(c) TinTamarra, 2002



Er hatte noch etwas sagen wollen. Er hatte dem alten Mann ein weiteres Versprechen abnehmen wollen. Das Versprechen zur Rückkehr. Aber der Alte hatte nicht gewartet... .
Ein leises Bedauern regte sich in Serrin.

In dem dunklen, schummrigen Labor blubberten leise geheimnisvolle Flüssigkeiten in ihren Reagenzgläsern. Reagenzien und Kräuter, frisch geschnitten oder sorgfältig in eigenen Behältern aufbewahrt, verströmten einen schweren, würzigen Geruch, der sich mit dem des Staubes auf den dicken Folianten und zwischen den Spruchrollen mischte. Seltene Steine und Mineralien glitzerten im flackernden Licht der Kerzen und kleinen, magischen Feuer, die die Tränke am Kochen hielten.
Eine einzelne, kleine Maus, kaum handtellergroß, grau und mit schwarzen, blanken Knopfaugen huschte unter den Labortischen entlang, an den zahllosen Bücherstapeln vorbei auf den schweren steinernen Arbeitstisch zu. Flink kletterte sie den rauen Stein hinauf und kauerte sich schließlich im Schatten der großen, steinernen Statue hin. Ihre feine Nase zuckte und nahm die zahlreichen, verlockenden Gerüche auf. Vorsichtig tastete sie sich vor, zu einem kleinen Stapel luftgetrockneter Knoblauchzehen. Ein leises Rascheln ertönte, als sie die erste von ihnen mit den Zähnen und den Pfoten packte und zurück in den Schatten der Statue zerrte. Emsig grub sie ihre Zähne in den nahrhaften und würzigen Knoblauch. Doch kaum hatte sie die ersten Fasern der Knoblauchzehe aufgerissen, als ein Zucken durch ihren Körper ging. Ein kurzes Blitzen und Funkeln hüllte dein kleinen Körper ein, es rauchte und zischte kurz. Mit einem hellen Fiepen krümmte sich die Maus und kippte schließlich leblos zur Seite.
Wieder kehrte Friede ein in dem Labor und die Schatten, die das flackernde Licht warf, ließen den Schatten der Statue unheimlich und verzerrt an der Wand tanzen.

Nur mit knapper Not war Serrin aus der Falle an den Toren vor der Stadt der Menschen entkommen, zu der ihn der brüllende Barbar getrieben hatte. Ihm war kaum eine Wahl geblieben als dem alten Erzmagier durch dessen Tor zu folgen - kaum eine Wahl bis auf die, entweder von dem Barbaren oder den wütenden Wachen der Stadt getötet zu werden. Nicht, dass Serrin ihm ungern gefolgt wäre: der alte Mann hatte etwas gesagt, das sein Interesse bis aufs Äußerste geweckt hatte. "Eine Formel", hatte er gesagt, "die lebendes Fleisch zu Stein machen kann."
Serrin war ihm gefolgt, ohne größeres Zögern. Gemeinsam hatten sie den Turm betreten und schließlich das Labor. Misstrauisch und aufmerksam hatte Serrin jede der Bewegungen des alten Magiers verfolgt. Pergamente und Bücher stapelten sich schnell auf dem Tisch und fast kam es ihm so vor, als hätte der Magier ihn vergessen.
Aber dann, als Serrin schon kurz davor war, zu fragen, schien der alte Mann sich wieder zu besinnen.
"Ich will den Körper zum Stillstand bringen", erklärte er, scheinbar mehr für sich selbst als für den jungen Dunkelelfen, "nicht das Leben darin." Forschend blickte der den Dunkelelfen an. "Blutmoos, Siadhe, Blutmoos. Bewegung." Langsam schritt der alte Mann zum Tisch. Serrin runzelte die Stirn. Bewegung - warum wollte der alte Mann erst Bewegung umkehren, um Stillstand zu erreichen? Wollte er es überhaupt? Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als Samael Serrins Vermutung bestätigte: "Und natürlich Nachtschatten, der die Wirkung des Blutmooses umkehren soll... . Drei Teile Nachtschatten auf einen Teil Blutmoos, ja." Serrin schüttelte fast unmerklich den Kopf. Es gab eine andere Reagenzie, die die gewünschte Wirkung direkt entfalten konnte. Wusste der alte Magier nichts darüber?
Aber schon fuhr dieser in seiner Erläuterung fort. "Die Energie für diese Art Zauber.. woher, Siadhe?" Für Serrin war es schwer, den oft nicht ganz zusammenhängenden Worten des Magiers zu folgen, noch dazu in der Sprache der Menschen, mit der der Drow immer noch zu kämpfen hatte. Zögernd deutete Serrin auf den Tisch mit den Reagenzien. "Flasmix", wollte er sagen, stockte dann aber und suchte nach dem richtigen Wort. "Alraune für Energie, qu'elaeruk", sagte er. Es reizte ihn, wie stark sein Akzent war. Zu gern würde er dem wortgewandten Alten contra geben können in den Gesprächen, die sie führten, aber seine Sprachkenntnisse waren schlicht unzureichend. In diesem Fall schienen die Worte aber richtig gewählt zu sein, denn der alte Magier nickte beifällig. Die Grundstruktur des Zaubers schien Serrin klar: Im Grunde ließ der Zauber die Bewegung seines Zieles erstarren. Bei einer einfachen Lähmung geschah ähnliches, aber da griff der Zauber nicht die Substanz des Opfers selbst an sondern machte es einfach nur temporär bewegungsunfähig. Dieser Zauber griff tiefer, hielt tatsächlich die Bewegung des Körpers selbst gänzlich an, die Haut, das Fleisch, all das sollte starr wie Stein werden.
Der Gedanke faszinierte den Dunkelelfen. Was Samael versuchte, war nicht wirklich die Wandlung von Fleisch in Stein, aber die Wirkung war dieselbe. Serrin wäre den Zauber anders angegangen. Vielleicht hätte er die Wandlung wirklich versucht, aber andererseits war diese Art wesentlich einfacher und schaffte genau dasselbe. Er lächelte dünn über seine eigene Torheit.
Der alte Magier hantierte währenddessen weiter am Tisch herum. "Knoblauch", murmelte er. "Drei Teile Knoblauch!". Kurz irritierte Serrin die Wahl des Magiers. Warum Knoblauch? Schutz? Wofür? Sah der alte Magier den Stein auch gleichzeitig als Schutz an? Die Starre Härte.. vielleicht meinte er das? Wieder musste Serrin leicht den Kopf schütteln. Der rivvil hatte nie im Stein gelebt, unter Tonnen davon, in den Gängen und Höhlen, wenn er versuchte, den Stein so zu charakterisieren. Auf eine gewisse Art war Stein lebendig, jedenfalls keineswegs immer hart und starr und ebenso wenig wirklich verlässlich. Andererseits: was hätte er sonst wählen sollen?
Aufmerksam verfolgte Serrin, wie der Erzmagier die Reagenzien in einen seltsamen, runenbestickten Beutel gab und dabei unentwegt zu murmeln schien.
"Der Zauber", erklärte Samael, "wird auf semimagischer Basis laufen. Keine Runen, dafür ein alchimistisches Pulver - und viel Konzentration!" Bei dem letzten Wort blickte er Serrin scharf an, der, immer noch in Grübeleien über die Reagenzien versunken, hastig nickte.

Das Labor, verlassen wie jetzt, verströmte dennoch eine Atmosphäre von Emsigkeit und Wissbegier. Kaum etwas in dem Raum war einfach nur zur Zierde angebracht. Die meisten Dinge hatten einen Zweck, die Bücher, die Pergamente, die Proben, die Instrumente und Werkzeuge, Stifte, Kräuter, Reagenzien, Pulver, Tinkturen. Zwar herrschte hier ein heilloses Chaos, aber zumindest bisher war nichts passiert. Was in der - durchaus zweckmäßigen - Unordnung allerdings sofort seinen Blick auf sich zog, war die große, steinerne Statue, die hinter dem steinernen Arbeitstisch stand. Perfekt gehauen, ohne jede Bearbeitungsspur, vollkommen bis ins letzte Detail, schien sie mehr aus Magie als Kunstwerk erschaffen als durch die Hände eines Handwerkers. Wen wunderte das - dies war der Turm der Magier und sie schufen sich ihre Kunst ebenso wie alles andere selbst, sofern sie es vermochten.
Die Statue zeigte einen schlanken Elfen, schlank und fast mager selbst für sein Volk, mit markanten, scharf geschnittenen Gesichtszügen. Alles an ihm stimmte, die Proportionen, sogar die Kleidung, alles war perfekt gelungen. Hätte man diese Statue auf dem Marktplatz von Delucia aufgestellt, es hätte wohl kaum verwundert, wenn so manch einer, der des Nachts von der Taverne nach hause torkelte, sie gegrüßt hätte, so täuschend echt schien sie.

"So bereit?", hatte der Magier gefragt. Unbehagen keimte in Serrin auf. Misstrauisch blickte er zu dem Alten und deutete auf sich. "Ihr wollt ein Testobjekt für Euren Versuch?", fragte er, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Der alte Mann nickte dazu nur eifrig und Serrin zischte erbost. Was glaubte der Alte eigentlich? Hielt er ihn für einen Narren? Gerade wollte der Drow den alten Magier wütend zurechtweisen, als eine Idee in ihm aufkeimte.
Der Zauber hatte Macht, ohne Zweifel. Zauber wie dieser waren es, die Serrin suchte. Diese Spielereien, mit denen er sich derzeit zufrieden geben musste, missfielen ihm. Das hier, das war eine Formel, wie er sie suchte. Nicht das kurze Aufflackern magischer Energien, lose gebündelt und nur halb gelenkt durch unzulängliche Novizen- oder Magierhände sondern tiefgreifend und machtvoll.
"Wartet, qu'elaeruk", sagte Serrin, immer noch zögernd, denn das Risiko war letztendlich sehr hoch. "Ich willige ein - unter einer Bedingung."
Die Ungeduld war dem alten Magier anzusehen und nun kam auch noch Unwillen hinzu, aber Serrin dachte nicht daran, dem Alten jetzt seinen Willen vollkommen zu lassen.
"Ich will, dass Ihr mich dafür diesen Zauber lehrt", sagte er entschlossen, "wenn schon nicht gleich, dann doch sicher später, wenn meine Kraft groß genug dafür ist."
Der alte Mann schien zu zögern. Serrin konnte nur erraten, was in seinem Kopf vorgehen mochte. Vorsicht, vielleicht? Misstrauen, ihm, dem Dunkelelfen gegenüber? Ein einfaches Abwägen, ob es sich lohnte, ein solches Versprechen abzugeben? Vielleicht sogar Geiz, was die entwickelte und zweifelsohne mächtige Formel anbelangte? Serrin wusste es nicht - aber er wollte die Formel, um jeden Preis. Seine Handfläche und die dünnen, immer noch nur schlecht verheilenden Striemen darin brannten bei dem Gedanken.
Samael Ben Nebos Worte klangen zögerlich in den Ohren des Drow, aber das reichte ihm: "Ich gelobe, sofern Ihr die Möglichkeit dazu erfahrt, Euch entsprechendes Wissen zu lehren, was mich aber jeglicher Verantwortung entbindet."
Serrin reichten die Worte des alten Magiers. Er hoffte nur, dass Samael Ben Nebo sie auch einhalten würde. Ihm war durchaus zuzutrauen, dass er sein Wort brach, aus einer puren Laune heraus. Trotz allem war Serrin immer noch nicht gelungen, den alten Mann zuverlässig einzuschätzen.
Der Drow nickte vorsichtig. "Bwael, so soll es sein", sagte er. Gerade wollte er den Magier noch daran erinnern, dass er die Zauberwirkung bald wieder aufheben sollte - da spürte er schon, wie feines Pulver sich auf seine Haut legte. Starre erfasste seine Haut und zog sie zusammen. Es fühlte sich an, als würde er lebendig begraben, alles schien zu erstarren und urplötzlich wurde es schwarz um ihn, als seine Augen zu kaltem Stein erstarrten. Seine Gedanken rasten - zu schnell, Samael wollte betrügen! Zu spät... viel zu spät, der Zauber war gelungen. Vergeblich kämpfte Serrin gegen die steinernen Fesseln seines Körpers an, aber nichts als seine Gedanken schienen sich noch rühren zu können. Die Schwere des Steins schien langsam auch sie einzuholen. Der Dunkelelf spürte keine Angst und keinen Zorn auf den Magier. Es war, als ob seine Gedanken tatsächlich losgelöst vom Körper und völlig frei waren.
Er hatte noch etwas sagen wollen. Er hatte dem alten Mann ein weiteres Versprechen abnehmen wollen. Das Versprechen zur Rückkehr. Aber der Alte hatte nicht gewartet... .
Ein leises Bedauern regte sich in Serrin.
Aber letztendlich war es gleichgültig. Serrin genoss die schwarze Kühle des Steins, genoss die Klarheit, mit der sich seine Gedanken auf einmal bewegen konnten. So frei von Gefühlen, logisch und frei war sein Verstand noch nie gewesen. Mit plötzlicher Schärfe erkannte er auf einmal, was vorging, und begriff. Wie simpel, wie elementar die Welt doch in Wahrheit war... . Wie bedeutungslos waren doch die meisten seiner Wünsche bisher gewesen - die meisten. Selbst jetzt glaubte er, ein sanftes Brennen in seiner steinernen Hand zu spüren, ein Brennen, das in seinen Gedanken Widerhall fand: Wissbegier. Langsam noch und zögernd machten sich seine Gedanken auf die Reise. Jetzt, in diesem Zustand der Freiheit, war ihm so vieles möglich. Er wollte es genießen und nutzen - war es je anders gewesen? War er nicht immer schon so frei gewesen? Seine Zeit in seinem lebendigen Körper schien ihm plötzlich bedeutungslos und kurz... .

In dem Labor strichen die Stunden dahin. Die Magier kamen und gingen wieder. Einige begutachteten die kunstvolle Statue, andere schienen über sie zu debattieren. Einer von ihnen wollte sich daranmachen, sie genauer zu untersuchen, aber Samael Ben Nebo wachte über sein Werk. Der Abend und die Nacht zogen herauf, die Nacht wurde zum Tage. Grau, starr, perfekt und ohne jede Bewegung stand die Statue im Turm der Magier.

(c) TinTamarra, 2002