Die
Frau in dem blitzenden Kettenhemd lacht mit Stolz und Sicherheit. Ihr
blondes Haar leuchtet in der Morgensonne, und ihr Lächeln ist voller Wohlwollen
und Freundlichkeit, schafft Vertrauen. Das Mädchen erkennt nicht die Falschheit.
Sanft redet sie auf das Mädchen ein, legt schützend den Arm um seine Schultern,
spendet Geborgenheit wie eine Mutter. Sie beruhigt das Mädchen, lullt
es ein, lockt und verführt. Die Wachsamkeit des Mädchens schwindet, sein
Mißtrauen schmilzt dahin.
Dann hat die blonde Frau ihren Willen und zeigt ihr wahres Gesicht. Tod
bringt sie, Schmerz und Leid, Blut und... Schuld.
Vater, verzeih mir! Verrat! Verrat!
Als
Alcana die Augen aufschlug, schien bereits das Licht des jungen Frühlingstages
durch das geöffnete Fenster; kühle Luft strich über ihre Haut. Sie zwang
sich aufzustehen, obwohl der Wunsch, sich einfach der Trägheit zu ergeben
und ruhig liegenzubleiben, beinahe übermächtig war. Sie streckte sich
und gähnte. Sie fühlte sich nicht besonders erfrischt, wie der Schlaf
sie überhaupt nur selten erquicken konnte, aber zumindest waren die düsteren
Grübeleien des Abends an diesem Morgen nur ein blasser Schatten. Ihr Kopf
schmerzte, und sie hatte einen schalen Geschmack im Mund - zweifellos
Folgen von Wein und Branntwein.
Kaltes Wasser weckte ihre Sinne, und sie wusch sich den Staub der vergangenen
Reise vom Körper, aber das schien eine sinnlose Mühe zu seine, denn ihren
Kleidern haftete weiterhin der Gestank von Schweiß und Schmutz an. Als
sie sich angezogen hatte, trat sie an das Fenster und lehnte sich hinaus.
Die Brise, die von den nahen Bergen herabkam, war eisig.
Hochtraben war ein sehr alter Ort. Er war zu einer Zeit gegründet worden,
als noch ein reger Verkehr über den Paß geherrscht hatte, und aus jener
Zeit stammte auch das alte Gasthaus. Aber inzwischen waren die Handelsbeziehungen
zwischen Rauhen und dem Königreich nicht mehr sonderlich ausgeprägt, und
daher wurde auch die Paßstraße nicht mehr so häufig benutzt wie in alter
Zeit. Natürlich zogen immer noch ein rundes Dutzend Händlergruppen jeden
Monat durch Hochtraben zum Paß, aber das genügte nicht, um den Verfall
des Ortes aufzuhalten. Viele Häuser standen schon leer, nur ein Gasthof
war geblieben - Hochtraben fiel in Trümmer, während die Ortschaften Treman
und Almion im Süden aufblühten.
Der große Gong des Stadtturmes wurde zur dritten Stunde nach Tagesanbruch
geschlagen. Alcana schnallte ihr Schwert um, ergriff den Mantel und ihr
spärliches Gepäck und verließ das Zimmer. Ein lautes Quietschen zeugte
von ungeölten Scharnieren, als die Tür hinter ihr zufiel.
Der Innenhof lag im fahlen Licht des Morgens. Ihr fröstelte und hurtig
sprang sie die Holztreppe hinab. Hier hatte sich in den vielen Jahren
nichts verändert. Der Hof wurde zu drei Seiten hin von dem Gemäuer des
Hauses umschlossen, während die vierte Seite ganz von dem großen Holztor
ausgefüllt wurde. Zur Linken des Tores lag der Stall, und rundherum mündeten
noch einige andere Türen in den Hof; aus einer quoll dichter Dampf: die
Küche. Unter der Treppe räkelte sich eine alte Katze zwischen leeren Weinfässern,
Heuhaufen und faulendem Abfall. Daneben stand der kleine Holzverschlag
des Abortes und verbreitete einen erbärmlichen Gestank.
Alcana fand den Alten in der Küche, wo er gerade den abkühlenden Steinofen
mit ein feuchten Tuch auswischte. Ein paar dampfende Brotlaibe lagen auf
dem Tisch. Sie wünschte ihm mit rauher Stimme einen guten Morgen.
»Schon aufgestanden?«
wunderte er sich, um sie etwas aufzuziehen. »Ich habe nicht vor dem Abendessen
mit dir gerechnet.«
»Das wäre schön gewesen«, gab sie zu. »Ich hätte gerne mal ausgeschlafen,
aber ich muß bald aufbrechen.«
Er wandte sich ab, als sei er ganz von seiner Tätigkeit in Anspruch genommen.
»Drüben auf dem Tisch liegen einige Kleider für dich«, murmelte er ohne
aufzusehen. Seine Verärgerung war unübersehbar.
Alcana seufzte. Warum mußte ihr Wiedersehen unter dieser Mißstimmung leiden?
Mit Vergnügen hätte sie sich für eine Weile ausgeruht, ihren Frieden gemacht
mit sich, der Welt und ihrer Vergangenheit! Aber die Umstände ließen das
nicht zu. Konnte er dies nicht einsehen?
»Ich danke dir«, sagte sie, nahm das Bündel und ging.
Kurz darauf betrat sie die Gaststube in einer Kleidung, die im Königreich
weit verbreitet war: ein fast knielanger Leibrock von erdbrauner Farbe
sowie enge, dunkle Hosen. Edward, der gerade beim Frühstück saß, nickte
anerkennend.
»Ihr seht gut aus«, sagte er, errötete und versicherte eilig: »Ich meine,
Ihr seht angemessen aus für unsere Reise.«
Sie nahm neben ihm Platz. Es gab frisches Brot, sauren Rahm, Ziegenkäse,
Honig, einige Äpfel und etwas kaltes Fleisch.
»Wie darf ich Euch nennen?« fragte er.
»Nun, wie wäre es mit Agnes?«
»Hm«, nuschelte er mit vollem Mund. »Ich nehme an, Ihr habt diesen Namen
noch nicht verwendet?«
Sie schüttelte den Kopf. »Na ja, Agnes aus Hochtraben - klingt nicht übel«,
meinte er gnädig und wandte sich wieder seinem Mahl zu. »Das Brot ist
ganz frisch - köstlich!«
Alcana lächelte. »Ich war dabei, als es aus dem Ofen geholt wurde.« Sie
aß reichlich. Mit Kummer bedachte sie, daß die Verpflegung in den nächsten
Tagen wohl spärlicher ausfallen würde. Nach einer Weile wandte sie sich
wieder an ihren Reisegefährten und frug: »Habt Ihr eigentlich ein Pferd?«
Edward nickte kommentarlos.
Der
Glockenschlag zur vierten Stunde war schon seit geraumer Zeit verklungen,
als sie sich zum Aufbruch bereit machten. Im Hof stand neben Alcanas Rappen
Edwards braune, sanfte Stute, die er Schringel nannte, gesattelt und gezäumt.
Alcana wies auf ihr Roß und mit einem kurzen Blick zu dem Alten erklärte
sie: »Das ist das Pferd ohne Namen.«
Edward verstand die Anspielung natürlich nicht und nickte nur, doch der
Alte lächelte nachsichtig. Er hielt ein Übermaß an Verpflegung und guten
Ratschlägen für sie bereit, winkte jedoch ab, als Edward seine nicht unbeträchtliche
Zeche begleichen wollte.
»Gebt mir nur gut acht auf diese Frau, junger Mann«, sagte er in väterlichem
Tonfall und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Seht zu, daß ihr nichts
zustößt, damit sie ihr Versprechen, mich wieder zu besuchen, einhalten
kann.«
»Ich werde tun, was ich kann«, versprach Edward. Er trug jetzt unter dem
Mantel ein kurzes Schwert; in der Wildnis, durch sie zu reisen gedachten,
war Mißtrauen angebracht.
Der Alte umarmte Alcana ein letztes Mal. »Lebe wohl, mein Kind!«
»Ich komme wieder«, versprach sie. Ihr Gesicht blieb unbewegt, aber der
Alte wußte, wie leer dieses Versprechen in Wahrheit war, wie wenig sie
noch von ihrem Weg vorhersehen konnte.
»Gewiß«, sagte er müde. Sein Lächeln glich mehr einer Grimasse. »Wenn
ich dann nicht mehr da bin, wirst du mein Grab unter der gespaltenen Weide
finden.«
»Ich kenne die Weide«, sagte sie rauh und legte ihren dicken Wollmantel
an. »Alles Gute.«
Sie verspürte eine seltsame, widersprüchliche Mischung aus Bedauern und
Erleichterung, als sie endlich aufbrachen. Sie ritten durch den leeren
Steinbogen und nahmen eben jene Straße, die Alcana in der vergangenen
Nacht in entgegengesetzter Richtung dahergekommen war. Nur mäßig befestigt
zog sie sich durch das verwilderte Land, die Randsteine überwuchert von
Efeu und Gräsern, beschattet von kahlen Buchen, die trotz ihrer Größe
seltsam verwachsen und verkrüppelt erschienen, als litten sie vielerlei
Mangel in dieser kalten Einöde.
Abseits der Straße standen Bäume nur mehr vereinzelt in kleinen Gruppen
von Kiefern und Lärchen, dazwischen wuchsen Wacholder, Schlehe und Dornengestrüpp.
Bestellte Felder gab es kaum. Und bald passierten Edward und Alcana auch
die alte Weide, in die vor undenklichen Zeiten ein Blitz gefahren war
und sie in zwei verkrüppelte Hälften geteilt hatte. Bei diesem Anblick
wurde Alcana mit Deutlichkeit bewußt, daß sie den Alten wohl in der Tat
nicht mehr wiedersehen würde, und sie bedauerte den unschönen Abschied.
Schöne, freundliche Worte kamen ihr nicht leicht über die Lippen. Sie
hatte sich dieses Wiedersehen durchaus anders vorgestellt, doch nur selten
in ihrem Leben waren die Dinge bislang in der Weise geraten, wie sie es
zuvor erwartet oder gar erhofft hatte.
Bald entschwand das fahlgraue Mauerwerk Hochtrabens hinter dem kahlen
Dickicht, und sie gelangten zu einer Abzweigung. Der Hauptweg führte weiter
nach Süden, während sich ein vergleichsweise schmaler Pfad gen Osten wandte,
dem Gebirge entgegen, welches sich im Norden und Osten hoch vor ihnen
auftürmte. Es hatte den Anschein, als lägen die Berge zum Greifen nahe;
aber dieser Eindruck täuschte. Es trennten sie noch viele Wegstunden von
den weißen, schneebedeckten Höhenzügen.
An der Abzweigung stand ein halbverrotteter Pfahl in den Boden gerammt.
Früher hatte er als Wegweiser gedient, aber das Schild war längst abgefallen,
und Efeu rankte sich an dem Pfahl empor. Sie hielten sich nicht lange
auf und folgten dem Pfad nach Osten.
Der Mittag ging vorüber, und sie legten eine kurze Rast ein, um sich mit
Datteln, Räucherschinken, Brot und Käse zu stärken. Dazu tranken sie Wasser
und einige Schlucke Wein. Das kalte Wetter lud nicht zum gemütlichen Verweilen
ein, und schon bald brachen sie wieder auf.
Der Ritt durch den fahlen Wintertag verlief ausgesprochen eintönig, und
Alcana wurde schläfrig. Nur die eisige Kälte des Windes, der von den Bergen
herab pfiff, hielt sie wach. Innerlich fühlte sie sich einfach nur niedergeschlagen,
ohne aber an irgend etwas Bestimmtes zu denken. Waren es die letzten wehmütigen
Gedanken an ihren alten Freund in Hochtraben? Oder waren es die Gefahren
und die Ungewißheit des vor ihr liegenden Weges? Die kahle Umgebung und
die feuchtkalte Witterung taten jedenfalls ein Übriges, die Stimmung nachhaltig
niederzudrücken.
Edwards Gesellschaft war ihr im Augenblick ziemlich gleichgültig. Sie
empfand ihn weder als lästig, noch ausgesprochen hilfreich. Immerhin nötigte
er ihr keine andauernden Gespräche auf, wie sie nach dem Abend in der
Gaststube fast befürchtet hatte. Er spürte ihre Verschlossenheit und ließ
sie in Ruhe. Diese Zurückhaltung war eine durchaus schätzenswerte Eigenschaft,
allerdings fragte sie sich, warum er sie dann unbedingt hatte begleiten
wollen, wenn er nun doch kaum mehr ein Wort mit ihr wechselte. Überhaupt
schien auch er kein übermäßig gesprächiger Mensch zu sein, und so blieben
sie jeder für sich in seine eigenen Gedanken versunken.
Als der Abend nahte, begann das Gelände endlich deutlich anzusteigen.
Zwischen den felsigen Höhenzügen hindurch schlängelte sich der Weg allmählich
höher und höher, den gewaltigen Gipfeln von Roßkopf und Nebelbürge entgegen,
die hoch über ihrem jetzigen Standort thronten. Die ersten schroffen Felsgrate
erhoben sich aus der kärglichen Landschaft, in der neben winterkahlen
Lärchen einzig Föhren und Arven mit ihren Nadeln blaugrüne Farbtupfer
schufen.
In einer windgeschützten Senke schlugen die beiden Wanderer ihr Lager
auf. Sie aßen Brot und Zwiebeln, tranken, um sich zu wärmen, einige Schlucke
von dem Branntwein, den ihnen der alte Wirt mitgegeben hatte, und rollten
sich in ihre Decken. Eine Weile lag Alcana noch wach und betrachtete nachdenklich
die Wolken, die in bleichen Fetzen über den nächtlichen Himmel jagten,
als wären sie Schaum und Gischt der stürmischen Lüfte. Als endlich der
Mond über den Bergkämmen aufging, schlief sie ein.
»Das
war eine stürmische Nacht«, sagte Edward beim Frühstück. »Ich konnte nicht
gut schlafen.«
»Ich hatte keine Schwierigkeiten«, behauptete sie, derweil sie die Decke
zusammenrollte.
»Kein Wunder! Ihr seid auch an das Übernachten in der Wildnis gewöhnt.«
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Eigentlich nicht, zumindest nicht mehr.
Obschon es eine Zeit gab, in der ich nur selten ein Dach über dem Kopf
hatte. Ich denke, ich schlafe ganz gerne draußen. - Obwohl ich natürlich
auch die Vorzüge eines weichen Bettes zu schätzen weiß.«
Edward warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. »Ihr redet nicht gerne
über Eure Vergangenheit, oder?« stellte er fest.
»Nein«, erwiderte sie schroff, um ihn dann aufzufordern: »Kommt! Laßt
uns Brennholz für die nächsten Tage sammeln! Weiter oben auf dem Paß gibt
es keine Bäume.«
Die Wolken hatten sich im Laufe der Nacht zu einer geschlossenen Decke
verdichtet, die schwer und dunkel über ihnen lastete. Schon bald fielen
die ersten Tropfen, und den ganzen Tag über hörte es nie ganz auf zu regnen.
Nach kurzer Zeit waren Alcana und Edward bis auf die Haut durchnäßt und
froren, denn der Wind hatte kaum an Stärke eingebüßt. Die Lärchen bogen
sich wie traurige, braune Gerippe; und auch die Arven wirkten mit ihren
langen Nadeln und ihrem bisweilen ungleichförmigen Wuchs reichlich zerzaust.
Immer höher kletterte die einsame Straße, die eher einem Pfad glich, kämpfte
sich in engen Windungen die steilen Hänge hinauf, und schließlich duckten
sich ringsum nur mehr flache Büsche vor den Eiswinden des Gebirges.
Für einen kurzen Moment klärte sich die Witterung, und als sich Alcana
auf einem hohen Grat umwandte, schien es ihr, als könne sie, weit hinter
ihnen - und viel tiefer noch - zwei dunkle Punkte auf der Paßstraße erkennen.
Diese Entdeckung versetzte ihr einen Stich, und das Gefühl, verfolgt zu
werden, nahm von ihr Besitz. Mit einer schmerzhaften Klarsicht ahnte sie,
wer diese beiden fernen Wanderer waren, dabei war es unmöglich, aus dieser
Entfernung Einzelheiten zu erkennen. »Sie sind es«, murmelte sie.
»Was sagt Ihr«, fragte Edward.
»Seht dort!« Sie wies mit der Hand in die Ferne. »Zwei Menschen folgen
unserem Weg.«
Er kniff die Augen zusammen. »Schon möglich. So genau läßt sich das auf
diese Entfernung nicht erkennen.«
»Ich weiß, wer die beiden sind«, sagte sie düster.
»Erwartet Ihr Verfolger? Ihr habt nichts dergleichen erwähnt.«
»Ich habe nicht die Absicht, Euch meine gesamte Lebensgeschichte zu erzählen.«
»Das braucht Ihr auch gar nicht«, sagte er. »Doch wenn uns von Euren Feinden
Gefahr droht, sollte ich davon erfahren, meint Ihr nicht?«
Sie seufzte. »Gewiß. Vor rund zwei Jahren haben sich zwei Kopfgeldjäger
an meine Fersen geheftet. Sie waren sehr hartnäckig, doch ich legte eine
Reihe von falschen Fährten, um sie in die Irre zu führen. Ich dachte,
ich hätte sie abgeschüttelt.«
»Diese beiden Wanderer könnten ebenso gut Händler sein oder andere Reisende,
mit denen wir nichts zu schaffen haben.«
»Im Laufe der Zeit habe ich ein Gespür für meine Verfolger entwickelt«,
bekannte Alcana. »Ich fühle ihre Nähe, und ich weiß: sie sind es!«
Edward erkannte die Nutzlosigkeit einer weiteren Diskussion. Er zuckte
die Achseln und meinte lächelnd: »Dann sollten wir hurtig unseren Aufstieg
fortsetzen, damit sie uns nicht so bald einholen, wenn ihnen das überhaupt
gelingen soll. Es wäre mir ohnehin recht, wenn wir die Hütte vor
Einbruch der Dämmerung erreichen würden. In dieser Gegend möchte ich nicht
gerne im Freien übernachten. Ihr kennt die Geschichten von den Schneenurmen?«
»Ich kenne sie«, erwiderte sie lachend. »Meine Amme erzählte mir oft von
den Kreaturen der eisbedeckten Berggipfel, die des Nachts über die Grate
schreiten und unvorsichtige Wanderer verspeisen. Aber seht her, ich habe
ein Schwert und weiß damit umzugehen!«
»Das glaube ich gerne. Dennoch wäre es töricht, unnötige Risiken einzugehen.«
»In der Tat.«
So brachen sie wieder auf, doch das Vorankommen wurde zunehmend schwieriger.
Der Pfad war streckenweise so rutschig und schmal, daß sie nicht nebeneinander
reiten konnten, und oftmals mußten sie absteigen und ihre Tiere über das
tückische Geröll führen, das sich im vergangenen Winter auf der Straße
angesammelt hatte.
Der Regen setzte wieder ein und ging bald in Schnee über. Die nahegelegenen
Berghänge und Gipfel waren durch Wolken und Schneegestöber hindurch kaum
zu erahnen, und mitunter war selbst die Paßstraße kaum zu erkennen.
»Ich dachte, der Paß wäre in jeder Jahreszeit gut zu überschreiten«, rief
Alcana ihrem Begleiter zu. Der eisige Wind trieb ihnen die Schneeflocken
in die Augen, und die Kälte fand in ihren feuchten Kleidern eine Heimstatt.
Er antwortete: »So sagt man. Doch ich weiß von keinem, der diesen Weg
im Winter versucht hätte. Ich selbst bin im frühen Herbst nach Rauhen
gekommen.«
Sie hielten kurz an, um sich zusätzliche Kleider anzuziehen und mit einem
Schluck Branntwein zu stärken. »Gesegnet sei der Wirt des Zerbrochenen
Stern«, erklärte Edward.
Nach einer Weile tauchte die Paßstraße in eine enge Schlucht. Kahle Steilhänge
erhoben sich zu beiden Seiten und schützten sie etwas vor dem Schnee und
dem Wind. Die Schlucht weitete sich wieder, und die zurückweichenden Hänge
gaben den Blick auf die Hütte frei. Sie war ein viereckiger, fensterloser
Bau, der vor langer Zeit von cerinischen Söldnern aus umherliegenden Felsbrocken
errichtet worden war, um Reisenden Unterschlupf zu gewähren. Über dem
breiten Eingang hatten unbekannte Hände Runen zur Abwehr von Gefahr und
bösen Geistern eingeritzt. Das Innere war so geräumig, daß auch größere
Reisegruppen mit ihren Tieren darin Platz fanden, doch das Holzdach wies
zahlreiche kleine Löcher auf und durch die Ritzen der Wände pfiff der
Wind.
Edward verriegelte sorgfältig die Tür, und sie entfachten mit dem mitgeführten
Brennholz ein wärmendes Feuer, an dem sie ihre Kleider trocknen konnten.
Nachdem sie frische Sachen angezogen und die Pferde versorgt hatten, saßen
sie erschöpft beim Feuer, tranken heißen Kräutertee und kauten auf den
letzten Brotkrusten und Hartwürsten. Der Rauch des Feuers und die Ausdünstungen
der Pferde vermischten sich mit dem Modergeruch der Hütte zu einem schweren
Dunst.
»Wie lauten Eure weiteren Pläne?« fragte Edward nach einer Weile des Schweigens.
»Um ehrlich zu sein, ich habe noch keine Pläne«, gab Alcana mit rauher
Stimme zu. »Ich bin in erster Linie nur müde, immer davonzulaufen. Früher
glaubte ich, in der Fremde ruhig leben zu können, doch meine Feinde verfolgten
mich auch dort. Die Schlußfolgerung ist einfach: ich muß mich ihnen stellen!«
»Doch wie könnt Ihr alleine gegen sie bestehen?«
Sie lächelte freudlos. »Ich habe wenig Hoffnung.«
»Ihr braucht Verbündete«, stellte er fest. Er rieb sich das Kinn und erklärte
etwas zögerlich: »Ich habe einen Vorschlag.«
»Ich höre.«
»Geht mit mir nach Branjoch!« schlug er vor. »Mein Vater wird Euch sicherlich
Unterkunft und Schutz gewähren. Er ist kein Freund König Karls.«
»Würde er mir auch Ritter geben, um mein Geburtsrecht durchzusetzen?«
fragte sie.
»Das bezweifele ich.«
Sie schüttete den Rest ihres Tees ins Feuer. »Dann wäre auch dies nur
eine weitere Flucht, fürchte ich.« Sie erhob sich. »Wir sollten jetzt
schlafen.«
Er nickte und rüttelte noch einmal prüfend an der Tür. »Ich denke, dieser
Riegel wird alle Unbilden von uns fern halten.«
»Das hoffe ich.«
In ihre Decken gehüllt drängten sie sich alsbald Rücken an Rücken, um
einander etwas Wärme zu spenden. Das Feuer brannte nieder, und die Schatten
ertranken in sich selbst. Die Glut der Asche rief auf den steinernen Wänden
nur einen schwachen Widerschein hervor, der langsam erlosch. Das Heulen
des Windes hatte nachgelassen, und bald verstummte es ganz. So schliefen
sie ein.
Später in der Nacht schrak Alcana hoch und griff nach ihrem Schwert. In
der Hütte war es dunkel und still, doch draußen vernahm sie Schritte,
dann ein kratzendes Geräusch an der Tür und ein zorniges Flüstern. Mit
entblößter Klinge trat sie an die Tür und horchte, nur das alte Holz zwischen
sich und dem nächtlichen Besucher. Sie hörte einige zischende Worte, die
sie nicht verstand, und erhaschte durch einen schmalen Ritz im Holz einen
flüchtigen Blick auf eine dürre, bleiche Gestalt. Glänzte dort ein kaltes
Auge im Sternenlicht? Krümmte sich dort eine Klaue? Mit einem sehnsuchtsvollen
Seufzer trat die Kreatur zurück und entfernte sich mit leisen Schritten.
Alcana atmete tief durch und sprach eine kurze, rituelle Dankesformel
an Uvelle, die Göttin der Wanderer und Heimatlosen. Noch eine ganze Weile
kauerte sie auf ihrem Lager und lauschte, doch nichts weiter behelligte
sie in dieser Nacht.
Am Morgen
war das Wetter in der Tat deutlich milder. Der Wind blies nur noch schwach,
und ein leichter Nieselregen ließ den Schnee matschig werden und schmelzen.
Mit frischer Kraft brachten Alcana und Edward die letzten Meilen bis zum
Scheitelpunkt des Passes, zwischen den schneebedeckten Gipfeln des Roßkopfes
und der Nebelbürge gelegen, hinter sich. Dort saß seit Menschengedenken
der Wächter des Passes, eine Steinstatue, die einen hockenden Gnom mit
zierlichem Körper und großem, haarlosem Schädel darstellte. Ein merkwürdiger
Zauber mußte diesem Stein innewohnen, denn die fremdartigen, entrückten
Gesichtszüge trotzten Wind und Wetter, ohne ihre Klarheit und Schärfe
eingebüßt zu haben.
»Es ist fürwahr lange her, daß ich ihn sah«, murmelte Alcana mit zusammengekniffenen
Augen. »Er sieht grimmig und verloren aus, meint Ihr nicht?«
»Ich habe einen ähnlichen Eindruck«, stimmte Edward zu. »Das Gesicht und
die Haltung sind wirklich sehr eindrucksvoll.«
»Ob die alten Cerinier ihn aufgestellt haben?«
Edward schüttelte den Kopf. »Ich glaube kaum. Dieses Standbild ist nicht
nach cerinischem Stil gefertigt.«
»Es muß sehr einsam sein, tagaus tagein an diesem kalten Ort auszuharren«,
meinte sie gedankenverloren. »Zu Stein erstarrt.«
Edward lachte. »Wir können ihm ja eine Weile Gesellschaft leisten. Mein
Magen knurrt ohnehin schon«, sagte er. Sie stimmte ihm zu, und sie ließen
sich neben dem Wächter des Passes nieder und breiteten ihre letzten Vorräte
auf einer Decke vor sich aus: einige Datteln, ein Ende Hartwurst, etwas
Käse und hartes Brot. Dies war sicherlich keine festliche Mahlzeit, zumal
sie sich noch etwas für das Abendbrot aufsparen mußten, aber sie aßen
mit großem Hunger und Appetit und tranken Tremaner Wein dazu.
»Morgen kommen wir zum Marktal«, tröstete Edward sich. »Dort werden wir
ein warmes Abendessen bekommen.«
»Gewiß. Aber Vorsicht! Wo Menschen sind, lauern auch Gefahren! Und in
der Markburg werden Fremden mitunter Fragen jener Art gestellt, die ich
nicht gerne beantworten möchte.«
Er nickte ernsthaft. »Nun ja, wenn der Graf seinen Wegezoll erhält, verzichtet
er gerne auf überflüssige Fragen. Ich glaube nicht, daß er sich sehr für
Eure oder meine Geschichte interessiert.«
»Vielleicht nicht, aber wir müssen besondere Vorsicht walten lassen, sobald
wir die Grenze des Königreichs überschreiten. Vergeßt niemals, mein Name
ist Agnes.«
Sie erhob sich und blickte nach Osten. Hier fielen die Hänge von Roßkopf
und Nebelbürge steil zu einer schmalen Schlucht hin ab, welche Aspental
genannt wurde. Es schien in greifbarer Nähe zu liegen, doch Alcana wußte
nur zu gut, daß ihnen noch ein beschwerlicher Abstieg bevorstand. In engen
Serpentinen grub sich die Straße in die eisengraue Flanke der Nebelbürge.
»Wir sollten aufbrechen«, meinte Alcana zu ihrem Begleiter. »Dann werden
wir vor der Dämmerung das Aspental erreicht haben.«
Edward nickte.
»Lebewohl, kleiner Freund«, sagte Alcana mit einem feinen Lächeln auf
den Lippen zu dem hockenden Steinbild. »Ich hoffe, die Zeit wird dir hier
oben nicht zu lang.«
Der Abstieg war mühevoll und mitunter gefährlich an Stellen, wo Geröll
sich über die schmale Straße ergossen hatte, doch am Ende des Tages gelangten
Alcana und Edward auf den weichen Grund des Aspentals, wo Moos und niedrige
Gräser zwischen den blanken Felsen sprossen. Hier und da erhoben sich
einzelne strauchartige Kiefern.
Edward wandte sich um zu Roßkopf und Nebelbürge, die in der klaren Abendsonne
erstrahlten, und verneigte sich etwas spöttisch vor ihnen. »Diesem kargen
Pfad trauere ich nicht nach«, erklärte er. »Lebt wohl, hohe Felsen!«
Alcana sagte nichts dazu, und so saßen sie auf und ritten eine Weile schweigend
nebeneinander her, bis sich die Dämmerung herabsenkte und vor ihnen die
Gebeinkluft aus den länger werdenden Schatten auftauchte. Vor undenklichen
Zeiten hatte sich über die gesamte Breite der Schlucht eine tiefe Spalte
aufgetan, welche nur über eine schmale Holzbrücke zu überqueren war.
In den Jahren der cerinischen Eroberungen hatte sich an diesem Ort eine
Schlacht* zugetragen, welche
von den nachfolgenden Generationen lange besungen worden war. An diesem
geschichtsträchtigen Ort hielten Alcana und Edward nun inne und entfachten
mit ihrem letzten Holz im Windschutz des Brandfelsens ein kleines Lagerfeuer,
dessen Glut der aufkommenden, nächtlichen Kälte trotzte. Von ihren Vorräten
war fast nichts mehr übrig geblieben, und so trösteten sie ihre Mägen
mit dem Branntwein des Alten. Sie erzählten sich, was sie von den Legenden
der Gebeinkluft wußten. Von den Geistern der Erschlagenen, welche Reisenden
im Schlaf erschienen, vom toten König Urest, welcher zur Wintersonnenwende
umherstreifte, um die Unterwerfung seines Stammes zu beklagen, und von
Kreaturen, welche in der Tiefe der Gebeinkluft an den alten Knochen nagten
und mit flüsternden Stimmen Flüche und Verwünschungen austauschten.
»Dies ist ein Ort voll dunkler Erinnerungen«, sagte Edward. »Die Felsen
haben das Blutvergießen noch nicht vergessen, obwohl es schon so lange
her ist.«
Alcana nickte. »Es macht in der Tat den Eindruck.« Sie hatte ihre Flöte
in die Hand genommen und betrachtete sie gedankenverloren.
»Könnt Ihr Flöte spielen?« frug Edward.
Sie nickte lächelnd. »Es würde sonst wenig Sinn machen, sie mitzuführen,
oder?«
»Für Euch scheinen einige Erinnerungen mit dem Instrument verbunden zu
sein.«
»Das habt Ihr gut erkannt!«
»Wollt Ihr vielleicht etwas vorspielen, eine lustige Weise, die unsere
Gedanken aufhellt?« schlug er vor.
»Eigentlich nicht«, meinte sie. »Die Flöte ist nicht für fröhliche Lieder
geeignet, glaube ich.« Sie schüttelte den Kopf, doch ihre Hände legten
die Flöte nicht ab. Es war ein seltsames Instrument, ausgestattet mit
merkwürdigen Eigenheiten und Kräften, und manchmal argwöhnte sie, daß
ihm ein eigener verborgener Wille innewohnte. »Gleichwohl schöpfe ich
oft Trost aus ihrem Spiel. Allerdings muß ich dabei sehr vorsichtig sein.«
Sie führte nicht weiter aus, was sie mit der letzten Bemerkung gemeint
hatte, sondern legte die Flöte an die Lippen und blies fast beiläufig
eine kurze Tonfolge, eine einfache alte Melodie. Klar, hell und einsam
streiften die Töne durch die kalte Bergluft; ein wehmütiges Lied, welches
der Geschichte des Ortes angemessen war.
Der Flötenklang erhob sich weit und hoch, kroch an den Berghängen empor,
allmählich aufgezehrt durch die Entfernung, doch für aufmerksame Ohren
weiterhin vernehmlich, und verhallte erst über den Geröllfeldern und Graten.
Mancherlei Geschöpf, welches in der Nacht umherstreifte, verharrte, um
den ungewohnten Klängen zu lauschen, so auch zwei Männer an ihrem kalten
Nachtlager hoch auf dem Paß. Der eine war schmächtig, mit scharfen Gesichtszügen
und klugen Augen ausgestattet, der andere groß und breitschultrig. Sie
nickten einander zu und lächelten wissend.
Der
Rabe flog hoch über die Abgründe der Nacht, versunken in die Welt seiner
eigenen dunklen Gedanken und Erinnerungen. Obschon sein Geist in einer
fernen Vergangenheit weilte, in Räumen und Taten jenseits der Begriffswelt
der Sterblichen, waren seine Sinne aufmerksam. So vernahm auch er den
Klang der Flöte. Er erkannte ihn, und alle seine Absichten und gefaßten
Pläne wurden mit einem Schlag bedeutungslos. Wie zur Antwort auf ein Signal
oder eine Aufforderung krächzte er laut. Dann wandte er sich um und schoß
zu Tal.
*
Bis ins Aspental
hatte der cerinische Stratege Telero mit seinem Heer die wilden
Bergkrieger unter ihrem König Urest verfolgt. Verzweifelt stellten diese
sich ihm zum Kampf, und ihr Widerstand galt seither als Symbol von Freiheitswillen
und Mut, wenngleich sie doch nicht viel mehr als eine zerlumpte Räuberschar
gewesen waren. Sie setzten hinter sich die Brücke, welche die Kluft überspannte,
im Brand und warteten auf ihre Feinde. Das schwerbewaffnete cerinische Fußvolk
bezog schweigend in Wurfweite des Spaltes Stellung, während die Leichtbewaffneten
mit lautem Kriegsgeheul zum Angriff übergingen: Schleuderer von den äratischen
Inseln, Merester mit Kurzschwertern und geflochtenen Schilden, Truk-Männer
mit einer Haut so schwarz wie Ebenholz und nicht zuletzt die eingeborenen
Leute des Tieflandes, Nain und Taránier, die lange genug den Raubzügen der
Bergstämme ausgesetzt gewesen waren. Mit Leitern und Enterhaken setzten
sie über den Spalt. Urest und seine Streiter empfingen sie in gebührender
Weise. Sie zerschnitten die Seile und stießen die Leitern zurück, und viele
Unglückliche stürzten schreiend in den Abgrund der Kluft, zerschellten an
den Felsen. Ihre bleichen Gebeine gaben der Kluft ihren Namen. Die ersten
beiden Wellen der Angreifer vermochten sie so zurückzuschlagen, doch die
cerinischen Söldner machten durch ihre Überzahl wett, was die Stammeskrieger
ihnen an Wildheit über waren, und unter der dritten Angriffswelle, brachen
die Reihen der Verteidiger. Zu Hauf wurden sie niedergemacht; nur wenige
gerieten in Gefangenschaft, unter ihnen auch König Urest.
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(c)
Andreas
Metz, 2001
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