(c) Dirk Wonhoefer , 2001



Herbstsonne.

Sie kroch langsam durch die Zweige der höchsten Bäume, glitzerte wie Funken auf Blättern und erleuchtete vereinzelte Stellen des Waldbodens, so zaghaft wie die Finger von Liebenden. Zärtlich ließ sie ihre Fingerspitzen über das Grün gleiten, streichelte es und schenkte Leben...

Kim lächelte, als sie in einen Lichtkegel trat, in dem kleine Mücken herumschwirrten und sich zu haschen schienen, wie Kinder beim fröhlichen, ausgelassenen Fangenspiel. Die Geräusche des Waldes waren allgegenwärtig, drängten sich aber trotzdem nicht auf, als würde sich die Natur in Zurückhaltung üben, wie ein Maler, der darauf bedacht ist, die Wirkung seines Bildes nicht zu zerstören, in dem er es überfüllt.

Ja, der Herbst war mit Abstand die wundervollste Jahreszeit - und gleichzeitig auch die traurigste. Während überall die bunten Blätter in lauen Brisen knisterten und wie kleine Schiffchen von den Bäumen purzelten, vom Wind erst hierhin, dann dorthin geschaukelt, bereitete sich die Welt schon darauf vor, schlafen zu gehen, um erst im nächsten Frühjar wieder zu erwachen wie eine verzauberte Prinzessin. Der Sommer war vorüber, man spürte es überall. Selbst in der Luft lag diese heranrauschende Kühle - es war nicht direkt Kälte, vielmehr eine Vorahnung vom Winter, das Wissen, daß Blütenblatt und Baum bald verdeckt sein würden vom Schnee, daß die Bäche bald an den Rändern gefroren.

Mit interessierter Miene beugte sich Kim vornüber, um eines der Blättchen aufzulesen, das wie von innerer Unruhe getrieben über die Erde hüpfte. Sie hielt es in den Fingern und betrachtete das kleine Ding für eine lange, lange Zeit.

Es war blau gemustert, mit kleinen roten Äderchen und Zacken am Rand. Doch es schien zu keinem der Bäume zu gehören, die hier in der Nähe wuchsen, war wie eine falsche, blaue Note in einer ansonsten grünen und gelben oder roten Melodie.

Sie schloß die Augen und dachte daran, daß dieses Blatt ihr selbst so ähnlich war. Es hatte keinen wirklich festen Platz, schien nirgendwo hin zu gehören... oder zumindest hatte es seine Bestimmung noch nicht erreicht. Vielleicht würde der Wind es treiben, durch den Wald und hinaus über die Wiesen, so lange, bis es irgendwann in einen Laubhaufen fiel, der nicht nur rote und gelbe, sondern auch blaue Blätter enthielt.

Plötzlich erwachte in ihr das Verlangen, nach ihrem Lieblingsplatz zu sehen, und die Hand noch immer fest um das Blättchen geschlossen begann sie zu laufen. Das Schattenlicht spendete genug Helligkeit, um sich zwischen den Baumriesen hindurchzuschlängeln, und so war sie schon bald an einem Teil des Waldes angelangt, den ein dichtes, wild wucherndes Gestrüpp umgab. Mit Vorsicht - so, wie sie es immer tat - bog sie die Zweige auseinander, die wie eine Mauer in den Himmel ragten. Dicke, schlangengleiche Ranken fielen von den Bäumen herab, und Kim mußte aufpassen, daß sie sich nicht an einem der zahlreichen dornbewehrten Büsche die Haut aufritzte.

Als sie endlich durch den Vorhang aus Grün getreten war, lag der kleine Waldteich so still und friedlich vor ihr, als hätte er ihr Eindringen gar nicht bemerkt. Algen schwammen auf der Wasseroberfläche, mischten sich mit toten Blättern. Um das Ufer des Tümpels herum gediehen Schilfstauden und kleine Weiden, die ihre Äste dem Wasser zuneigten und die Oberfläche sanft berührten.

Alles strahlte Stille und Frieden aus, und Kim hatte sich schon oft gefragt, wie es kam, daß außer ihr noch niemand diesen Waldsee gefunden hatte. Es mußte wohl an dem Zauber liegen, der auf der Lichtung lag, denn er schien niemanden einzulassen in dieses kleine Reich, der fremd war oder nicht hierher gehörte. Doch auf Kim traf diese Beschreibung sicherlich nicht zu, denn, wie sie sich selbst nur allzu oft ins Gedächtnis rief, sie schien sich wie das fehlende Stück des Puzzles in diese magische und verzauberte Welt zu fügen. Doch ob ihre Andersartigkeit so gut war... nun, sie zweifelte daran. Gern wäre sie normal gewesen, so normal wie all die anderen Mädchen in ihrem Alter.

Ja, all ihre Freundinnen oder Freunde hatten bereits schon mehrere Beziehungen - ob glücklich oder nicht, das sei jetzt einmal dahingestellt - hinter sich, manche waren sogar schon verheiratet. Immerhin ging Kim nun auf ihr zweiundzwanzigstes Lebensjahr zu, und die ferne Grenze von dreißig rückte unaufhaltsam näher, wie ein Schwert, das sich langsam herabsenkt und letztendlich den Lebensfaden zertrennen würde. Natürlich, sie war noch jung, aber... sie hatte ihr gesamtes Leben lang noch keinen einzigen Freund gehabt.

Und wie sollte sie auch? Mit ihrer wunderbaren Begabung verscheuchte sie wohl jeden, der ihr jemals etwas näherkommen könnte.

Mit einem Seufzer ließ sie sich hinterrücks ins Gras sinken, das weich und anschmiegsam war wie ein Teppich. Um sie herum, wie Wächter eines alten, vergessenen Schlosses, sprossen die Waldriesen in die Höhe und versteckten die Lichtung vor der restlichen Welt. Blätter rieselten von ihren Wipfeln, als sich der Wind in ihnen fing, an ihnen schüttelte und zerrte und sein wildes, unbändiges Spiel mit ihnen spielte.

Die fallenden Blätter erinnerten Kim schmerzlich daran, daß sich ein weiteres Jahr seinem Ende zuzuneigen begann. Der Winter kam, und die letzten Nachzügler des Sommers rannten an ihr vorüber. Bald schon würde der Herbst weichen müssen, und die Zeit der langen Abende und eisigen Nächte würde anbrechen.

Doch noch behauptete sich die Sonne gegen den nahenden Anzug der Kälte, noch waren ihre Strahlen heiß und kräftig und beeilten sich, Kim in die Augen zu scheinen. Das Mädchen lächelte bei diesem Gedanken und streckte ihren Arm nach oben, so daß ihr geschlossener Handballen die Sonne verdeckte. Sie öffnete die Hand, und vorsichtig ließ sie das kleine, blaue Blättchen zwischen ihre Finger gleiten.

„Möchtest du fliegen?“ fragte sie das winzige Ding, und als ob es antworten wolle bewegte es sich leicht im lauen Wind.

Kim nickte und schloß die Augen. Sie zählte bis zehn, dann konzentrierte sie sich und atmete tief und ruhig. Ihre Sinne waren entspannt, als sie versuchte, das kleine Kunststück zu bewerkstelligen, das sie so sehr von allen anderen Menschen unterschied.

Während sie mit geschlossenen Augen auf der Wiese lag, flaute der Wind ganz ab, und völlige Stille legte sich über die eingeschlossene Lichtung, als wäre alles Leben plötzlich verloschen. Selbst das Plätschern des Wassers rückte in den Hintergrund, wurde leiser und leiser.

Kim murmelte leise vor sich hin, als versuchte sie, einen magischen Zauberspruch aufzusagen. Doch in Wirklichkeit halfen die Worte ihr dabei, sich völlig zu konzentrieren, flossen aus ihrem Mund wie angestaute Gedanken, die nur im Wege gewesen wären.

Und dann zog sich ein Lächeln über Kims Gesicht, als sie endlich zu fassen bekam, was sie gesucht hatte. Sie öffnete die Augen, und noch während sie ihre Hand ganz öffnete und das Blatt freigab, fuhr ein Windstoß unter das kleine Laubgut und riß es mit sich in die Höhe. Noch schwach war es, das Lüftchen, aber jetzt hatte Kim es unter ihrer Kontrolle, konnte an seinen Fäden ziehen wie ein Puppenspieler an seiner Marionette. Nur, daß diese Marionette alles andere als einfach zu handhaben war...

Das Blättchen tanzte auf einem steten Luftstrom, und Kim versetzte ihm einen kräftigen Schubser, spitzte dabei ihre Lippen, als wenn sie selbst die Winde erzeugen würde, die nun die Luft erfüllten. Rauschen drang durch den Wald zu ihr herüber, und sie wußte, daß dieser Moment nun ihr gehörte.

Sie legte den Kopf schräg, und eine weitere Bö erfaßte das Blatt und trieb es hinauf, bis es sich weit über den Wipfeln der Waldriesen befand, die ganze Welt von oben betrachten konnte. Wie ein Flieger kreiste es jetzt in den Lüften, drehte sich, kippte kurz, bis Kim sich wieder konzentrierte und es auffing, nur, um es erneut gen Himmel zu senden.

Das Mädchen seufzte erneut und wollte das Blättchen gerade noch weiter nach oben schicken, als ein Geräusch sie erschreckt auffahren ließ. Sie drehte sich um, und sofort begann der Wind abzuflauen, und das kleine Blatt trudelte dem Boden entgegen wie eine abgeschossene Wildgans.

Kim beobachtete die Büsche, die um den Rand der Siedlung wuchsen, doch sie konnte nicht ausmachen, woher das Geräusch gekommen war. Hatte sie es sich womöglich nur eingebildet? Es mußte fast so sein, denn wer sollte diesen Ort schon finden? Und welchen Grund sollte er haben, sich anzuschleichen...

„Hi“ erklang eine Stimme hinter ihr, und mit einem erschreckten Aufschrei wirbelte Kim um ihre eigene Achse, sah sich mit einer hochgewachsenen Gestalt konfrontiert und landete unsanft im Gras. Noch bevor sie einen Versuch unternehmen konnte, davonzukrabbeln, streckte der Fremde ihr eine Hand entgegen und beugte sich nach vorn.

Mißtrauisch blinzelte Kim nach oben, doch der Schatten der Person fiel auf sie, und seine Züge blieben im Schwarz der Silhouette verborgen.

Sie öffnete den Mund, um etwas Empörtes zu sagen, doch ob der hilfreich dargebotenen Hand blieben die bösen Worte ihr im Hals stecken, und sie schüttelte nur den Kopf. Dann zuckte sie innerlich die Achseln und entschied, das Angebot nicht ungenutzt vorübergehen zu lassen. Mit einem leichten Zögern legte sie ihre Hand in die des Fremden, und sogleich wurde sie hoch gezogen und stand unversehens einem jungen Mann gegenüber, der ihr ein Lächeln schenkte.

Kim konnte nicht umhin, in die Augen des Mannes zu blicken. Sie waren so anders, so unvergleichlich anders als alles, was das Mädchen bisher zu Gesicht bekommen hatte. In ihren Tiefen schienen Ozeane zu wüten, schienen sich Wellen zu brechen und Gewitter zu toben. Sie leuchteten im tiefsten, eindringlichsten Blau, das es auf der ganzen Welt überhaupt geben konnte. Seine Pupillen, klein und so schwarz wie das Auge des Orkans...

„Hi“ sagte der Fremde erneut und riß Kim damit aus ihren Gedanken. Sie hob die Brauen und trat einen Schritt zurück.

„Wer bist du?“ fragte sie zaghaft, aber die Unsicherheit in ihrer Stimme machte ihr nichts aus.

„Jemand, der dich beobachtet hat“ kam die Antwort zurück, doch dem jungen Mann schien diese Tatsache offensichtlich nicht halb soviel Scham zu bereiten, wie es bei Kim der Fall war.

Als Kim ihm nicht sofort antwortete, drückte er seine Finger fester um ihre noch immer umschlossene Hand, preßte das Mädchen sanft herunter. Gemeinsam setzten sie sich ins warme Gras, und Kim betrachtete die Gestalt weiterhin interessiert. Schwarze Haare hingen bis zu den Ohren von ihrem Kopf, hin- und herbewegt von den letzten Resten der Brise, mit der Kim gerade noch gespielt hatte.

„Und wie kommst du hierher?“ Sobald die Frage ausgesprochen war, bereute das Mädchen bereits, sie jemals erwähnt zu haben. Was für eine Antwort erwartete sie denn? Sie schloß die Augen. Eine ehrliche wahrscheinlich.

„Ich bin dir gefolgt.“

„Aber warum? Ich kenne dich nicht...“

„Aber ich glaube, dich zu kennen, Kim.“

„Du weißt, wie ich heiße.“ Schon wieder ein Satz, für den sie sich ohrfeigen hätte können!

Mit einem Lächeln legte der Mann den Kopf schief und schenkte Kim einen so sonderbaren Blick, daß sie einfach nicht anders konnte, als sein Lächeln zu erwiedern.

„Wahrscheinlich wäre es unhöflich, wenn ich mich nicht vorstellen würde“ sagte der Fremde und zwinkerte neckisch. „Ich heiße Tim.“

Stille legte sich über die Lichtung, nachdem diese Worte gesprochen waren und sich Kim und Tim gegenseitig musterten. Eine leichte Bö verfing sich in Kims Haaren, verzwirbelte sie, und unterbewußt einigte sie sich mit dem Wind darauf, daß er sie wenigstens für kurze Zeit alleine ließ. Sofort flaute das Lüftchen ab, und in stehender Luft saßen sich die beiden Menschen gegenüber.

„Warum bist du hier?“ fragte Kim nach einer Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen war und gleichzeitig nicht existiert zu haben schien.

„Ich glaube, ich habe dich gesucht.“

„Du glaubst, daß du mich gesucht hast?“

Tim lachte auf und zuckte die Schultern. In seinen Augen schienen die Meere sich zu überschlagen, schien ein ganzer Ozean zu tosen. Das Lachen klang alles andere als unangenehm.

„Ich weiß es nicht genau“ flüsterte er, nachdem er sich wieder gefangen hatte. „Ich bin einfach meinem Herz gefolgt. Und es hat mich hierher geführt. Ich glaube, ich bin ganz richtig hier...“

„Aber...“ wollte Kim zu einem Widerwort ansetzen, doch Tim legte ihr einen Finger auf die Lippen und gebot ihr, zu schweigen.

Dann schloß er die Augen, so wie Kim es vor einiger Zeit getan hatte, und auch er begann, tief und langsam zu atmen. Ein flaues Gefühl breitete sich in Kims Magengegend aus, als sie seine gelassenen, feinen Züge betrachtete, und sie war dankbar, daß sie bereits auf festem Boden saß.

Tim öffnete seine Augen, und als er das tat, schien der Abend zu nahen und den Tag stehlen zu wollen, doch als Kim aufblickte, erkannte sie, daß es nicht die Nacht war, die hier Einzug hielt, sondern Wolken, die sich von allen Seiten heranschoben wie ein Spinnennetz, das sich von Außen nach Innen webt.

Bald schon quollen die sonderbaren, so plötzlich auftauchenden Wolkenbänke über die Lichtung hinweg, und als Tim seine Mundwinkel zu einem Lächeln verzog, benetzten feine Regentropfen seine Haut und zerschellten auf seinen Haaren.

Auch Kim wurde durchnäßt von dem sommerlichen Wolkenbruch, und es dauerte nicht lang, bis die prasselnden Tropfen sie völlig durchtränkt hatten. Trotzdem lächelte sie, und als sie Tim in die Augen sah und endlich erkannte, daß jemand sie gefunden hatte, und nicht andersherum, mußte sie auflachen vor Glück. Sie sah Tim an, und sie fühlte sich verstanden und nicht mehr... einsam.

Tim lächelte und blickte sie mit seinen unergründlichen Meeresaugen an, in denen sie hilfos wie ein Kind ertrank, und sanft legte er eine nasse Hand um ihr Kinn und beugte sich vor. Mitten in diesem unwirklichen Regenschauer trafen sich ihre Münder, und ihre Zungen spielten das wundervolle, ertastende Spiel des Kennenlernens. Kim fühlte, wie ihr Herz zu rasen begann, und wie ein paar Tränen des Glückes begannen, ihre Wangen hinabzulaufen. Sofort wurden die kleinen, salzigen Tropfen vom Regen hinfortgespült, wie winzige Bäche, die von einer Flut mitgerissen werden.

Bald schon befanden sich Wind und Regen im Einklang, und die zwei Gestalten waren versunken in ihren Gefühlen.

Regentropfen klatschten auf die beiden, als sie sich irgendwann wieder voneinander lösten - waren es Jahre gewesen, die gerade vergangen sind? - , und Wind zerrte an Tims nassen Haaren und brachte sie in Unordnung.

Dann schloss Kim die Augen, und Tim tat es ihr gleich, und Regen und Wind verebbten allmählich, bis sie ganz versiegten. Kim war die erste, die wieder aufsah, und zum ersten Mal in ihrem Leben war sie so glücklich, daß sie einfach Lachen mußte, gar nicht anders konnte als zu lachen.

Tim grinste, bis sie aufhörte und ihn ansah, ihn und all das, was er war.

Und sie lächelte und küßte ihn erneut.

(c) Dirk Wonhoefer , 2001


 
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