Die Alcana-Trilogie

Kapitel 3 - Pfad zwischen den Felsen

(c) Andreas Metz, 2001



Die Frau in dem blitzenden Kettenhemd lacht mit Stolz und Sicherheit. Ihr blondes Haar leuchtet in der Morgensonne, und ihr Lächeln ist voller Wohlwollen und Freundlichkeit, schafft Vertrauen. Das Mädchen erkennt nicht die Falschheit.
Sanft redet sie auf das Mädchen ein, legt schützend den Arm um seine Schultern, spendet Geborgenheit wie eine Mutter. Sie beruhigt das Mädchen, lullt es ein, lockt und verführt. Die Wachsamkeit des Mädchens schwindet, sein Mißtrauen schmilzt dahin.
Dann hat die blonde Frau ihren Willen und zeigt ihr wahres Gesicht. Tod bringt sie, Schmerz und Leid, Blut und... Schuld.
Vater, verzeih mir! Verrat! Verrat!

Als Alcana die Augen aufschlug, schien bereits das Licht des jungen Frühlingstages durch das geöffnete Fenster; kühle Luft strich über ihre Haut. Sie zwang sich aufzustehen, obwohl der Wunsch, sich einfach der Trägheit zu ergeben und ruhig liegenzubleiben, beinahe übermächtig war. Sie streckte sich und gähnte. Sie fühlte sich nicht besonders erfrischt, wie der Schlaf sie überhaupt nur selten erquicken konnte, aber zumindest waren die düsteren Grübeleien des Abends an diesem Morgen nur ein blasser Schatten. Ihr Kopf schmerzte, und sie hatte einen schalen Geschmack im Mund - zweifellos Folgen von Wein und Branntwein.
Kaltes Wasser weckte ihre Sinne, und sie wusch sich den Staub der vergangenen Reise vom Körper, aber das schien eine sinnlose Mühe zu seine, denn ihren Kleidern haftete weiterhin der Gestank von Schweiß und Schmutz an. Als sie sich angezogen hatte, trat sie an das Fenster und lehnte sich hinaus. Die Brise, die von den nahen Bergen herabkam, war eisig.
Hochtraben war ein sehr alter Ort. Er war zu einer Zeit gegründet worden, als noch ein reger Verkehr über den Paß geherrscht hatte, und aus jener Zeit stammte auch das alte Gasthaus. Aber inzwischen waren die Handelsbeziehungen zwischen Rauhen und dem Königreich nicht mehr sonderlich ausgeprägt, und daher wurde auch die Paßstraße nicht mehr so häufig benutzt wie in alter Zeit. Natürlich zogen immer noch ein rundes Dutzend Händlergruppen jeden Monat durch Hochtraben zum Paß, aber das genügte nicht, um den Verfall des Ortes aufzuhalten. Viele Häuser standen schon leer, nur ein Gasthof war geblieben - Hochtraben fiel in Trümmer, während die Ortschaften Treman und Almion im Süden aufblühten.
Der große Gong des Stadtturmes wurde zur dritten Stunde nach Tagesanbruch geschlagen. Alcana schnallte ihr Schwert um, ergriff den Mantel und ihr spärliches Gepäck und verließ das Zimmer. Ein lautes Quietschen zeugte von ungeölten Scharnieren, als die Tür hinter ihr zufiel.
Der Innenhof lag im fahlen Licht des Morgens. Ihr fröstelte und hurtig sprang sie die Holztreppe hinab. Hier hatte sich in den vielen Jahren nichts verändert. Der Hof wurde zu drei Seiten hin von dem Gemäuer des Hauses umschlossen, während die vierte Seite ganz von dem großen Holztor ausgefüllt wurde. Zur Linken des Tores lag der Stall, und rundherum mündeten noch einige andere Türen in den Hof; aus einer quoll dichter Dampf: die Küche. Unter der Treppe räkelte sich eine alte Katze zwischen leeren Weinfässern, Heuhaufen und faulendem Abfall. Daneben stand der kleine Holzverschlag des Abortes und verbreitete einen erbärmlichen Gestank.
Alcana fand den Alten in der Küche, wo er gerade den abkühlenden Steinofen mit ein feuchten Tuch auswischte. Ein paar dampfende Brotlaibe lagen auf dem Tisch. Sie wünschte ihm mit rauher Stimme einen guten Morgen.
»Schon aufgestanden?« wunderte er sich, um sie etwas aufzuziehen. »Ich habe nicht vor dem Abendessen mit dir gerechnet.«
»Das wäre schön gewesen«, gab sie zu. »Ich hätte gerne mal ausgeschlafen, aber ich muß bald aufbrechen.«
Er wandte sich ab, als sei er ganz von seiner Tätigkeit in Anspruch genommen. »Drüben auf dem Tisch liegen einige Kleider für dich«, murmelte er ohne aufzusehen. Seine Verärgerung war unübersehbar.
Alcana seufzte. Warum mußte ihr Wiedersehen unter dieser Mißstimmung leiden? Mit Vergnügen hätte sie sich für eine Weile ausgeruht, ihren Frieden gemacht mit sich, der Welt und ihrer Vergangenheit! Aber die Umstände ließen das nicht zu. Konnte er dies nicht einsehen?
»Ich danke dir«, sagte sie, nahm das Bündel und ging.
Kurz darauf betrat sie die Gaststube in einer Kleidung, die im Königreich weit verbreitet war: ein fast knielanger Leibrock von erdbrauner Farbe sowie enge, dunkle Hosen. Edward, der gerade beim Frühstück saß, nickte anerkennend.
»Ihr seht gut aus«, sagte er, errötete und versicherte eilig: »Ich meine, Ihr seht angemessen aus für unsere Reise.«
Sie nahm neben ihm Platz. Es gab frisches Brot, sauren Rahm, Ziegenkäse, Honig, einige Äpfel und etwas kaltes Fleisch.
»Wie darf ich Euch nennen?« fragte er.
»Nun, wie wäre es mit Agnes?«
»Hm«, nuschelte er mit vollem Mund. »Ich nehme an, Ihr habt diesen Namen noch nicht verwendet?«
Sie schüttelte den Kopf. »Na ja, Agnes aus Hochtraben - klingt nicht übel«, meinte er gnädig und wandte sich wieder seinem Mahl zu. »Das Brot ist ganz frisch - köstlich!«
Alcana lächelte. »Ich war dabei, als es aus dem Ofen geholt wurde.« Sie aß reichlich. Mit Kummer bedachte sie, daß die Verpflegung in den nächsten Tagen wohl spärlicher ausfallen würde. Nach einer Weile wandte sie sich wieder an ihren Reisegefährten und frug: »Habt Ihr eigentlich ein Pferd?«
Edward nickte kommentarlos.

Der Glockenschlag zur vierten Stunde war schon seit geraumer Zeit verklungen, als sie sich zum Aufbruch bereit machten. Im Hof stand neben Alcanas Rappen Edwards braune, sanfte Stute, die er Schringel nannte, gesattelt und gezäumt. Alcana wies auf ihr Roß und mit einem kurzen Blick zu dem Alten erklärte sie: »Das ist das Pferd ohne Namen
Edward verstand die Anspielung natürlich nicht und nickte nur, doch der Alte lächelte nachsichtig. Er hielt ein Übermaß an Verpflegung und guten Ratschlägen für sie bereit, winkte jedoch ab, als Edward seine nicht unbeträchtliche Zeche begleichen wollte.
»Gebt mir nur gut acht auf diese Frau, junger Mann«, sagte er in väterlichem Tonfall und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Seht zu, daß ihr nichts zustößt, damit sie ihr Versprechen, mich wieder zu besuchen, einhalten kann.«
»Ich werde tun, was ich kann«, versprach Edward. Er trug jetzt unter dem Mantel ein kurzes Schwert; in der Wildnis, durch sie zu reisen gedachten, war Mißtrauen angebracht.
Der Alte umarmte Alcana ein letztes Mal. »Lebe wohl, mein Kind!«
»Ich komme wieder«, versprach sie. Ihr Gesicht blieb unbewegt, aber der Alte wußte, wie leer dieses Versprechen in Wahrheit war, wie wenig sie noch von ihrem Weg vorhersehen konnte.
»Gewiß«, sagte er müde. Sein Lächeln glich mehr einer Grimasse. »Wenn ich dann nicht mehr da bin, wirst du mein Grab unter der gespaltenen Weide finden.«
»Ich kenne die Weide«, sagte sie rauh und legte ihren dicken Wollmantel an. »Alles Gute.«
Sie verspürte eine seltsame, widersprüchliche Mischung aus Bedauern und Erleichterung, als sie endlich aufbrachen. Sie ritten durch den leeren Steinbogen und nahmen eben jene Straße, die Alcana in der vergangenen Nacht in entgegengesetzter Richtung dahergekommen war. Nur mäßig befestigt zog sie sich durch das verwilderte Land, die Randsteine überwuchert von Efeu und Gräsern, beschattet von kahlen Buchen, die trotz ihrer Größe seltsam verwachsen und verkrüppelt erschienen, als litten sie vielerlei Mangel in dieser kalten Einöde.
Abseits der Straße standen Bäume nur mehr vereinzelt in kleinen Gruppen von Kiefern und Lärchen, dazwischen wuchsen Wacholder, Schlehe und Dornengestrüpp. Bestellte Felder gab es kaum. Und bald passierten Edward und Alcana auch die alte Weide, in die vor undenklichen Zeiten ein Blitz gefahren war und sie in zwei verkrüppelte Hälften geteilt hatte. Bei diesem Anblick wurde Alcana mit Deutlichkeit bewußt, daß sie den Alten wohl in der Tat nicht mehr wiedersehen würde, und sie bedauerte den unschönen Abschied. Schöne, freundliche Worte kamen ihr nicht leicht über die Lippen. Sie hatte sich dieses Wiedersehen durchaus anders vorgestellt, doch nur selten in ihrem Leben waren die Dinge bislang in der Weise geraten, wie sie es zuvor erwartet oder gar erhofft hatte.
Bald entschwand das fahlgraue Mauerwerk Hochtrabens hinter dem kahlen Dickicht, und sie gelangten zu einer Abzweigung. Der Hauptweg führte weiter nach Süden, während sich ein vergleichsweise schmaler Pfad gen Osten wandte, dem Gebirge entgegen, welches sich im Norden und Osten hoch vor ihnen auftürmte. Es hatte den Anschein, als lägen die Berge zum Greifen nahe; aber dieser Eindruck täuschte. Es trennten sie noch viele Wegstunden von den weißen, schneebedeckten Höhenzügen.
An der Abzweigung stand ein halbverrotteter Pfahl in den Boden gerammt. Früher hatte er als Wegweiser gedient, aber das Schild war längst abgefallen, und Efeu rankte sich an dem Pfahl empor. Sie hielten sich nicht lange auf und folgten dem Pfad nach Osten.
Der Mittag ging vorüber, und sie legten eine kurze Rast ein, um sich mit Datteln, Räucherschinken, Brot und Käse zu stärken. Dazu tranken sie Wasser und einige Schlucke Wein. Das kalte Wetter lud nicht zum gemütlichen Verweilen ein, und schon bald brachen sie wieder auf.
Der Ritt durch den fahlen Wintertag verlief ausgesprochen eintönig, und Alcana wurde schläfrig. Nur die eisige Kälte des Windes, der von den Bergen herab pfiff, hielt sie wach. Innerlich fühlte sie sich einfach nur niedergeschlagen, ohne aber an irgend etwas Bestimmtes zu denken. Waren es die letzten wehmütigen Gedanken an ihren alten Freund in Hochtraben? Oder waren es die Gefahren und die Ungewißheit des vor ihr liegenden Weges? Die kahle Umgebung und die feuchtkalte Witterung taten jedenfalls ein Übriges, die Stimmung nachhaltig niederzudrücken.
Edwards Gesellschaft war ihr im Augenblick ziemlich gleichgültig. Sie empfand ihn weder als lästig, noch ausgesprochen hilfreich. Immerhin nötigte er ihr keine andauernden Gespräche auf, wie sie nach dem Abend in der Gaststube fast befürchtet hatte. Er spürte ihre Verschlossenheit und ließ sie in Ruhe. Diese Zurückhaltung war eine durchaus schätzenswerte Eigenschaft, allerdings fragte sie sich, warum er sie dann unbedingt hatte begleiten wollen, wenn er nun doch kaum mehr ein Wort mit ihr wechselte. Überhaupt schien auch er kein übermäßig gesprächiger Mensch zu sein, und so blieben sie jeder für sich in seine eigenen Gedanken versunken.
Als der Abend nahte, begann das Gelände endlich deutlich anzusteigen. Zwischen den felsigen Höhenzügen hindurch schlängelte sich der Weg allmählich höher und höher, den gewaltigen Gipfeln von Roßkopf und Nebelbürge entgegen, die hoch über ihrem jetzigen Standort thronten. Die ersten schroffen Felsgrate erhoben sich aus der kärglichen Landschaft, in der neben winterkahlen Lärchen einzig Föhren und Arven mit ihren Nadeln blaugrüne Farbtupfer schufen.
In einer windgeschützten Senke schlugen die beiden Wanderer ihr Lager auf. Sie aßen Brot und Zwiebeln, tranken, um sich zu wärmen, einige Schlucke von dem Branntwein, den ihnen der alte Wirt mitgegeben hatte, und rollten sich in ihre Decken. Eine Weile lag Alcana noch wach und betrachtete nachdenklich die Wolken, die in bleichen Fetzen über den nächtlichen Himmel jagten, als wären sie Schaum und Gischt der stürmischen Lüfte. Als endlich der Mond über den Bergkämmen aufging, schlief sie ein.

»Das war eine stürmische Nacht«, sagte Edward beim Frühstück. »Ich konnte nicht gut schlafen.«
»Ich hatte keine Schwierigkeiten«, behauptete sie, derweil sie die Decke zusammenrollte.
»Kein Wunder! Ihr seid auch an das Übernachten in der Wildnis gewöhnt.«
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Eigentlich nicht, zumindest nicht mehr. Obschon es eine Zeit gab, in der ich nur selten ein Dach über dem Kopf hatte. Ich denke, ich schlafe ganz gerne draußen. - Obwohl ich natürlich auch die Vorzüge eines weichen Bettes zu schätzen weiß.«
Edward warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. »Ihr redet nicht gerne über Eure Vergangenheit, oder?« stellte er fest.
»Nein«, erwiderte sie schroff, um ihn dann aufzufordern: »Kommt! Laßt uns Brennholz für die nächsten Tage sammeln! Weiter oben auf dem Paß gibt es keine Bäume.«
Die Wolken hatten sich im Laufe der Nacht zu einer geschlossenen Decke verdichtet, die schwer und dunkel über ihnen lastete. Schon bald fielen die ersten Tropfen, und den ganzen Tag über hörte es nie ganz auf zu regnen. Nach kurzer Zeit waren Alcana und Edward bis auf die Haut durchnäßt und froren, denn der Wind hatte kaum an Stärke eingebüßt. Die Lärchen bogen sich wie traurige, braune Gerippe; und auch die Arven wirkten mit ihren langen Nadeln und ihrem bisweilen ungleichförmigen Wuchs reichlich zerzaust. Immer höher kletterte die einsame Straße, die eher einem Pfad glich, kämpfte sich in engen Windungen die steilen Hänge hinauf, und schließlich duckten sich ringsum nur mehr flache Büsche vor den Eiswinden des Gebirges.
Für einen kurzen Moment klärte sich die Witterung, und als sich Alcana auf einem hohen Grat umwandte, schien es ihr, als könne sie, weit hinter ihnen - und viel tiefer noch - zwei dunkle Punkte auf der Paßstraße erkennen. Diese Entdeckung versetzte ihr einen Stich, und das Gefühl, verfolgt zu werden, nahm von ihr Besitz. Mit einer schmerzhaften Klarsicht ahnte sie, wer diese beiden fernen Wanderer waren, dabei war es unmöglich, aus dieser Entfernung Einzelheiten zu erkennen. »Sie sind es«, murmelte sie.
»Was sagt Ihr«, fragte Edward.
»Seht dort!« Sie wies mit der Hand in die Ferne. »Zwei Menschen folgen unserem Weg.«
Er kniff die Augen zusammen. »Schon möglich. So genau läßt sich das auf diese Entfernung nicht erkennen.«
»Ich weiß, wer die beiden sind«, sagte sie düster.
»Erwartet Ihr Verfolger? Ihr habt nichts dergleichen erwähnt.«
»Ich habe nicht die Absicht, Euch meine gesamte Lebensgeschichte zu erzählen.«
»Das braucht Ihr auch gar nicht«, sagte er. »Doch wenn uns von Euren Feinden Gefahr droht, sollte ich davon erfahren, meint Ihr nicht?«
Sie seufzte. »Gewiß. Vor rund zwei Jahren haben sich zwei Kopfgeldjäger an meine Fersen geheftet. Sie waren sehr hartnäckig, doch ich legte eine Reihe von falschen Fährten, um sie in die Irre zu führen. Ich dachte, ich hätte sie abgeschüttelt.«
»Diese beiden Wanderer könnten ebenso gut Händler sein oder andere Reisende, mit denen wir nichts zu schaffen haben.«
»Im Laufe der Zeit habe ich ein Gespür für meine Verfolger entwickelt«, bekannte Alcana. »Ich fühle ihre Nähe, und ich weiß: sie sind es!«
Edward erkannte die Nutzlosigkeit einer weiteren Diskussion. Er zuckte die Achseln und meinte lächelnd: »Dann sollten wir hurtig unseren Aufstieg fortsetzen, damit sie uns nicht so bald einholen, wenn ihnen das überhaupt gelingen soll. Es wäre mir ohnehin recht, wenn wir die Hütte vor Einbruch der Dämmerung erreichen würden. In dieser Gegend möchte ich nicht gerne im Freien übernachten. Ihr kennt die Geschichten von den Schneenurmen
»Ich kenne sie«, erwiderte sie lachend. »Meine Amme erzählte mir oft von den Kreaturen der eisbedeckten Berggipfel, die des Nachts über die Grate schreiten und unvorsichtige Wanderer verspeisen. Aber seht her, ich habe ein Schwert und weiß damit umzugehen!«
»Das glaube ich gerne. Dennoch wäre es töricht, unnötige Risiken einzugehen.«
»In der Tat.«
So brachen sie wieder auf, doch das Vorankommen wurde zunehmend schwieriger. Der Pfad war streckenweise so rutschig und schmal, daß sie nicht nebeneinander reiten konnten, und oftmals mußten sie absteigen und ihre Tiere über das tückische Geröll führen, das sich im vergangenen Winter auf der Straße angesammelt hatte.
Der Regen setzte wieder ein und ging bald in Schnee über. Die nahegelegenen Berghänge und Gipfel waren durch Wolken und Schneegestöber hindurch kaum zu erahnen, und mitunter war selbst die Paßstraße kaum zu erkennen.
»Ich dachte, der Paß wäre in jeder Jahreszeit gut zu überschreiten«, rief Alcana ihrem Begleiter zu. Der eisige Wind trieb ihnen die Schneeflocken in die Augen, und die Kälte fand in ihren feuchten Kleidern eine Heimstatt.
Er antwortete: »So sagt man. Doch ich weiß von keinem, der diesen Weg im Winter versucht hätte. Ich selbst bin im frühen Herbst nach Rauhen gekommen.«
Sie hielten kurz an, um sich zusätzliche Kleider anzuziehen und mit einem Schluck Branntwein zu stärken. »Gesegnet sei der Wirt des Zerbrochenen Stern«, erklärte Edward.
Nach einer Weile tauchte die Paßstraße in eine enge Schlucht. Kahle Steilhänge erhoben sich zu beiden Seiten und schützten sie etwas vor dem Schnee und dem Wind. Die Schlucht weitete sich wieder, und die zurückweichenden Hänge gaben den Blick auf die Hütte frei. Sie war ein viereckiger, fensterloser Bau, der vor langer Zeit von cerinischen Söldnern aus umherliegenden Felsbrocken errichtet worden war, um Reisenden Unterschlupf zu gewähren. Über dem breiten Eingang hatten unbekannte Hände Runen zur Abwehr von Gefahr und bösen Geistern eingeritzt. Das Innere war so geräumig, daß auch größere Reisegruppen mit ihren Tieren darin Platz fanden, doch das Holzdach wies zahlreiche kleine Löcher auf und durch die Ritzen der Wände pfiff der Wind.
Edward verriegelte sorgfältig die Tür, und sie entfachten mit dem mitgeführten Brennholz ein wärmendes Feuer, an dem sie ihre Kleider trocknen konnten. Nachdem sie frische Sachen angezogen und die Pferde versorgt hatten, saßen sie erschöpft beim Feuer, tranken heißen Kräutertee und kauten auf den letzten Brotkrusten und Hartwürsten. Der Rauch des Feuers und die Ausdünstungen der Pferde vermischten sich mit dem Modergeruch der Hütte zu einem schweren Dunst.
»Wie lauten Eure weiteren Pläne?« fragte Edward nach einer Weile des Schweigens.
»Um ehrlich zu sein, ich habe noch keine Pläne«, gab Alcana mit rauher Stimme zu. »Ich bin in erster Linie nur müde, immer davonzulaufen. Früher glaubte ich, in der Fremde ruhig leben zu können, doch meine Feinde verfolgten mich auch dort. Die Schlußfolgerung ist einfach: ich muß mich ihnen stellen!«
»Doch wie könnt Ihr alleine gegen sie bestehen?«
Sie lächelte freudlos. »Ich habe wenig Hoffnung.«
»Ihr braucht Verbündete«, stellte er fest. Er rieb sich das Kinn und erklärte etwas zögerlich: »Ich habe einen Vorschlag.«
»Ich höre.«
»Geht mit mir nach Branjoch!« schlug er vor. »Mein Vater wird Euch sicherlich Unterkunft und Schutz gewähren. Er ist kein Freund König Karls.«
»Würde er mir auch Ritter geben, um mein Geburtsrecht durchzusetzen?« fragte sie.
»Das bezweifele ich.«
Sie schüttete den Rest ihres Tees ins Feuer. »Dann wäre auch dies nur eine weitere Flucht, fürchte ich.« Sie erhob sich. »Wir sollten jetzt schlafen.«
Er nickte und rüttelte noch einmal prüfend an der Tür. »Ich denke, dieser Riegel wird alle Unbilden von uns fern halten.«
»Das hoffe ich.«
In ihre Decken gehüllt drängten sie sich alsbald Rücken an Rücken, um einander etwas Wärme zu spenden. Das Feuer brannte nieder, und die Schatten ertranken in sich selbst. Die Glut der Asche rief auf den steinernen Wänden nur einen schwachen Widerschein hervor, der langsam erlosch. Das Heulen des Windes hatte nachgelassen, und bald verstummte es ganz. So schliefen sie ein.
Später in der Nacht schrak Alcana hoch und griff nach ihrem Schwert. In der Hütte war es dunkel und still, doch draußen vernahm sie Schritte, dann ein kratzendes Geräusch an der Tür und ein zorniges Flüstern. Mit entblößter Klinge trat sie an die Tür und horchte, nur das alte Holz zwischen sich und dem nächtlichen Besucher. Sie hörte einige zischende Worte, die sie nicht verstand, und erhaschte durch einen schmalen Ritz im Holz einen flüchtigen Blick auf eine dürre, bleiche Gestalt. Glänzte dort ein kaltes Auge im Sternenlicht? Krümmte sich dort eine Klaue? Mit einem sehnsuchtsvollen Seufzer trat die Kreatur zurück und entfernte sich mit leisen Schritten.
Alcana atmete tief durch und sprach eine kurze, rituelle Dankesformel an Uvelle, die Göttin der Wanderer und Heimatlosen. Noch eine ganze Weile kauerte sie auf ihrem Lager und lauschte, doch nichts weiter behelligte sie in dieser Nacht.

Am Morgen war das Wetter in der Tat deutlich milder. Der Wind blies nur noch schwach, und ein leichter Nieselregen ließ den Schnee matschig werden und schmelzen. Mit frischer Kraft brachten Alcana und Edward die letzten Meilen bis zum Scheitelpunkt des Passes, zwischen den schneebedeckten Gipfeln des Roßkopfes und der Nebelbürge gelegen, hinter sich. Dort saß seit Menschengedenken der Wächter des Passes, eine Steinstatue, die einen hockenden Gnom mit zierlichem Körper und großem, haarlosem Schädel darstellte. Ein merkwürdiger Zauber mußte diesem Stein innewohnen, denn die fremdartigen, entrückten Gesichtszüge trotzten Wind und Wetter, ohne ihre Klarheit und Schärfe eingebüßt zu haben.
»Es ist fürwahr lange her, daß ich ihn sah«, murmelte Alcana mit zusammengekniffenen Augen. »Er sieht grimmig und verloren aus, meint Ihr nicht?«
»Ich habe einen ähnlichen Eindruck«, stimmte Edward zu. »Das Gesicht und die Haltung sind wirklich sehr eindrucksvoll.«
»Ob die alten Cerinier ihn aufgestellt haben?«
Edward schüttelte den Kopf. »Ich glaube kaum. Dieses Standbild ist nicht nach cerinischem Stil gefertigt.«
»Es muß sehr einsam sein, tagaus tagein an diesem kalten Ort auszuharren«, meinte sie gedankenverloren. »Zu Stein erstarrt.«
Edward lachte. »Wir können ihm ja eine Weile Gesellschaft leisten. Mein Magen knurrt ohnehin schon«, sagte er. Sie stimmte ihm zu, und sie ließen sich neben dem Wächter des Passes nieder und breiteten ihre letzten Vorräte auf einer Decke vor sich aus: einige Datteln, ein Ende Hartwurst, etwas Käse und hartes Brot. Dies war sicherlich keine festliche Mahlzeit, zumal sie sich noch etwas für das Abendbrot aufsparen mußten, aber sie aßen mit großem Hunger und Appetit und tranken Tremaner Wein dazu.
»Morgen kommen wir zum Marktal«, tröstete Edward sich. »Dort werden wir ein warmes Abendessen bekommen.«
»Gewiß. Aber Vorsicht! Wo Menschen sind, lauern auch Gefahren! Und in der Markburg werden Fremden mitunter Fragen jener Art gestellt, die ich nicht gerne beantworten möchte.«
Er nickte ernsthaft. »Nun ja, wenn der Graf seinen Wegezoll erhält, verzichtet er gerne auf überflüssige Fragen. Ich glaube nicht, daß er sich sehr für Eure oder meine Geschichte interessiert.«
»Vielleicht nicht, aber wir müssen besondere Vorsicht walten lassen, sobald wir die Grenze des Königreichs überschreiten. Vergeßt niemals, mein Name ist Agnes.«
Sie erhob sich und blickte nach Osten. Hier fielen die Hänge von Roßkopf und Nebelbürge steil zu einer schmalen Schlucht hin ab, welche Aspental genannt wurde. Es schien in greifbarer Nähe zu liegen, doch Alcana wußte nur zu gut, daß ihnen noch ein beschwerlicher Abstieg bevorstand. In engen Serpentinen grub sich die Straße in die eisengraue Flanke der Nebelbürge.
»Wir sollten aufbrechen«, meinte Alcana zu ihrem Begleiter. »Dann werden wir vor der Dämmerung das Aspental erreicht haben.«
Edward nickte.
»Lebewohl, kleiner Freund«, sagte Alcana mit einem feinen Lächeln auf den Lippen zu dem hockenden Steinbild. »Ich hoffe, die Zeit wird dir hier oben nicht zu lang.«
Der Abstieg war mühevoll und mitunter gefährlich an Stellen, wo Geröll sich über die schmale Straße ergossen hatte, doch am Ende des Tages gelangten Alcana und Edward auf den weichen Grund des Aspentals, wo Moos und niedrige Gräser zwischen den blanken Felsen sprossen. Hier und da erhoben sich einzelne strauchartige Kiefern.
Edward wandte sich um zu Roßkopf und Nebelbürge, die in der klaren Abendsonne erstrahlten, und verneigte sich etwas spöttisch vor ihnen. »Diesem kargen Pfad trauere ich nicht nach«, erklärte er. »Lebt wohl, hohe Felsen!«
Alcana sagte nichts dazu, und so saßen sie auf und ritten eine Weile schweigend nebeneinander her, bis sich die Dämmerung herabsenkte und vor ihnen die Gebeinkluft aus den länger werdenden Schatten auftauchte. Vor undenklichen Zeiten hatte sich über die gesamte Breite der Schlucht eine tiefe Spalte aufgetan, welche nur über eine schmale Holzbrücke zu überqueren war.
In den Jahren der cerinischen Eroberungen hatte sich an diesem Ort eine Schlacht* zugetragen, welche von den nachfolgenden Generationen lange besungen worden war. An diesem geschichtsträchtigen Ort hielten Alcana und Edward nun inne und entfachten mit ihrem letzten Holz im Windschutz des Brandfelsens ein kleines Lagerfeuer, dessen Glut der aufkommenden, nächtlichen Kälte trotzte. Von ihren Vorräten war fast nichts mehr übrig geblieben, und so trösteten sie ihre Mägen mit dem Branntwein des Alten. Sie erzählten sich, was sie von den Legenden der Gebeinkluft wußten. Von den Geistern der Erschlagenen, welche Reisenden im Schlaf erschienen, vom toten König Urest, welcher zur Wintersonnenwende umherstreifte, um die Unterwerfung seines Stammes zu beklagen, und von Kreaturen, welche in der Tiefe der Gebeinkluft an den alten Knochen nagten und mit flüsternden Stimmen Flüche und Verwünschungen austauschten.
»Dies ist ein Ort voll dunkler Erinnerungen«, sagte Edward. »Die Felsen haben das Blutvergießen noch nicht vergessen, obwohl es schon so lange her ist.«
Alcana nickte. »Es macht in der Tat den Eindruck.« Sie hatte ihre Flöte in die Hand genommen und betrachtete sie gedankenverloren.
»Könnt Ihr Flöte spielen?« frug Edward.
Sie nickte lächelnd. »Es würde sonst wenig Sinn machen, sie mitzuführen, oder?«
»Für Euch scheinen einige Erinnerungen mit dem Instrument verbunden zu sein.«
»Das habt Ihr gut erkannt!«
»Wollt Ihr vielleicht etwas vorspielen, eine lustige Weise, die unsere Gedanken aufhellt?« schlug er vor.
»Eigentlich nicht«, meinte sie. »Die Flöte ist nicht für fröhliche Lieder geeignet, glaube ich.« Sie schüttelte den Kopf, doch ihre Hände legten die Flöte nicht ab. Es war ein seltsames Instrument, ausgestattet mit merkwürdigen Eigenheiten und Kräften, und manchmal argwöhnte sie, daß ihm ein eigener verborgener Wille innewohnte. »Gleichwohl schöpfe ich oft Trost aus ihrem Spiel. Allerdings muß ich dabei sehr vorsichtig sein.« Sie führte nicht weiter aus, was sie mit der letzten Bemerkung gemeint hatte, sondern legte die Flöte an die Lippen und blies fast beiläufig eine kurze Tonfolge, eine einfache alte Melodie. Klar, hell und einsam streiften die Töne durch die kalte Bergluft; ein wehmütiges Lied, welches der Geschichte des Ortes angemessen war.
Der Flötenklang erhob sich weit und hoch, kroch an den Berghängen empor, allmählich aufgezehrt durch die Entfernung, doch für aufmerksame Ohren weiterhin vernehmlich, und verhallte erst über den Geröllfeldern und Graten. Mancherlei Geschöpf, welches in der Nacht umherstreifte, verharrte, um den ungewohnten Klängen zu lauschen, so auch zwei Männer an ihrem kalten Nachtlager hoch auf dem Paß. Der eine war schmächtig, mit scharfen Gesichtszügen und klugen Augen ausgestattet, der andere groß und breitschultrig. Sie nickten einander zu und lächelten wissend.

Der Rabe flog hoch über die Abgründe der Nacht, versunken in die Welt seiner eigenen dunklen Gedanken und Erinnerungen. Obschon sein Geist in einer fernen Vergangenheit weilte, in Räumen und Taten jenseits der Begriffswelt der Sterblichen, waren seine Sinne aufmerksam. So vernahm auch er den Klang der Flöte. Er erkannte ihn, und alle seine Absichten und gefaßten Pläne wurden mit einem Schlag bedeutungslos. Wie zur Antwort auf ein Signal oder eine Aufforderung krächzte er laut. Dann wandte er sich um und schoß zu Tal.


* Bis ins Aspental hatte der cerinische Stratege Telero mit seinem Heer die wilden Bergkrieger unter ihrem König Urest verfolgt. Verzweifelt stellten diese sich ihm zum Kampf, und ihr Widerstand galt seither als Symbol von Freiheitswillen und Mut, wenngleich sie doch nicht viel mehr als eine zerlumpte Räuberschar gewesen waren. Sie setzten hinter sich die Brücke, welche die Kluft überspannte, im Brand und warteten auf ihre Feinde. Das schwerbewaffnete cerinische Fußvolk bezog schweigend in Wurfweite des Spaltes Stellung, während die Leichtbewaffneten mit lautem Kriegsgeheul zum Angriff übergingen: Schleuderer von den äratischen Inseln, Merester mit Kurzschwertern und geflochtenen Schilden, Truk-Männer mit einer Haut so schwarz wie Ebenholz und nicht zuletzt die eingeborenen Leute des Tieflandes, Nain und Taránier, die lange genug den Raubzügen der Bergstämme ausgesetzt gewesen waren. Mit Leitern und Enterhaken setzten sie über den Spalt. Urest und seine Streiter empfingen sie in gebührender Weise. Sie zerschnitten die Seile und stießen die Leitern zurück, und viele Unglückliche stürzten schreiend in den Abgrund der Kluft, zerschellten an den Felsen. Ihre bleichen Gebeine gaben der Kluft ihren Namen. Die ersten beiden Wellen der Angreifer vermochten sie so zurückzuschlagen, doch die cerinischen Söldner machten durch ihre Überzahl wett, was die Stammeskrieger ihnen an Wildheit über waren, und unter der dritten Angriffswelle, brachen die Reihen der Verteidiger. Zu Hauf wurden sie niedergemacht; nur wenige gerieten in Gefangenschaft, unter ihnen auch König Urest.
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(c) Andreas Metz, 2001


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