Er
hatte noch etwas sagen wollen. Er hatte dem alten Mann ein weiteres Versprechen
abnehmen wollen. Das Versprechen zur Rückkehr. Aber der Alte hatte
nicht gewartet... .
Ein leises Bedauern regte sich in Serrin.
In dem
dunklen, schummrigen Labor blubberten leise geheimnisvolle Flüssigkeiten
in ihren Reagenzgläsern. Reagenzien und Kräuter, frisch geschnitten
oder sorgfältig in eigenen Behältern aufbewahrt, verströmten
einen schweren, würzigen Geruch, der sich mit dem des Staubes auf
den dicken Folianten und zwischen den Spruchrollen mischte. Seltene Steine
und Mineralien glitzerten im flackernden Licht der Kerzen und kleinen,
magischen Feuer, die die Tränke am Kochen hielten.
Eine einzelne, kleine Maus, kaum handtellergroß, grau und mit schwarzen,
blanken Knopfaugen huschte unter den Labortischen entlang, an den zahllosen
Bücherstapeln vorbei auf den schweren steinernen Arbeitstisch zu.
Flink kletterte sie den rauen Stein hinauf und kauerte sich schließlich
im Schatten der großen, steinernen Statue hin. Ihre feine Nase zuckte
und nahm die zahlreichen, verlockenden Gerüche auf. Vorsichtig tastete
sie sich vor, zu einem kleinen Stapel luftgetrockneter Knoblauchzehen.
Ein leises Rascheln ertönte, als sie die erste von ihnen mit den
Zähnen und den Pfoten packte und zurück in den Schatten der
Statue zerrte. Emsig grub sie ihre Zähne in den nahrhaften und würzigen
Knoblauch. Doch kaum hatte sie die ersten Fasern der Knoblauchzehe aufgerissen,
als ein Zucken durch ihren Körper ging. Ein kurzes Blitzen und Funkeln
hüllte dein kleinen Körper ein, es rauchte und zischte kurz.
Mit einem hellen Fiepen krümmte sich die Maus und kippte schließlich
leblos zur Seite.
Wieder kehrte Friede ein in dem Labor und die Schatten, die das flackernde
Licht warf, ließen den Schatten der Statue unheimlich und verzerrt
an der Wand tanzen.
Nur mit
knapper Not war Serrin aus der Falle an den Toren vor der Stadt der Menschen
entkommen, zu der ihn der brüllende Barbar getrieben hatte. Ihm war
kaum eine Wahl geblieben als dem alten Erzmagier durch dessen Tor zu folgen
- kaum eine Wahl bis auf die, entweder von dem Barbaren oder den wütenden
Wachen der Stadt getötet zu werden. Nicht, dass Serrin ihm ungern
gefolgt wäre: der alte Mann hatte etwas gesagt, das sein Interesse
bis aufs Äußerste geweckt hatte. "Eine Formel", hatte
er gesagt, "die lebendes Fleisch zu Stein machen kann."
Serrin war ihm gefolgt, ohne größeres Zögern. Gemeinsam
hatten sie den Turm betreten und schließlich das Labor. Misstrauisch
und aufmerksam hatte Serrin jede der Bewegungen des alten Magiers verfolgt.
Pergamente und Bücher stapelten sich schnell auf dem Tisch und fast
kam es ihm so vor, als hätte der Magier ihn vergessen.
Aber dann, als Serrin schon kurz davor war, zu fragen, schien der alte
Mann sich wieder zu besinnen.
"Ich will den Körper zum Stillstand bringen", erklärte
er, scheinbar mehr für sich selbst als für den jungen Dunkelelfen,
"nicht das Leben darin." Forschend blickte der den Dunkelelfen
an. "Blutmoos, Siadhe, Blutmoos. Bewegung." Langsam schritt
der alte Mann zum Tisch. Serrin runzelte die Stirn. Bewegung - warum wollte
der alte Mann erst Bewegung umkehren, um Stillstand zu erreichen? Wollte
er es überhaupt? Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als
Samael Serrins Vermutung bestätigte: "Und natürlich Nachtschatten,
der die Wirkung des Blutmooses umkehren soll... . Drei Teile Nachtschatten
auf einen Teil Blutmoos, ja." Serrin schüttelte fast unmerklich
den Kopf. Es gab eine andere Reagenzie, die die gewünschte Wirkung
direkt entfalten konnte. Wusste der alte Magier nichts darüber?
Aber schon fuhr dieser in seiner Erläuterung fort. "Die Energie
für diese Art Zauber.. woher, Siadhe?" Für Serrin war es
schwer, den oft nicht ganz zusammenhängenden Worten des Magiers zu
folgen, noch dazu in der Sprache der Menschen, mit der der Drow immer
noch zu kämpfen hatte. Zögernd deutete Serrin auf den Tisch
mit den Reagenzien. "Flasmix", wollte er sagen, stockte dann
aber und suchte nach dem richtigen Wort. "Alraune für Energie,
qu'elaeruk", sagte er. Es reizte ihn, wie stark sein Akzent war.
Zu gern würde er dem wortgewandten Alten contra geben können
in den Gesprächen, die sie führten, aber seine Sprachkenntnisse
waren schlicht unzureichend. In diesem Fall schienen die Worte aber richtig
gewählt zu sein, denn der alte Magier nickte beifällig. Die
Grundstruktur des Zaubers schien Serrin klar: Im Grunde ließ der
Zauber die Bewegung seines Zieles erstarren. Bei einer einfachen Lähmung
geschah ähnliches, aber da griff der Zauber nicht die Substanz des
Opfers selbst an sondern machte es einfach nur temporär bewegungsunfähig.
Dieser Zauber griff tiefer, hielt tatsächlich die Bewegung des Körpers
selbst gänzlich an, die Haut, das Fleisch, all das sollte starr wie
Stein werden.
Der Gedanke faszinierte den Dunkelelfen. Was Samael versuchte, war nicht
wirklich die Wandlung von Fleisch in Stein, aber die Wirkung war dieselbe.
Serrin wäre den Zauber anders angegangen. Vielleicht hätte er
die Wandlung wirklich versucht, aber andererseits war diese Art wesentlich
einfacher und schaffte genau dasselbe. Er lächelte dünn über
seine eigene Torheit.
Der alte Magier hantierte währenddessen weiter am Tisch herum. "Knoblauch",
murmelte er. "Drei Teile Knoblauch!". Kurz irritierte Serrin
die Wahl des Magiers. Warum Knoblauch? Schutz? Wofür? Sah der alte
Magier den Stein auch gleichzeitig als Schutz an? Die Starre Härte..
vielleicht meinte er das? Wieder musste Serrin leicht den Kopf schütteln.
Der rivvil hatte nie im Stein gelebt, unter Tonnen davon, in den Gängen
und Höhlen, wenn er versuchte, den Stein so zu charakterisieren.
Auf eine gewisse Art war Stein lebendig, jedenfalls keineswegs immer hart
und starr und ebenso wenig wirklich verlässlich. Andererseits: was
hätte er sonst wählen sollen?
Aufmerksam verfolgte Serrin, wie der Erzmagier die Reagenzien in einen
seltsamen, runenbestickten Beutel gab und dabei unentwegt zu murmeln schien.
"Der Zauber", erklärte Samael, "wird auf semimagischer
Basis laufen. Keine Runen, dafür ein alchimistisches Pulver - und
viel Konzentration!" Bei dem letzten Wort blickte er Serrin scharf
an, der, immer noch in Grübeleien über die Reagenzien versunken,
hastig nickte.
Das Labor,
verlassen wie jetzt, verströmte dennoch eine Atmosphäre von
Emsigkeit und Wissbegier. Kaum etwas in dem Raum war einfach nur zur Zierde
angebracht. Die meisten Dinge hatten einen Zweck, die Bücher, die
Pergamente, die Proben, die Instrumente und Werkzeuge, Stifte, Kräuter,
Reagenzien, Pulver, Tinkturen. Zwar herrschte hier ein heilloses Chaos,
aber zumindest bisher war nichts passiert. Was in der - durchaus zweckmäßigen
- Unordnung allerdings sofort seinen Blick auf sich zog, war die große,
steinerne Statue, die hinter dem steinernen Arbeitstisch stand. Perfekt
gehauen, ohne jede Bearbeitungsspur, vollkommen bis ins letzte Detail,
schien sie mehr aus Magie als Kunstwerk erschaffen als durch die Hände
eines Handwerkers. Wen wunderte das - dies war der Turm der Magier und
sie schufen sich ihre Kunst ebenso wie alles andere selbst, sofern sie
es vermochten.
Die Statue zeigte einen schlanken Elfen, schlank und fast mager selbst
für sein Volk, mit markanten, scharf geschnittenen Gesichtszügen.
Alles an ihm stimmte, die Proportionen, sogar die Kleidung, alles war
perfekt gelungen. Hätte man diese Statue auf dem Marktplatz von Delucia
aufgestellt, es hätte wohl kaum verwundert, wenn so manch einer,
der des Nachts von der Taverne nach hause torkelte, sie gegrüßt
hätte, so täuschend echt schien sie.
"So
bereit?", hatte der Magier gefragt. Unbehagen keimte in Serrin auf.
Misstrauisch blickte er zu dem Alten und deutete auf sich. "Ihr wollt
ein Testobjekt für Euren Versuch?", fragte er, die Augen zu
schmalen Schlitzen verengt. Der alte Mann nickte dazu nur eifrig und Serrin
zischte erbost. Was glaubte der Alte eigentlich? Hielt er ihn für
einen Narren? Gerade wollte der Drow den alten Magier wütend zurechtweisen,
als eine Idee in ihm aufkeimte.
Der Zauber hatte Macht, ohne Zweifel. Zauber wie dieser waren es, die
Serrin suchte. Diese Spielereien, mit denen er sich derzeit zufrieden
geben musste, missfielen ihm. Das hier, das war eine Formel, wie er sie
suchte. Nicht das kurze Aufflackern magischer Energien, lose gebündelt
und nur halb gelenkt durch unzulängliche Novizen- oder Magierhände
sondern tiefgreifend und machtvoll.
"Wartet, qu'elaeruk", sagte Serrin, immer noch zögernd,
denn das Risiko war letztendlich sehr hoch. "Ich willige ein - unter
einer Bedingung."
Die Ungeduld war dem alten Magier anzusehen und nun kam auch noch Unwillen
hinzu, aber Serrin dachte nicht daran, dem Alten jetzt seinen Willen vollkommen
zu lassen.
"Ich will, dass Ihr mich dafür diesen Zauber lehrt", sagte
er entschlossen, "wenn schon nicht gleich, dann doch sicher später,
wenn meine Kraft groß genug dafür ist."
Der alte Mann schien zu zögern. Serrin konnte nur erraten, was in
seinem Kopf vorgehen mochte. Vorsicht, vielleicht? Misstrauen, ihm, dem
Dunkelelfen gegenüber? Ein einfaches Abwägen, ob es sich lohnte,
ein solches Versprechen abzugeben? Vielleicht sogar Geiz, was die entwickelte
und zweifelsohne mächtige Formel anbelangte? Serrin wusste es nicht
- aber er wollte die Formel, um jeden Preis. Seine Handfläche und
die dünnen, immer noch nur schlecht verheilenden Striemen darin brannten
bei dem Gedanken.
Samael Ben Nebos Worte klangen zögerlich in den Ohren des Drow, aber
das reichte ihm: "Ich gelobe, sofern Ihr die Möglichkeit dazu
erfahrt, Euch entsprechendes Wissen zu lehren, was mich aber jeglicher
Verantwortung entbindet."
Serrin reichten die Worte des alten Magiers. Er hoffte nur, dass Samael
Ben Nebo sie auch einhalten würde. Ihm war durchaus zuzutrauen, dass
er sein Wort brach, aus einer puren Laune heraus. Trotz allem war Serrin
immer noch nicht gelungen, den alten Mann zuverlässig einzuschätzen.
Der Drow nickte vorsichtig. "Bwael, so soll es sein", sagte
er. Gerade wollte er den Magier noch daran erinnern, dass er die Zauberwirkung
bald wieder aufheben sollte - da spürte er schon, wie feines Pulver
sich auf seine Haut legte. Starre erfasste seine Haut und zog sie zusammen.
Es fühlte sich an, als würde er lebendig begraben, alles schien
zu erstarren und urplötzlich wurde es schwarz um ihn, als seine Augen
zu kaltem Stein erstarrten. Seine Gedanken rasten - zu schnell, Samael
wollte betrügen! Zu spät... viel zu spät, der Zauber war
gelungen. Vergeblich kämpfte Serrin gegen die steinernen Fesseln
seines Körpers an, aber nichts als seine Gedanken schienen sich noch
rühren zu können. Die Schwere des Steins schien langsam auch
sie einzuholen. Der Dunkelelf spürte keine Angst und keinen Zorn
auf den Magier. Es war, als ob seine Gedanken tatsächlich losgelöst
vom Körper und völlig frei waren.
Er hatte noch etwas sagen wollen. Er hatte dem alten Mann ein weiteres
Versprechen abnehmen wollen. Das Versprechen zur Rückkehr. Aber der
Alte hatte nicht gewartet... .
Ein leises Bedauern regte sich in Serrin.
Aber letztendlich war es gleichgültig. Serrin genoss die schwarze
Kühle des Steins, genoss die Klarheit, mit der sich seine Gedanken
auf einmal bewegen konnten. So frei von Gefühlen, logisch und frei
war sein Verstand noch nie gewesen. Mit plötzlicher Schärfe
erkannte er auf einmal, was vorging, und begriff. Wie simpel, wie elementar
die Welt doch in Wahrheit war... . Wie bedeutungslos waren doch die meisten
seiner Wünsche bisher gewesen - die meisten. Selbst jetzt glaubte
er, ein sanftes Brennen in seiner steinernen Hand zu spüren, ein
Brennen, das in seinen Gedanken Widerhall fand: Wissbegier. Langsam noch
und zögernd machten sich seine Gedanken auf die Reise. Jetzt, in
diesem Zustand der Freiheit, war ihm so vieles möglich. Er wollte
es genießen und nutzen - war es je anders gewesen? War er nicht
immer schon so frei gewesen? Seine Zeit in seinem lebendigen Körper
schien ihm plötzlich bedeutungslos und kurz... .
In dem
Labor strichen die Stunden dahin. Die Magier kamen und gingen wieder.
Einige begutachteten die kunstvolle Statue, andere schienen über
sie zu debattieren. Einer von ihnen wollte sich daranmachen, sie genauer
zu untersuchen, aber Samael Ben Nebo wachte über sein Werk. Der Abend
und die Nacht zogen herauf, die Nacht wurde zum Tage. Grau, starr, perfekt
und ohne jede Bewegung stand die Statue im Turm der Magier.
(c)
TinTamarra, 2002
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