm die Trompeten vernahm, die den Beginn des Wettkampfes einläuteten.

So schnell also vergaßen die Leute, ging es ihm durch den Kopf. Es war vielleicht zwei, drei Stunden her, daß Fegget fast zu Tode getrampelt wurde, doch die Erinnerung der Menge war wie ein Sieb, ließ einfach alle Gedanken, die die heitere Fröhlichkeit des Tages verdrängen konnten, hinweggleiten. Er schüttelte den Kopf. Dynes gehörte zu den Bauernhöfen, den Siedlungen im Äußeren Reich. Dieses Burgvolk, all diese Städter, die in Neru wohnten und die Regionen, die außerhalb der Königsstadt lagen, nur müde belächelten...

Er verwarf die Gedanken und spornte sein Pferd an, um diesem unangenehmen Ort endlich zu entfliehen. Seit dem heutigen Tage hielt er noch mehr Schlechtes für ihn bereit, als er sich bei der Anreise hätte erträumen lassen. Sturmauge trabte durch das gewaltige Tor der Hochburg, und seine Hufe pochten auf Holz, als er die Zugbrücke überquerte.

Noch während sie sich auf der Brücke befanden,  vernahm Dynes ein zweites Klopfen hinter sich, das Geräusch eines ihm folgenden Pferdes. Leonart! war Dynes erster Gedanke, doch ein rascher Blick bewies die Falschheit seiner Vermutung. Es war nur der junge Paves, der ihm auf einem weißen Schimmel nachsetzte. Dynes zügelte Sturmauge und wartete, bis der Knabe ihn eingeholt hatte.

„Haltet ein!“ rief Paves schon von Weitem, und erleichtert sah er, wie Sir Arathas Sturmauge wandte.

„Wartet auf mich, bitte.“

Dynes hob fragend die Brauen. „Bist du beauftragt, mich zurückzuholen? Wenn das der Fall sein sollte, dann reite wieder hinein und berichte, daß ich schon über alle Berge war.“

Der Junge schüttelte schnell den Kopf. „Nein, Herr. Es ist ein anderes Anliegen.“

„Dann sprich“ knurrte Dynes. „Ich will nicht länger hier verweilen als unbedingt notwendig.“

„Ich... ich bitte Euch, mich mit Euch zu nehmen, Herr.“

Dynes musterte den Burschen, dessen rotschöpfiger Schädel einen mitleiderweckenden Ausdruck zur Schau trug. Anscheinend meinte er es ernst.

Der Junge wurde rot. „Ich kann hier nicht bleiben, Herr... ich habe keinen Platz mehr, an den ich gehöre.“

„Du gehörst in die Burg, Junge. Reite heim. Und bring' das Pferd zurück. Ich verwette all meine Ländereien, daß es nicht dein eigner Gaul ist!“

Betrübt verneinte Paves. „Ich kann nicht zurück, Herr. Ich war Euer Knappe beim Turnier. Ich bin in den Augen der Leute ebenso Schuld an Graf Feggets Unfall wie Ihr! Wenn ich bleibe, werden die anderen Knappen mich...“

Dynes kniff die Augen zusammen, sah den Knaben aus schmalen Schlitzen an. „Sie werden was?“

„Ich werde sein wie ein schwarzes Schaf in einer Herde Weißer...“ Traurig wie ein junges Hündlein sah Paves in Dynes Augen. Doch zu seiner Enttäuschung entdeckte er kein Mitleid in ihnen. „Ich bitte Euch nur, mich mit Euch zu nehmen.“

Dynes schien die Frage zu überdenken, kam dann zu einem Entschluß.

„Ich kann dich nicht mitnehmen, Junge. Ich habe keinen Platz für dich. Es tut mir leid, aber du wirst dir selbst etwas suchen müssen, wo du bleiben kannst. Ich weiß, diese Welt ist nicht immer gerecht, aber dafür trage ich keine Verantwortung.“ Er zog Sturmauges Zügel, und das Pferd bäumte sich wiehernd auf. „Und bring' den gestohlenen Gaul zurück!“

Sturmauges Hufe knallten auf den Boden, und zuerst trabend, dann im rasch schneller werdenden Galopp, entfernte sich Dynes.

Alleine blieb Paves auf der Zugbrücke stehen, fröstelnd im kalten Wind.

 

Die erste Nacht der Reise senkte sich über Indigo und Nachtfalke herab, während sie versuchten, im Dunkeln einen Weg zu finden. Das Gestrüpp schlug den Jurakai ins Gesicht, und bald schon hatten die beiden blutige Striemen und Kratzer an Stirn und Händen. Kein Stern ließ sich am pechschwarzen Firmament blicken, nur die durchdringende Kälte des Abends war zu spüren. Indigo verkniff sich jeglichen Kommentar und erkämpfte tapfer einen Weg durch das Unterholz. Obwohl er genau wußte, daß sie irgendwo falsch abgebogen sein mußten, wollte er doch keine Worte des Unbehagens aussprechen, da er selbst den Weg auch nicht gekannt hätte. Seit Jahren hatte er den Weilerwald in der Umgebung Eldraja’aros durchstreift, doch in der Nacht gewannen die Bäume einen zweiten Schatten, die Büsche wurden dichter und das Gras höher. Verzweifelt versuchte sich der Jurakai an den Wald zu erinnern, den er von Jugend an kannte und liebte. Aber die Hänge und Lichtungen schienen seltsam unvertraut, muteten feindselig an und fremd. Wenn es einen einfacheren Weg durch den Wald geben sollte - und den gab es mit Sicherheit, Indigo war ihn schon tausende von Malen abgelaufen - dann verschwand er des Nachts, hinterließ nur wildes Gestrüpp und peitschende Äste. Kein Mond war zwischen den Blättern der Baumgiganten zu sehen, kein Licht fiel durch die Decke aus dunklem Grün.

Angst legte sich über Indigos Gedanken, eine unwirkliche und ungreifbare Angst, wie sie in Alpträumen herrscht, aus denen man nicht erwachen kann. Unsanft streiften die knorrigen Äste das Gesicht des Jurakai, die leblosen Schatten riefen Erinnerungen an die Schrecken seiner Kindheit wach. Ihm fiel eine der Geschichten wieder ein, die seine Mutter ihm einst erzählte, als er noch kleiner war: Alten Erzählungen zufolge hauste tief im Weilerwald ein Wesen, das sich selbst Munpart nannte. Munpart war eine fellbedeckte Kreatur, katzenartig und raubtierhaft, mit tief in den Höhlen sitzenden, glimmenden Augen. Nachts zog sie umher, um Beute zu finden, die sie erst quälen und dann langsam töten würde. Munpart beherrschte die Sprache der Alten, die Sprache Rubens, mit der jeder Bewohner des Landes aufwuchs. Doch das haarige Wesen hatte die Worte von den Kindern erlernt, die ihm in die Falle gegangen waren, und es sprach nur die wenigen Sätze und Silben, die die Kleinen in ihrer Furcht geschrien hatten. So bestand Munparts gesamter zischender Wortschatz aus Hilferufen und Angstschreien, doch aus der Ferne, wenn die Kreatur sie beim Jagen murmelte, klangen sie vertraut und bittend. Viele Kinder waren Munpart schon in die Fänge gelaufen, indem sie seltsamen Stimmen gefolgt waren, die sie tief aus dem Wald vernahmen. Dann, wenn man sich nah genug heran begab, um das Murmeln aus der Nähe zu hören, konnte man endlich erkennen, was die Worte bedeuteten. Die leisen Hilfeschreie, die mitleiderweckend durch die finstre Nacht hallten, lockten die Opfer nur noch tiefer in das Dickicht, führten sie direkt in Munparts Klauen. Vor dem grauen Weg, hatte seine Mutter Indigo immer gewarnt, solle er sich in Acht nehmen. Die Äste dort würden versuchen, nach einem zu greifen, und ein unstetes Flüstern würde in der eisigen Luft liegen. Und dann, wenn die sonderbaren Hilfeschreie plötzlich verstummten, würden zwei helle Flammen die Nacht erhellen, die Augen des Monsters, und das vernarbte, fellige Gesicht Munparts würde einen durch die Zweige anblicken...

Indigo schauderte. Er fragte sich, warum seine Erinnerung ausgerechnet diesen Zeitpunkt wählte, um längst vergessene Märchen wieder heraufzubeschwören. Doch zu seiner Erleichterung lichteten sich die dichten Büsche vor ihm, und glücklich stolperte er hinter Nachtfalke drein, der eine Lichtung gefunden hatte. Der Alte blieb stehen, um in der Luft zu schnuppern, dann nickte er unmerklich.

„Wir bleiben hier“, stellte er fest und begann, Äste und trockene Blätter zu sammeln. „Hilf mir bitte, Indigo. Ich möchte ein Feuer entfachen, um uns zu wärmen. Zudem hält es die Geschöpfe des Waldes davon ab, uns näherzukommen. Die meisten von ihnen fürchten das Feuer.“

Indigo zuckte zusammen. Die meisten von ihnen fürchten das Feuer, wiederholten seine Gedanken. Die meisten von ihnen...

Er atmete durch und schüttelte den Kopf. Auf diese Weise würde er Nachtfalke bestimmt keine Hilfe sein. Er musste sich zusammenreißen.

Gemeinsam sammelten sie einigermaßen trockenes Holz und schichteten es in der Mitte der Lichtung zu einem Haufen auf. Mit ein wenig Sägemehl und Spänen ließen die feuchten Äste sich entzünden, und es wurde rasch wärmer. Indigo setzte sich vor die Flammen, rieb sich die Hände und genehmigte sich ein oder zwei Züge aus einem Weinschlauch. Wie lang die Strecke war, die sie heute zurückgelegt hatten, konnte er beim besten Willen nicht sagen. Bei Dämmerung war ihm der Wald bereits seltsam fremd und eigen vorgekommen, und bei Einbruch der Nacht hatte er die Orientierung vollends verloren. Nachtfalke hatte nicht viel gesagt, und so hatte der junge Jurakai sich schweigend eine Schneise durch das Unterholz geschlagen, in der Hoffnung auf baldige Rast.

Jetzt konnte er vielleicht ein Gespräch mit dem alten Waldläufer anfangen, und so setzte er sich neben seinen Freund und bot ihm den Weinschlauch an. Nachtfalke winkte ab und rutschte näher ans Feuer.

„In den ersten Nächten möchte ich gern wachsam bleiben, Indigo. Wer weiß, ob uns jemand oder etwas gefolgt ist... ich will meine Sinne beisammenhalten, wenn du das verstehen kannst. Doch ich wäre dir dankbar, wenn du mir den Wassersack reichen würdest.“

Wie gebeten reichte Indigo seinem Lehrmeister den Sack, den sie in der Weide des Schlafes mit Wasser gefüllt hatten. In wenigen Tagen würden die eingepackten Vorräte aufgebraucht sein, und sie würden nach Flüssen oder Seen Ausschau halten müssen, um ihren Durst zu stillen.

„Falke, ich möchte dich etwas fragen.“ Die Flammen erhellten Indigos Gesicht und ließen sein kurzes, schwarzes Haar rötlich erscheinen.

„Um was geht es?“ fragte Nachtfalke, der genau wußte, worum der Jurakai ihn bitten wollte.

„Ich würde mich sehr über eine Geschichte freuen. Es muß auch keine besonders lange sein“ beeilte er sich hinzuzufügen. Sein fragendes Gesicht zauberte ein Lächeln auf die herben Züge Nachtfalkes.

Der ältere Jurakai senkte den Kopf. „Was für eine Geschichte hast du dir vorgestellt, Indigo? Etwas über Weißklaue und seinen schlechten Bruder Grauseele? Du weißt, daß ich diese Erzählungen sehr gern mag. Sie tragen viel Weisheit in sich.“

„Nein, eigentlich nicht“ meinte Indigo sacht, da er seinen Freund nicht bedrängen wollte. „Ich würde lieber etwas hören über irgendeine Schlacht von früher, in der du zugegen warst. Oder vielleicht etwas ähnliches.“

Nachtfalke rührte mit einem langen Stock in der Glut, und Funken stoben vom Feuer auf. „Ja, das dachte ich mir. Am liebsten magst du die Geschichten, in denen Blut fließt und die Leute sterben wie die Fliegen. Doch diese Erzählungen rühmen niemanden, Indigo.“

„Du versäumst nie, mich darauf hinzuweisen, Falke“, lachte der Jurakai leise. „Und trotzdem wäre ich erfreut über eine Geschichte des Krieges und des Kampfes.“

„Nun gut, wenn das denn dein Wille ist. Ich hoffe nur, du wirst irgendwann verstehen, daß nichts Gutes in den Krieg hineingeht, und nichts Gutes aus ihm kommt. Bis dahin wirst du mich wohl mit deinen Fragen über meine Vergangenheit quälen, schätze ich.“

Insgeheim lachend machte Indigo es sich in der Nähe des Feuerplatzes bequem, gerade soweit abseits, daß ihn die Flammen einerseits wärmten, andererseits aber sein Gesicht nicht vor Hitze glühte. Als er eine bequeme Position gefunden hatte, gähnte er herzhaft und bat den alten Jurakai, doch endlich anzufangen.

„Nun, habe ich dir schon von der Schlacht an der Hochburg erzählt? Von der Königsschlacht?“ erkundigte sich Falke und brachte seinen alten Körper in eine angenehme Lage. Die Stille Indigos deutete er als Verneigung und überlegte, wo er am besten anfangen könnte.

„Es war vor vielen hundert Sommern, und meine Erinnerung ist auch nicht mehr die beste. Es war eine Zeit, als es noch keinen Königlichen Hof gab, noch kein Inneres Reich und noch kein verzwicktes Werk aus Regeln und Verhaltensweisen, denen man am Hofe Folge zu leisten hat. Damals hatte der König der Manur einen Krieg mit den Jurakai angefangen, denn er war von dem Gedanken besessen, daß wir die ergiebigeren Felder und schöneren Weiden besaßen. Das Volk scherte sich nicht weiter um diese Behauptung, da die Manur uns in keiner Weise gefährlich werden konnten - das dachten wir zumindest. Ihre Bauernhöfe bedeckten zwar bereits die Hochländer und die Ausläufer der nördlichen Gebirge sowie den gesamten Westen, doch die Jurakai machten sich weiter nichts aus dieser Tatsache. Selbst ich, und ich muß gestehen, daß dies eine Dummheit ohne Gleichen war, schenkte den aufstrebenden Manur keine Beachtung.“ In die Erinnerung versunken blickte Nachtfalke in das lodernde Feuer. Es war beruhigend, den Flammen zuzusehen... eine solche Macht steckte in ihnen, sie konnten sich von fast allem ernähren, was auf ihrem Weg lag. Und doch konnte man diese Macht bändigen, zügeln, für sich verwenden. Auf der einen Seite war das Feuer gefährlich, auf der anderen Seite aber so anmutig und wunderschön anzusehen. Man konnte es entweder lieben oder hassen, doch es kam im Grunde genommen auf das Gleiche heraus...

„Falke“, gähnte Indigo müde „bist du eingeschlafen?“ Er sah sich nach seinem Freund um, der stumm in das Feuer blickte und dann den Kopf schüttelte, als wolle er die Hitze vertreiben.

„Nein... nein. Ich war nur in Gedanken versunken. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, der Fehler der Jurakai. Wir schenkten den Manur also keine Beachtung. Obwohl die mordenden Scharen des Menschenkönigs weiter in unser Land vordrangen, als wir eigentlich hinnehmen konnten, erfolgte kein Gegenschlag von unserer Seite. Nur unsere... Verwandten wehrten sich mit großem Widerstand. Wir—„

„Die Shat’lan, Falke?“ unterbrach Indigo aufgeregt. „Unsere Verwandten?“

„Ja“, bestätigte der Alte widerstrebend. „Entfernte Verwandte. Selbst ich weiß nicht viel über dieses Volk, trotz meiner zahlreichen Reisen. Seit vielen, vielen Sommern nun bin ich schon keinem von ihnen mehr begegnet. In den Sagen und Legenden der Manur sind sie bloß noch Schatten, und es heißt, sie wären ausgerottet worden. Wie die Drachen vertrieben, obwohl man noch eher einen Drachen antrifft als einen der Shat’lan. Sie sind eine seltsame Rasse. Früher, lange vor meiner Zeit, nannten sich unsere Völker einmal „Brüder“. Irgendwie gingen die Linien jedoch auseinander, und das Band der Einigkeit riß. Seitdem ist nicht mehr viel über diese Wesen bekannt, die uns doch sehr ähneln. Aber ich kann nicht glauben, daß sie tatsächlich ausgerottet sein sollen. Auch wenn ich den letzten Shat’lan vor mehr als... sechzig Sommern gesehen habe, noch vor deiner Geburt, Indigo. Ihre Rasse ist sehr unterschiedlich von der unseren, Indigo. Wie gesagt, führten sie keinen Frieden im Schilde mit den Manur. Wo die Jurakai freiwillig zurücktraten, kämpften die Shat’lan erbittert um ihre Gebiete. Und ich bewundere ihre Stärke, muß ich zugeben. Sie haben niemals nachgegeben. Als die Manur in unsere Länder einfielen, verloren wir viele unseres Volkes, da wir nicht vorbereitet waren. Den Shat’lan jedoch erging es nicht so. Sie waren kampfbereit und hielten ihre Stellung gegen die menschlichen Eindringlinge.“

„Aber was war mit dieser Schlacht am Königlichen Hof, von der du erzählen wolltest, Falke? Die Geschichte der Manur ist mir bekannt: Du selbst hast sie mir oft erzählt, als ich noch ein Kind war.“

„Du bist noch immer ein Kind, Indigo. Auch wenn du sehr schnell erwachsen wirst.“

Die Worte ließen ein angenehmes Gefühl der Freude im jungen Jurakai keimen. „Ja“, antwortete er, „aber was war mit dem Hof?“

„Nun, dann überspringe ich eben den Teil der menschlichen Eroberungszüge, wenn du willst. Obwohl sie ein interessantes Detail sind... ich werde dir die Geschichte später einmal ausführlicher erzählen. Um auf den Hof zu sprechen zu kommen... dieser Ort inmitten des Inneren Reiches war der letzte, der noch von den Jurakai gehalten wurde. Die Hochburg wurde nicht von den Menschen errichtet. Sie ist eine Festung, die schon vor langer, langer Zeit erbaut wurde durch die Hand der Jurakai. Zur besagten Zeit lebten dort viele Generationen des Volkes beieinander, und die Stadt wurde verteidigt von den besten Kriegern unserer Rasse. Da wir zu spät erkannten, was ein Teil der Manur geplant hatte, war der Hof umzingelt von Menschen, und nur diese kleine Garde aus Jurakai war, genau in ihrer Mitte, übrig geblieben, um zu verteidigen, was noch zu verteidigen war. Ich war einer der Eingeschlossenen - und mit mir die größten und stärksten Krieger unseres Volkes. Auch dein Vater befand sich in der Burg, mußt du wissen. Ich traf ihn dort zum ersten Mal. Er war noch ein Welpe, feucht hinter den Ohren und erpicht auf den Kampf. Nachdem die ersten Wogen der Menschen gegen die Außenmauern brandeten, merkte er schnell, wie verabscheuenswert der Krieg tatsächlich war. In der Nacht, in der seine eigenen Eltern, deine Großeltern, Indigo, in der Schlacht getötet wurden, schwor er sich, nie wieder eine Waffe zu berühren, falls er den Kampf überleben sollte. Bis heute hat er seinen Schwur gehalten.“

„Wie habt ihr den Krieg überstanden, Falke? Und was hast du während der Belagerung getan?“

„Ich? Ich verabscheue den Kampf zwar, aber ich weiß doch, wie notwendig er manchmal auch sein kann. Ich kämpfte mit den Manur, und glaube mir, ich übte Vergeltung für jeden meiner gefallenen Freunde und Verwandten. Als dein Vater und ich ausrückten - wir waren ein gefürchtetes Paar - stoben die Reihen der Manur auseinander wie ein gespaltener Holzkeil. Mit ihrer kurzen Lebensspanne waren - und sind - die Menschen uns natürlich weit unterlegen, was das Geschick im Kampfe angeht. Ich trug nur geringe Verletzungen davon, und dein Vater blieb vollkommen unversehrt. Mit jedem weiteren Tag wurden die Manur unentschlossener, die Angriffe weniger koordiniert. Plötzlich brachen die Attacken ganz ab, und die Krieger der Menschen zogen sich zurück. Für die wenigen, die noch in der Hochburg ausharrten, war das ein Moment der Freude und des Glücks. Ein Gesandter ritt vor die zerstörten Tore des Hofs und wartete auf einen Mittelsmann aus unseren Reihen. Drei Tage ließen wir ihn vor den Toren warten, mitten im Gestank der Exkremente und der Leichen, die auf dem Schlachtfeld lagen. Zum Teil aus Wut, zum Teil aus Furcht wollten wir den Manur keinen rechten Glauben schenken, was diplomatische Beziehungen anbelangte. Dann, am vierten Tag, wurde eine kleine Delegation vorgeschickt, die in Erfahrung bringen sollte, was die Ruhe zu bedeuten hatte. Uns wurde mitgeteilt, daß der König der Manur, der den Angriff überhaupt erst vorangetrieben hatte, hinterrücks getötet wurde. Die äußersten Regionen des Belagerungsgürtels waren von den Shat’lan angegriffen und bis auf den letzten Mann zerrieben worden. Auch der König war diesem heimtückischen Angriff zum Opfer gefallen, und nun war ein neuer Mann auf den Thron gestiegen. In langen Verhandlungstagen unterbreiteten wir den Manur einen Plan zum Frieden, und der neue König stimmte bereitwillig ein. Er hatte genug damit zu tun, sich und seine Mannen vor den nächtlichen Attacken der Shat’lan zu behaupten, und wollte auf keinen Fall einen Zwei-Fronten Krieg ausfechten. So kam der Waffenstillstand zwischen dem Volk und den Manur zustande, der nun schon seit über sechshundert Jahren währt. Wir überließen den Manur freiwillig die Hochburg, unsere letzte Stätte im Westen, und zogen uns in die östlichen Weiten Rubens zurück. Seitdem herrschen die Hochkönige der Menschen von der Hochburg aus.“

Indigo hatte fasziniert gelauscht, und nun regten sich weitere Gedanken in ihm. „Wie verlief die Schlacht zwischen Manur und Shat’lan weiter, Falke? Und warum halfen wir unseren Brüdern nicht?“

„Zum einen lebten unsere Völker zu der Zeit schon lang voneinander getrennt, und die wenigen zarten Verbindungen zwischen Jurakai und Shat’lan endeten abrupt, als wir den Friedensvertrag mit den Menschen eingingen. Die Geschichte der Shat’lan jedoch ist sehr viel länger und nicht für diesen Abend bestimmt, junger Freund. Schlaf jetzt, denn morgen werden wir eine noch viel weitere Strecke zurücklegen. Es ist ein langer Weg, der vor uns liegt, und wir werden nicht viele so ruhige Abende wie diesen hier verbringen können.“

„Du hast mir noch nicht erklärt, wie unsere Reise überhaupt verlaufen wird, Falke. Ich denke, ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren.“ Indigo richtete sich an seinem Lagerplatz auf und sah seinem Freund in die Augen. Nachtfalke nickte.

„Das hast du. Unser Weg wird uns zuallererst in die Täler führen, was dich wahrscheinlich überrascht. Aber ich kann dir auch sagen, warum wir diesen Umweg einschlagen: Unsere Reise ist eine wichtige Angelegenheit, die ich mit den Ältesten besprechen muß. Vor allem deinen Vater muß ich um Zustimmung bitten, dich mit zum Hofe zu nehmen. Und auch das Orakel muß davon erfahren. Die Zukunft ist zwar schleierhaft, aber jedes winzige Detail kann das Gesamtbild ein wenig schärfen.“

„Ich dachte mir bereits, daß wir zuerst das Volk besuchen. Es ist mir auch sehr Recht. Ich möchte mich gern von meinen Eltern und allen anderen verabschieden, bevor wir einen so weiten Weg auf uns nehmen.“

„Das ist sehr vernünftig. Danach werden wir versuchen, entweder durch das Hochland oder durch die Sümpfe ins Innere Reich zu gelangen. Von dort aus habe ich vor, einen weiteren Umweg zu machen, den Schlohenwald zu umrunden und von Osten her zur Hochburg des Königs zu gelangen.“

Indigos Wissensdurst war gestillt, seine Augen waren bereits zugefallen und schenkten dem jungen Jurakai eine wohltuende Ruhe, die er nach dem anstrengenden Tag bitter nötig hatte. Nachtfalke rieb seine Beine, rollte ein wenig näher ans Feuer und murmelte ein undeutliches „Schlaf schön.“ Indigo hörte es bereits nicht mehr.

Ein Schatten, der am Rande des Waldes lauerte, schloß ebenfalls seine Augen und bereitete sich auf die Nachtruhe vor, wenn er auch darin geübt war, ohne viel Schlaf auszukommen. Der schwarze Körper glitt an einen Ast und wurde eins mit den Farben des Waldes.

 

Als der Morgen anbrach, war Indigo bereits auf den Beinen und sammelte Früchte und andere nahrhafte Dinge für das Frühstück. Von Nachtfalkes Lehren wußte er, welche Beeren er lieber hängen lassen sollte, und welche Wurzeln, zu einem dickflüssigen Brei zerstampft, Kraft gaben und dazu auch noch gut schmeckten. Erfreut stieß er ein paar Wacholderzweige auseinander, um an die Pilze, die dahinter auf dem moosigen Grund gediehen, zu gelangen. Es waren Laublattern, unverkennbar mit ihren dicken, gesprenkelten Kappen und dem stämmigen Fuß. Die beiden Jurakai hatten Glück, denn es waren mehr als genug Pilze für zwei, wenn nicht sogar drei Mahlzeiten. Indigo steckte die Gewächse freudig in eine kleines Täschchen und watete tiefer durch die Farne und Disteln.

Ganz nah vor sich entdeckte er einen Bach, der plätschernd durch eine dreckige, verwaschene Rinne in der Erde floß, und er beschloß, dem Verlauf des Flußbettes zu folgen, um auf diese Weise leichter durch das Dickicht zu gelangen. Die Farne zu beiden Seiten hüllten ihn ein, und die frühe, kühle Sonne warf vereinzelte Lichtflecken auf das dichte Blätterwerk. Genauso hatte er sich den Beginn einer abenteuerlichen Reise vorgestellt: Ein gemütliches Fleckchen, an dem man rasten konnte, und ganz in der Nähe fließendes Wasser und Unmengen von Pilzen und Beeren, um sich den Magen vollzuschlagen. Der Sturm des letzten Tages war vollkommen abgeklungen, und ein leichtes Lüftchen wehte, so es sich in den Ästelungen des tiefen Waldes verirrte, durch Indigos Haar und machte sich ein Spiel daraus, es zu zerzausen. Der Jurakai sog genüßlich die frische Morgenluft ein und machte es sich auf einem bemoosten Platz bequem, der so gelegen war, daß die Sonne schon zu dieser frühen Stunde darauf schien. Er rekelte sich in den ersten Strahlen des Tages und fühlte die Wärme, die vom Auge Himmelfeuers ausging. Ein Schauern der Behaglichkeit durchlief ihn, und seine Gedanken schweiften ab von den Beeren des Waldes und den Früchten der Natur, glitten hinüber zu den Shat’lan, von denen er nur so wenig wußte.

Die Shat’lan...

Vielleicht hatten sie einst in diesem Wald ihr Lager aufgeschlagen, hatten ihre Pferde an genau dem Fluß getränkt, an dessen Bett Indigo heute seinen Weg gesucht hatte. Möglicherweise war genau an dieser Stelle, an der er, Indigo Jael’vre, jetzt lag, ein Mann oder eine Frau dieser dunklen Rasse gelegen, hatte die Sonne genossen und geträumt. Wo mochten die Schwarzen Seelen, wie die Menschen sie nannten, wohl heute sein? Hatten die Manur sie tatsächlich ausgerottet, wie es in ihren Legenden und Geschichten hieß? Oder hielten sich noch immer ein paar Gruppen dieser alten, gefürchteten Rasse irgendwo in Ruben auf? Versteckt in tiefen Höhlen oder auf den Bergketten im Süden, auf Rache an ihren Erzfeinden sinnend... Falke hatte schon des öfteren von einem unerwarteten Zusammentreffen mit den Shat’lan erzählt... nun, wenigstens mit ein paar von ihnen. Es waren wahrscheinlich, wie der alte Jurakai vermutete, Einzelgänger, die versuchten, die Geheimnisse ihres Landes vor denjenigen zu schützen, die es zerstören und einnehmen wollten. Die letzten Berichte über Sichtungen der Shat’lan reichten viele Jahre zurück, und das letzte Mal, daß eine ganze Gruppe von ihnen gesehen wurde, war vermutlich zu der Zeit gewesen, als die Schwarzen Seelen noch eine erbitterte Schlacht gegen die Manur austrugen. Der Ausgang dieses Kampfes war von vornherein klargewesen: Mit den wenigen ihres Volkes konnten sich die Shat’lan nicht auf lange Zeit gegen die Menschen behaupten, und so zerfielen ihre Städte und Siedlungen allmählich zu Staub und Erinnerungen, während sie weiter und weiter zurückgetrieben wurden. Die Spuren der letzten Shat’lan-Stadt mußten längst verwaschen und verweht sein...

Ja, wahrscheinlich gab es nicht einmal mehr die Orte, an denen die Shat’lan einst gelebt hatten. Vielleicht war schon längst der Wald zurückgekehrt, hatte die alten Bauten überwuchert und das Reich zurückerobert, das ihm durch die Hand der Schwarzen Seelen entrissen worden war...

Indigos Gedanken wurden mit jedem Herzschlag schwerer, und in der warmen, lauen Morgensonne legte er sich nach hinten und versank in den aufgewärmten Moosen. Sein Atem ging ruhiger und tiefer, und bald war er auf der kleinen Lichtung eingeschlummert.

Bilder begannen ihn zu umschwirren...

... seltsame Bilder...

... er stand auf einer Lichtung inmitten eines bewaldeten Tales. Steinbauten, die rings um ihn in die Höhe schossen, umgaben ihn. Die Sonne stand hoch am Himmel, und die Hitze preßte allen Tatendrang aus den Drüsen des Jurakai. Die spiegelnden Gebäude erstrahlten in goldenem Glanz, und von überall her erklangen Hörner und Rufe. Voller Interesse sah er sich um... vermummte Gestalten liefen an ihm vorüber, schienen ihn gar nicht zu bemerken. Warum trugen sie wohl so dicke Kleidung in dieser erdrückenden Hitze? fragte sich Indigo und suchte nach Schatten, der ihn vor der Hitze bewahren könnte. Schreie ertönten in seiner Nähe. Die Gestalten, die sich zwischen den Türmen und Bauten bewegten, rannten allesamt, wie er erst jetzt begriff. Die meisten von ihnen waren bewaffnet, schwer bewaffnet. Wo war er nur? Ein plötzlicher Aufprall in seiner Nähe ließ ihn aufschrecken. Ein Körper war neben ihm im Gras gelandet, blutend. Es war ein Mann, ein sehr großer Mann. Er ähnelte einem Jurakai, aber seine Züge wirkten so... anders. Irgendwie schärfer und... härter. Kantiger.

Das Wesen, das blutend am Boden lag, schien ihn zu bemerken... es wandte den Blick in seine Richtung, und mit Schrecken sah Indigo, daß seine Augen völllig Schwarz waren. Der Mann murmelte in einer Sprache, die Indigo nicht verstehen konnte, obwohl sie seltsam vertraut anmutete. Sein Blick hatte einen flehentlichen Ausdruck, aber eine verbissene Stärke überschattete dieses Gefühl der Schwäche rasch. Die Gestalt spuckte Blut, krallte ihre Finger im Gras fest, riß ein paar Büschel Klee aus dem Untergrund und rollte zur Seite. Übelkeit regte sich in Indigo, und er wandte sich ab. Doch nach wenigen Sekunden mußte er der Neugierde nachgeben, und wieder sah er zum hilfebedürftigen Wesen auf dem Boden. Es war inzwischen näher an ihn herangerobbt, und sein wilder Blick fixierte Indigo auf merkwürdige Weise. Blasen bildeten sich auf den Lippen des Verblutenden, und er schien etwas sagen zu wollen, doch Indigo konnte ihn nicht verstehen. Entsetzt wandte er sich ab, trat zurück...

...die Bilder vor seinem Auge verschwammen, flossen auseinander, bildeten dann wieder eine neue Szenerie...

Erneut stand er auf dem Pfeiler, der in den Himmel ragte. Noch höher schien er dieses Mal zu sein, der Abgrund noch gähnender als zuvor. Eine unnatürliche Schwärze bedeckte die Welt, die sich Indigos Augen offenbarte. Das Leben war dieser Erde entwichen, stellte er mit Entsetzen fest. Das Land, das sich weit unter seinen Füßen erstreckte war kahl und leer, eine verwüstete Öde. Kein Leben hauste mehr auf dem Steinbrocken, nicht einmal die windenden Würmer waren zu sehen. Am Rande dieser wahnsinnigen Welt stieg hinter Nebelschwaden der Mond auf - aber viel zu schnell, mit einer Geschwindigkeit, die den jungen Jurakai erschreckte. Wieder besaß der Himmelskörper diese sonderbare Farbe – blutrot - und warf, während er über der Welt aufstieg, einen unbarmherzigen, scharlachfarbenen Schatten über das Land. Ein Grollen erklang aus dem Himmel, und Indigo starrte nach oben.

Hüte dich. Hüte dich vor dem dunklen Blut

Indigos Augen füllten sich mit Tränen der Angst und des Unverständnisses, doch als er zitternd nach hinten taumelte, veränderten sich die Bilder erneut...

...und flossen in Gestalt einer schönen jungen Frau wieder zusammen.

Ihre Haare, schwarz wie der Nachthimmel, wogten in einem Sturm, der Indigo mitzureißen drohte. Dunkle Augen blickten ihn an, und das riesige Gesicht, das vor ihm schwebte, flüsterte ihm über schwarze Lippen eine lautlose Botschaft zu. Sonderbare Mächte beschworen eine weitere Woge der Winde herauf, die den Jurakai herumwirbelte und im Kreis drehte. Das Antlitz der Frau drehte sich mit ihm, bis ihm schwindlig wurde von dem Anblick, und er die Augen schließen wollte.

Asan“ flüsterten die Lippen und öffneten und schlossen sich wie in einem Trauergesang.

Komm zu uns, Asan.“

Indigo konnte seinen Blick nicht abwenden von dem wunderschönen Gesicht, das vor ihm auf und ab schwebte, und so leicht den Böen zu trotzen schien. Die Augen der Frau blickten ihn mit einer Sehnsucht an, die Indigo das Herz zerriß, und er warf sich auf den Boden und begann zu schluchzen vor Bedauern.

Asan“ wisperte das Wesen erneut, und mit einem leidenschaftlichen Flackern verwehte das Bild in den Winden, die Indigo durchschüttelten. Bittend streckte er der Gestalt einen Arm entgegen, wollte sie bei sich behalten, nicht gehen lassen. Er wußte, daß es noch zu früh war, um Abschied zu nehmen. Weinend rannte er der Erscheinung nach, doch der Sturm drängte ihn wieder zurück, und die Erscheinung entschwandt seinen Blicken. Heulend lag der Jurakai auf dem bebenden Boden, der kalt und ungastlich war.

„Nein!“ schrie er verzweifelt. „Geh nicht!“

Doch der Boden zu seinen Füßen tat sich auf und verschluckte ihn. Er fiel und fiel, wie lang und wie weit, konnte er nicht sagen. Irgendwann prallte sein Körper auf brauner, weicher Erde auf, spritzte Schlamm beiseite und ließ kleine Geschöpfe erschreckt davonspringen.

Noch immer schluchzend fuhr er mit seiner Hand über die Augen, um die Tränen fortzuwischen, und setzte sich im schlammigen Untergrund auf. Sein Brustkorb bebte, und seine Sicht war getrübt, als er versuchte, sich in seiner neuen Umgebung zurechtzufinden.

Er befand sich wieder in einem Wald... um ihn herum wuchsen Bäume von erstaunlicher Größe, und der Sumpf beherbergte tausende kleine Geschöpfe, die in der fahlen Dämmerung sprangen und flogen und schwammen. Etwas war jedoch merkwürdig an diesem Platz... er mutete merkwürdig vertraut an, dem Jurakai war fast so, als ob er schon einmal hier gewesen wäre, vor langer, langer Zeit. Er stand auf und wanderte in diesem erstickendem Loch umher, suchte nach etwas, das ihm Hilfe bieten oder Geborgenheit schenken würde. Sein Blick fiel auf eine Ruine, und mit einem Schlag wurde ihm bewußt, wo er sich befand... hier war der Platz, an dem er gerade eben noch die verhüllten Gestalten dabei beobachtet hatte, wie sie geschäftig umherliefen und zu den Bauten strömten, die auf der sonnenbeschienenen Lichtung standen. Doch Indigos Augen offenbarten ihm eine weit grausigere Realität: Die Wiesen waren vergangen, die Türme nur noch zerfallene Trümmer, und die hohen, mächtigen Bauten nur ein leiser Hohn, der auf dem dreckigen Untergrund verteilt lag. Hektisch entfernte sich der Jurakai schnellen Schrittes rückwärts von dieser Stätte des Alters, als er über einen Ast oder etwas derartiges stolperte und der Länge nach hinschlug. Das Ding, das ihm im Weg gelegen hatte, stellte sich als etwas langes, großes heraus... es war der Mann, der noch vorhin blutend neben ihn gefallen war! Sein Fleisch war bis fast auf die Knochen verrottet, und unter der Kapuze ragte ein weißer Schädel hervor. Entsetzt robbte der Jurakai nach hinten, um diesem Ort des Grauens zu entkommen.

„Indigo“, erklang eine eisige Stimme aus den Tiefen des Totenschädels, und der tote Körper wurde von einem Schaudern durchzuckt. Von Panik erfüllt schrie Indigo auf. Er wollte rennen, rennen, bis ihm die Luft ausblieb, bis seine Beine ihn nicht mehr trugen und bis er einen sicheren Ort erreicht hatte. Weg, nur weg von dieser stinkenden Kloake, dieser verfallenen, schlechten Stätte! Er wollte einfach nur laufen, laufen bis er vor Erschöpfung umfiel, doch seine Füße waren wie festgenagelt, bewegten sich nicht, waren...

„Indigo!“

Mit einem Ruck erwachte der junge Reisende und kam zur Besinnung. Noch immer voller Furcht sah er sich nach allen Seiten um, doch sein Blick traf glücklicherweise nur seinen alten Freund Nachtfalke, der sich auf Indigos Knie stützte und ihn an den Schultern rüttelte.

„Komm wieder zu dir, junger Freund!“ mahnte die Stimme des Alten. „Du hattest einen bösen Traum, denke ich. Doch es ist nun vorbei. Die schlimmen Gedanken sind fort.“

Indigo schüttelte sich, um das Gefühl des Unwirklichen aus seinem Geist zu verbannen, wo es wie ein Marder ausharrte, der sich festgebissen hatte. Nach und nach schaffte er es, die Nachwirkungen dieses... dieses Traumes aus seinen Gedanken zu vertreiben. Eine Stimme, die tief in ihm ruhte, flüsterte ihm zu, daß es kein Traum gewesen war... das es etwas weitaus wichtigeres, realeres gewesen war... das Antlitz der Frau kam ihm sekundenlang wieder in den Sinn, gespenstisch, wunderschön... Indigo schüttelte sich erneut und sah seinem Freund fest in die Augen.

„Du hast Recht, es ist vorbei. Ich danke dir, daß du mich hier aufgesucht hast, Falke.“

„Der Hunger trieb mich hierher, du Narr. Da du schon eine ganze Weile fort warst, und mir bereits der Magen knurrte nach all der Zeit, brach ich auf, um nach dem Rechten zu sehen.“ Sein lächelndes Gesicht spitzte die Lippen. „Nun, wenigstens hast du genügend Nahrung zusammengetragen, bevor du dich hier auf die faule Haut gelegt hast. Das ist sehr lobenswert von dir.“ Er nahm die Tasche auf, in der die Pilze und Beeren geduldig auf ihren Verzehr warteten und sprang auf die gegenüberliegende Seite des kleinen Baches. „Komm, laß uns schnell zurückkehren. Die Glut ist noch nicht erloschen, und wenn wir Glück haben, können wir warme Laublattern genießen!“

Das ließ sich der junge Jurakai nicht zweimal sagen, und mit flinken Sprüngen eilte er Nachtfalke hinterher, der bereits am Rande des Bächleins entlangmarschierte.

Als die beiden ihren Lagerplatz erreichten, waren alle Gedanken an ein warmes Pilzfrühstück jedoch sofort verflogen. Auf einen Blick erkannte Nachtfalke, daß sich jemand zu schaffen gemacht hatte an ihrem Hab und Gut, und dementsprechend vorsichtig trat er auf die Lichtung. Indigo, der die Verwüstung erst ein wenig später bemerkte, drängte den Alten hinaus auf die flachen Gräser. Als auch er die durchwühlten Taschen sah, verfluchte er sich selbst dafür, eingeschlafen zu sein und half seinem Freund dabei, den Inhalt der Beutel wieder zu sortieren.

„Oh verdammt, Falke! Das ist allein meine Schuld. Hätte mich die Müdigkeit nicht übermannt, wärst du mir nicht nachgelaufen!“ Indigo verzog das Gesicht in Gram. „Na, wenigstens ist jetzt klar, daß wir einen heimlichen Beobachter haben, denke ich, was, Falke?“

„Das kam auch mir zuerst in den Sinn, Indigo... aber sieh hierher: Spuren von Speichel und Abdrücke von Zähnen. Und hier, im Gras, sind ebenfalls die Spuren eines Eindringlings zu erkennen. Aber ich denke, daß wir uns um diesen Verfolger keine allzu großen Sorgen zu machen brauchen, mein Freund. Er ist ganz bestimmt nicht daran interessiert, uns auszuspionieren oder gar absichtlich zu schaden. Es sind die Abdrücke eines Hirschgebisses, und auch die Spuren der Pfoten zeugen von seiner Anwesenheit. Wie es aussieht, wurde er von den Gerüchen der Kräuter angelockt, die ich in meiner Tasche aufbewahre.“ Der alte Jurakai seufzte erleichtert. „Es hätte schlimmer kommen können, glaube mir. Wir sollten froh sein, daß nur dieser Bewohner des Waldes Interesse an uns zeigt, Indigo. Aber trotz alledem möchte ich nicht auf mein Frühstück verzichten.“ Das grinsende Gesicht Nachtfalkes ließ eine starke Zuneigung zu dem alten Jurakai in Indigo aufkeimen, und er beförderte stolz die Pilze ans Tageslicht, die im Schein der hellen Sonne sogar noch weitaus prachtvoller glänzten als im Schatten der Bäume. Schon bald waren die Laublattern über dem Feuer geröstet, und ein wohlriechender Duft stieg über die Wipfel der Waldriesen. Als die beiden Bäuche gefüllt und die Wasserschläuche geleert waren, begab sich Indigo noch ein letztes Mal zu dem kleinen Bach, schleuste kühles, klares Wasser in die Schläuche und verpackte die Fracht sorgsam im angebissenen Rucksack. Nach dieser Tat schlug Nachtfalke vor, die überfüllten Mägen mit einem schnellen Gang wieder in Schwung zu bringen, und Indigo stimmte brummend zu.

(c) Dirk Wonhoefer , 2001

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