Das Grau
des Himmels verfinsterte sich zusehends. Die Berge lagen bereits in Dunkelheit,
während der Westen noch in rotes, verlöschendes Feuer getaucht wurde.
Die Sonne schien geradewegs in den geheimnisvollen Nebeln des Großen Flußtales
unterzugehen. Die Dämmerung brach an.
Der alte Mann zog seinen zerschlissenen Mantel fest um sich, bevor er
das Reisigbündel auf die Schulter nahm und sich auf den Heimweg machte
- eine einsame, von der Last arbeitsreicher Jahre gebückte Gestalt inmitten
der brachliegenden Felder. Ein kalter Wind kam auf. Obschon dem Namen
nach unlängst der Frühling angebrochen war, hatte er doch die karge Hochebene
von Rauhen noch nicht berührt; das Land war noch grau und kahl wie in
der tiefsten Winterruhe.
Der Mann vermied es, an das vergangene Jahr zu denken. Damals war sein
Weib der Auszehrung erlegen, und nun hatte er niemanden mehr, der das
Leben mit ihm teilte. Alleine bestellte er seinen Acker, baute Flachs
und Gerste an und versorgte seinen Hof. Es reichte zum Leben, denn die
Abgaben an den Städtebund, welcher über die Ruhe im Lande wachte, blieben
gering; aber sein Dasein war einsam und leer geworden seither. Er hatte
es trotz der nahenden Dunkelheit nicht sehr eilig, das Gehöft zu erreichen.
Die Luft roch feucht und in den windgeschützten Senken der Felder sammelte
sich bereits der Nebel, verdichtete sich zu Bänken, die milchig-weißen
Seen glichen. In der hereinbrechenden Nacht klang verhaltener Hufschlag
auf.
Wer mag so spät noch unterwegs sein? fragte der Bauer sich und
spähte neugierig in die Dämmerung hinaus, wo ein schwarzes Pferd aus den
Schatten trat. Im Sattel saß hochaufgerichtet eine schlanke Frauengestalt
in einem weiten grünen Umhang. Ein langer dunkler Zopf wippte Rhythmus
des Trabes. Das Pferd schnaubte, und seine Nüstern dampften in der Kälte.
Als die Reiterin den alten Mann gewahrte, zog sie die Zügel an. Mit tänzelnden
Schritten kam das Roß zum Stehen; sie beugte sich vor und klopfte ihm
beruhigend den Hals. Dann wandte sie sich dem Mann zu. Ihre Stimme klang
heiser vom Staub der Straße, doch ihre Aussprache war klar und ohne Akzent:
»Einen schönen Abend wünsche ich Euch.«
Ihr schmales Gesicht war blaß, aber keineswegs häßlich. Ihre großen Augen
musterten ihn wachsam. Trotz ihrer abweisenden, ernsten Haltung, schien
sie noch recht jung zu sein.
»Ich wünsch' Euch dasselbe, Fremde«, erwiderte der Bauer in der nuschelnden
Sprechweise der Landleute. Sein Lächeln entblößte vereinzelte Zahnstümpfe.
»S'ist ein ungemütlicher Abend. Warum seid Ihr so spät noch unterwechs,
wenn ich fragen darf?«
»Das Gleiche könnte ich Euch auch fragen.« Sie lachte auf. »Sagt mir lieber:
ist es noch weit bis Hochtraben?«
Er vollführte mit der freien Hand eine unbestimmte Geste, die alles mögliche
bedeuten mochte. »Einige Meilen werden's noch sein, immer der Straße nach.«
»Aha«, befand sie und lächelte in sanftem Spott, dann wurde sie nachdenklich:
»Ich war schon lange nicht mehr in der Stadt. Hat sich viel verändert?
Gibt es den Zerbrochenen Stern noch?«
»Ich glaub' schon«, sagte der Bauer und betrachtete die Frau verstohlen.
Der Gasthof Zum Zerbrochenen Stern galt weithin als Treffpunkt
von Landstreichern und anderen Gesellen von zweifelhaftem Ruf, wenngleich
mitunter auch reisende Kaufleute dort Unterkunft fanden. Doch ihr Äußeres
ließ die Frau nicht wie eine Händlerin erscheinen, und ihre Sprache klang
gebildeter, als es Angehörige der besitzlosen Zünfte für gewöhnlich waren.
In ihrer Stimme lag ein Hauch von Überheblichkeit, wie sie die höheren
Stände seinesgleichen stets entgegen brachten. »In Hochtraben geschieht
nicht viel, wißt Ihr. Das ist eine ruhige Gegend hier.«
Sie ging nicht darauf ein, statt dessen frug sie: »Habt Ihr Neuigkeiten
aus dem Königreich Arn gehört?«
»Nee! Ich lebe hier allein von dem, was mein Acker mir gibt. Was kümmert
mich das fremde Könichreich?«
»Dann habt Dank für Eure Auskünfte, alter Mann«, sagte die Frau schmunzelnd
und gab ihrem Pferd die Sporen. »Lebt wohl.« Der Bauer schaute ihr nach,
bis die Dunkelheit sie verschlang und die Hufschläge in der Ferne verklangen.
Er schüttelte den Kopf über diese wunderliche Begegnung und machte sich
dann auf den Heimweg; und es ist höchst unwahrscheinlich, daß er je mehr
von der ganzen Geschichte erfuhr.
Die junge
Frau nannte sich Eraine. Sie war schlank und von mittlerer Körpergröße,
ausgestattet mit einer schmalen Statur und langen, beweglichen Gliedmaßen.
Sie trug Kleidung von guter Qualität, die jedoch deutliche Spuren der
Abnutzung zeigte: weiche Halbstiefel, ursprünglich wohl weinrot gefärbte
Pluderhosen mit Rautenmuster und darüber ein dunkelgrüner, langärmeliger
Leibrock aus festem Stoff. Auf ihrer rechten Seite war an einem breiten
Gürtel eine schmucklose Lederscheide befestigt mit einem schmalen, schwach
gebogenen Schwert - ein Darg, wie er in den Ländern am Bortischen
Meer gerne getragen wurde. An ihrer linken Seite hing jedoch an einem
Band eine Querflöte. Sie zog den Mantel enger um sich, doch auf die Kapuze
verzichtete sie, obschon der immer dichter werdende Nebel ihr Haar mit
Feuchtigkeit tränkte.
Der Abend schritt hurtig voran, und die Dämmerung wich dem Dunkel der
Nacht. Trotz ihrer Müdigkeit blieb Eraine wachsam und aufrecht im Sattel.
Ihrem Rappen, einem grazilen, leichtfüßigen Tier von den sonnenverwöhnten
Wiesen Merdyns, schien die feuchtkalte Nacht auf der Hochebene noch weit
weniger zu behagen. Mit gesenktem Kopf trottete er voran, und selbst der
leise Zuspruch seiner Reiterin und beruhigendes Klopfen auf den Hals konnten
ihn nicht ermutigen. Die Stute schnaubte nur abfällig und schüttelte träge
den Kopf mit der breiten Blesse.
Die Frau und ihr Roß hatten eine mühevolle Reise hinter sich, seit sie
den kleinen Freihafen in Merdyn verlassen hatten. Nahe der alten Ruinenstadt
Kadah hatten sie den großen Fluß überschritten und sodann den Weg nach
Norden eingeschlagen. Die Bergpässe zwischen dem Tiefland von Golmur und
Rauhen waren flach und das ganze Jahr hindurch gut begehbar; Reisende
waren in dieser Jahreszeit jedoch selten, und Eraine hatte eine gewisse
Aufmerksamkeit nicht vermeiden können. Ihre Spur war sicherlich deutlich
und unschwer zu verfolgen. Daher hatte sie die Landstriche um Almion und
Treman zügig hinter sich gelassen, um eine möglichst große Entfernung
zu ihren Verfolgern zu gewinnen. Hochtraben war der erste Ort seit langem,
der Aussicht auf mehr als eine kurze Rast am Wegesrand und ein hastiges
Mahl versprach. Hier hoffte sie, etwas Kraft zu schöpfen, vor der Besteigung
des Passes zum Königreich, einem Schritt, dessen Auswirkungen sie noch
nicht überschauen konnte. Möglicherweise traf sie hier auch einen alten
Freund an. Wenn er noch lebte, hatte er sicherlich ihre Botschaft erhalten
und erwartete sie.
Eraine runzelte die Stirn. Vorausgesetzt ich erreiche den Ort überhaupt
noch in dieser Nacht, murmelte sie. Die Nebel schlossen sich wie ein
bleiches Laken um sie, und im schwachen Mondschein fiel es schwer, dem
Verlauf der Straße zu folgen. Unter diesen Umständen erschien ein weiterer
Ritt gefährlich. Eraine zögerte jedoch, eine nächtliche Rast einzulegen.
Die damit verbundene Verzögerung hätte zur Folge gehabt, daß sie sich
am nächsten Morgen direkt zum Paß wenden mußte, ohne in Hochtraben zu
verweilen.
Als sie schon jede Hoffnung auf einen warmen Platz in dieser Nacht verloren
hatte, tauchten vor ihr einzelne schwache Lichter auf. Mit neuem Mut hielt
sie darauf zu und gelangte bald zu einem grauen, leeren Steinbogen, welcher
in der Tat das südliche Tor der Stadt Hochtraben war. Eine verschließbare
Pforte gab es seit Jahrzehnten nicht mehr, und auch die enge Wachstube
zur Linken war unbesetzt. Eraine lächelte freudlos darüber, wie offen
sich der Ort Räubern und Dieben darbot.
Gleichwohl übte der Anblick dieses alten, nutzlosen Torbogens eine beruhigende
Wirkung auf sie aus. Hochtraben war ein Stück ihrer Vergangenheit, hier
hatte sie die erste Zuflucht gefunden auf ihrem langen Weg, und auch jetzt,
da sie nach so vielen Jahren zurückkehrte, verband sie mit diesem Ort
ein Gefühl der Vertrautheit und Geborgenheit, das sie lange vermißt hatte.
»Ob er noch lebt?« murmelte sie müde.
Laut klapperten die Hufe des Pferdes auf dem Pflaster der schmalen Gasse,
die zum Marktplatz führte. Eraine stellte fest, daß sich nicht sehr viel
verändert hatte. Die einfachen, dicht zusammengedrängten Häuser sahen
noch immer genauso alt und genauso dreckig aus wie früher, ja sie schienen,
falls dies überhaupt möglich war, noch um einen Deut schäbiger geworden
zu sein. Hochtraben war ein sterbender Ort, abhängig vom Handel mit dem
Königreich von Arn jenseits der Berge, und jenes hatte nur wenig Interesse
an Rauhen. Jahr um Jahr zogen viele Bürger fort, um in Treman oder Almion
im Süden ihr Glück zu suchen. Nur aus wenigen Fenstern drang Lichtschein,
und nicht in allen Häusern, die dunkel waren, hielten die Bewohner ihre
Bettruhe. Eine stattliche Anzahl dieser Häuser stand bereits leer. Sie
verfielen, und keiner kümmerte sich darum. Hochtraben verfaulte von innen
heraus wie ein kranker Zahn, und längst war absehbar, daß es zu gehöriger
Zeit eine gänzlich unbewohnte Ruine sein würde.
Der Marktplatz öffnete sich vor Eraine als eine Freifläche von viereckigem
Grundriß, umrahmt von doppelstöckigen, spitzgiebligen Steinhäusern, die
sich eng aneinander drängten, als suchten sie auf diese Weise Schutz vor
den Unbilden der Welt. In der Mitte des Platzes erhob sich der Schrein
der Stadtgöttin Kalestra aus gewachstem, vom Alter schwärzlichem Holz.
Die Verzierungen aus Wimpeln, Schleifen und Troddeln hingen schlaff und
feucht vom Nebel herab.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes stand der alte Gasthof, in
dem Eraine schon einmal, vor so langer Zeit, Unterschlupf gefunden hatte.
Das Gebäude machte keinen sehr einladenden Eindruck, hatte ihn nicht gemacht,
solange Eraine sich seiner entsann, aber auch hier waren die Zeichen des
Verfalls deutlicher geworden. Die Holzrahmen der Fenster faulten bereits
an einigen Stellen, die Scheiben waren milchig und zerkratzt, und bunte
Flicken überzogen den Vorhang, der vor dem Eingang hing. Über der Tür
hing an einer kurzen Kette ein Stern, dessen sechste Zacke abgebrochen
war.
Trotz seines baufälligen Aussehens war das Haus unzweifelhaft bewohnt:
flackernder Lichtschein fiel durch die Fenster im Erdgeschoß und gedämpft
klangen einzelne Stimmen auf.
Eraine atmete tief durch, schloß kurz die Augen und strich sich eine lästige
Haarsträhne aus dem Gesicht, bevor sie absaß. Als sie den Vorhang zurückschlug
und durch die Türe trat, schlug ihr ein Schwall warmer Luft ins Gesicht.
Blinzelnd sah sie sich um. Die Gaststube entsprach noch ihren Erinnerungen:
die kahlen Steinwände, die groben Holzmöbel, der wärmende Kamin, nicht
zuletzt die stickige Luft getränkt vom Wachsgeruch der Kerzen und einem
schwach modrigen Unterton, wie in einem alten Weinkeller. An der gegenüberliegenden
Wand gähnte die dunkle Öffnung jener Tür, die in den Hinterhof führte.
Eine Handvoll reisender Händler in den blauen Roben der Turmuk-Gilde aus
Almion unterhielten sich lautstark an einem Tisch, und etwas abseits saß
ein einsamer, schweigsamer Jüngling bei einem Krug Wein. Dies waren die
einzigen Gäste. Aber dort, im hinteren Teil der Stube an seinem Platz
an der Theke, saß der alte Wirt des Zerbrochenen Sterns und leerte
zusammen mit zwei Einheimischen einen Becher Bier.
Eraine kniff die Augen zusammen, doch sie erkannte ihn schnell wieder,
und die Andeutung von Erleichterung flog über ihr müdes Gesicht. Nach
einem kurzen Augenblick trat Erkennen auch in seine Augen, als er zu ihr
aufschaute. Er erhob sich umständlich, suchte nach Worten.
»Willkommen, Herrin! Ihr seid schon lange nicht mehr hier gewesen«, rang
er sich eine förmliche Begrüßung ab, denn er wußte um die Gefahren ihrer
Flucht und wollte sie nicht durch zu große Vertraulichkeit bloßstellen.
Eraine biß sich auf die Lippen. Er war dünn geworden, fast mager. Sein
schütteres Haar war schneeweiß, die Wangen waren eingefallen und tiefe
Falten hatten sich in seine Stirn gegraben. Er schien mit derselben Eile
gealtert zu sein wie sein halb zerfallenes Haus. Nur die eisengrauen Augen
funkelten noch im wachen Glanz einer längst verlorenen Jugend.
»Ich hoffe, es geht Euch gut?« verbarg sie ihre Erschütterung hinter einer
Floskel.
»Ich werde alt«, sagte er müde, als hätte er ihre Gedanken dennoch erraten.
»Die Kälte kriecht in meine Glieder, langsam zwar, aber sie kommt... Aber
gut, Ihr begehrt eine Unterkunft, nehme ich an? Habt Ihr ein Reittier?«
Sie nickte. »Ich bringe es in den Hof.«
Als sie um die Straßenecke bog, hatte er bereits das Tor geöffnet und
ließ sie in den Innenhof. Dort umarmte er sie und küßte sie wie ein Kind
auf die Stirn. Seine Augen glänzten feucht in der Dunkelheit.
»Du bist es wirklich, nicht wahr?«
»Ja, ich bin es, alter Freund«, sagte sie mit leiser, milder Stimme. Geduldig
ertrug sie seine Zärtlichkeit, die sie sonst nur wenigen Menschen zugebilligt
hätte. Er war für sie wie ein Vater gewesen, nach jenem verfluchten Julitag
vor so vielen Jahren, einer der ganz wenigen, die noch am ehesten die
Bezeichnung Freund verdienten. Für kurze Zeit hatte sie bei ihm
Schutz und Unterkunft gefunden, bevor die Verfolgung sie weiter trieb,
fort von den Ländern ihrer Geburt.
»Kind, wo bist du die ganzen Jahre über gewesen?« Noch immer vermied er
es, ihren Namen offen auszusprechen. Gewiß hütete er ihre Geheimnisse
mit größerer Vorsicht, als sie es selbst mitunter in der Vergangenheit
getan hatte.
»Ich bin weit gewandert«, sagte sie traurig. »Du weißt, warum ich nicht
kommen konnte. - Aber ich habe oft an dich und deinen alten, schäbigen
Gasthof gedacht.«
Er lachte. »Du hast dich kaum verändert.« Er stockte, lachte wieder. »Oh,
das ist natürlich Unsinn. Du bist erwachsen geworden. Was hast du alles
erlebt? Wie ist es dir ergangen?«
Ihr Körper versteifte sich und sie entwand sich seiner Umarmung, als wollte
sie auf diese Weise Abstand von allzu zudringlichen Fragen gewinnen. Nach
dem kurzen Moment der Offenheit kehrte ihre Anspannung wieder zurück.
»Du hättest ab und zu etwas von dir hören lassen können«, meinte er. »Erst
vor zwei Wochen bekam ich deine Botschaft.«
»Laërd! War er hier?« In Merdyn hatte sie einen Helfer angeworben, der
ihren Weg ins Königreich auskundschaften und dem alten Wirt Kunde von
ihr übermitteln sollte. »Laërd? Den Namen kenne ich nicht; aber es war
ein drahtiger Kerl mit glattem Haar und einer seltsamen Aussprache, wahrscheinlich
aus dem Süden, würde ich sagen. Er behauptete, du hättest ihn geschickt
und kämest auch bald nach. Am nächsten Morgen ist er sofort weitergezogen
über den Paß.«
»Das ist gut«, erklärte sie. Zumindest diesen Teil seines Auftrages hatte
Laërd zu ihrer Zufriedenheit ausgeführt.
Der Alte zuckte mit den Schultern. Er nahm die Zügel der Stute. »Du hast
ein schönes Tier«, sagte er. »Wie heißt es?«
Sie strich dem Tier die Flanke. »Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, daß
es einen Namen hat.«
»Das ist nicht gut« schalt er sie milde. »Ich denke, das Tier dient dir
gut; es hat einen Namen verdient. Das erhält und festigt seine Treue.«
Eraine lächelte über die Sentimentalität des Alten und stellte bekümmert
fest: Er und ich, wir leben in unterschiedlichen Welten. Dennoch
rührten sie seine Worte, und sie versprach: »Ich werde es in Erwägung
ziehen.«
»Gehe ruhig in die Gaststube! Ich versorge das namenlose Tier und bringe
dir danach etwas zu essen.«
Sie nickte ihm zu und kehrte zurück in die stickige Stube.
Edward
hatte sich mit Bedacht einen Platz im hinteren Teil des Schankraumes ausgesucht.
Hier konnte er in aller Ruhe einen Krug Wein leeren, konnte beobachten,
ohne selbst beobachtet zu werden. Er stand nicht sehr gerne im Mittelpunkt
des Interesses, legte ihm doch die Aufmerksamkeit anderer gewisse Verhaltensweisen
auf, zu denen er nicht immer die Kraft fand.
Edward wußte die Annehmlichkeiten am Hofe seines Vaters sehr wohl zu schätzen;
gleichwohl fühlte er sich jedoch sehr oft beengt im verwinkelten Gemäuer
von Burg Branjoch ebenso wie in dem Geflecht der Konventionen und Verhaltensregeln.
Sein Freiheitsdrang ließ ihn - im Verein mit einer ausgeprägten Vorliebe
für guten Wein - die Pflichten des Sendboten und Weinaufkäufers für seinen
Vater nur zu gerne übernehmen. So hatte er in den letzten Wochen Treman
und Almion besucht und bei verschiedenen Winzern insgesamt sieben Dutzend
Weinfässer für die Keller seines Vaters bestellt. Die eigentliche Lieferung
würde zu gehöriger Zeit die Händlergilde besorgen.
Um die Rückkehr über die Berge ins Königreich noch um einige Tage hinauszuzögern,
war er, wie bereits in den Jahren zuvor, im Zerbrochenen Stern
eingekehrt. Er suchte keinen Kontakt mit anderen Reisenden oder gar mit
den Einheimischen. Eigentlich wollte er nur still dasitzen, Wein trinken
und seine Ruhe genießen.
Und dann betrat diese junge Frau den Gasthof. Sie war schlank, fast ein
bißchen mager und besaß keine übermäßig ausgeprägten Rundungen, soweit
sich dies bei ihrer Kleidung beurteilen ließ; dennoch zog sie Edwards
Blicke auf sich. Die Fremde wirkte ernst und angespannt. Mit dem Wirt
schien sie auf gutem Fuße zu stehen. Dies schloß Edward aus den Blicken,
welche die beiden einander verstohlen zuwarfen. Ihre Unterhaltung hingegen
war von einer aufgesetzten Unpersönlichkeit geprägt, die höchst unnatürlich
wirkte. Überhaupt kam ihm die Frau wie ein Fremdkörper vor, seltsam unruhig
und sehr aufmerksam. Sie setzte sich abseits von den anderen Gästen hin,
und immer wieder glitten ihre Blicke forschend durch die Gaststube. Edward
fühlte sich unversehens an ein gejagtes Tier erinnert, stets bereit, die
Flucht zu ergreifen oder sich seiner Haut zu wehren; und wehrhaft war
diese Frau ohne Zweifel, trug sie doch das fremdartige Schwert offen an
ihrer Seite.
Sie sitzt alleine, so wie ich, dachte Edward. Zwei Einzelgänger
in einer lärmenden Stube - das schafft Verbundenheit. Er lächelte
bei diesem Gedanken, aber er hatte tatsächlich großes Verständnis für
den Wunsch der Frau, alleine zu bleiben, was auch immer ihre Beweggründe
sein mochten. Die Vernunft sagte ihm, daß ihn die Fremde und ihre geheimnisvollen
Geschäfte nichts angingen, gleichwohl übte sie einen unwiderstehlichen
Reiz auf ihn aus. Er wollte gerne mehr über sie erfahren, vielleicht ihre
Bekanntschaft machen, und dieser Wunsch überraschte ihn über alle Maßen.
Seine verstohlenen Blicke entgingen ihrer Aufmerksamkeit nicht; plötzlich
wandte sie den Kopf und schaute ihn mit ihren großen, grünen Augen geradeheraus
an.
Eraine
legte den Mantel ab. Sie löste ihren Zopf und schüttelte das staubige
Haar. Um Entspannung bemüht, lehnte sie sich zurück, und Wärme und ein
gewisses Wohlgefühl krochen in ihre klammen Glieder. Sie verspürte in
diesem alten, vertrauten Gemäuer einen Anflug von Geborgenheit, Schutz
vor Kälte und Gefahren. Zumindest für die Dauer dieser Nacht war die Welt
draußen ausgesperrt, würden ihre Feinde nicht zu ihr dringen. In diesem
Augenblick der Ruhe überkamen sie die Müdigkeit und Erschöpfung ihrer
langen Wanderschaft, und vielleicht wäre sie tatsächlich eingenickt wie
ein Kind am wärmenden Herdfeuer der Mutter, hätte sich ganz dem Schutz
ihres alten Freundes anvertraut, wenn sie nicht den Blick des einsamen
jungen Mannes aufgefangen hätte.
Er blinzelte verwirrt, brachte aber ein Lächeln zustande, und unbeabsichtigt
mußte Eraine dieses Lächeln erwidert haben, denn er schöpfte genug Mut,
um zu ihr herüber zu kommen.
»Darf ich mich mit einem Krug Wein zu Euch setzen?« fragte er höflich.
Eraine fand sein Betragen etwas aufdringlich. Sie fühlte sich zerschlagen
von der Reise, und ihr Sinn stand nicht nach einer Unterhaltung über jene
Belanglosigkeiten, die zumeist derartige Gespräche behandelten. Andererseits
war dies die einzige Möglichkeit, auf andere Gedanken zu kommen. Sie hatte
schon zu lange nur mit sich selbst zu tun. Vielleicht konnte sie von dem
jungen Mann auch Neuigkeiten aus dem Königreich erfahren. Sie nickte.
Er stellte seinen Weinkrug und zwei Becher auf den Tisch, setzte sich
und bot ihr mit fast entschuldigendem Lächeln einen Becher an. »Trinkt
nur! Es ist köstlicher Rotwein aus Treman, 95er, ein ausgezeichneter Jahrgang.«
Eraine nahm den Becher stumm entgegen und stieß mit ihm an. Mit Genuß
trank sie den kräftigen, samtigen Wein. Es war schon eine ganze Zeit her,
seit man ihr zuletzt einen Wein von vergleichbarer Güte angeboten hatte.
Sie überlegte, wo sie gewesen war, als der unbekannte Winzer in Treman
die Trauben für diesen Wein las. Sie verzog das Gesicht; dies waren keine
schönen Erinnerungen.
Der junge Mann mißdeutete ihre Miene und frug: »Schmeckt es Euch nicht?
Es ist der beste Wein des Hauses.«
Sie lachte und musterte über den Rand ihres Becher hinweg ihr Gegenüber.
Sie fragte sich, woher er das Geld nahm, einen so teuren Wein zu bezahlen.
Er stammte gewiß nicht aus dem Ort, und wie ein wohlhabender Kaufmann
sah er mit seinem struppigen dunklen Lockenhaar, dem Ein-Wochen-Bart und
seiner nachlässigen Kleidung auch nicht aus. Nicht, daß er einen ungepflegten
Eindruck hinterlassen hätte. Vielmehr war er recht gutaussehend, obzwar
vielleicht etwas verweichlicht: sein scheues Lächeln entblößte fast makellose
Zähne und seine Hände waren, wenngleich gröber und größer gewachsen, doch
zarter als ihre eigenen, als habe er noch nie in seinem Leben gearbeitet.
Auf dem kleinen Finger seiner rechten Hand steckte ein schmuckloser Ring
aus rotem Gold, keinesfalls ein Zeichen von Armut. Seine Augen waren blau
und klar, hatten offenbar noch nicht viel gesehen, was ihren Glanz getrübt
hätte.
»Nein, nein, der Wein ist sehr gut«, sagte sie endlich.
»Wie heißt Ihr?« fragte er, denn das hielt er wohl für die beste Art,
das Gespräch zu beginnen.
»Nennt mich Eraine«, sagte sie nach einem unmerklichen Zögern.
Er musterte nachdenklich ihr Gesicht, welches, eingerahmt von wirren Haarsträhnen,
im Kerzenschein glühte: geschwungene, dunkle Augenbrauen, eine lange,
schmale Nase, ein nicht zu breiter Mund, dessen Schwung ihrer Miene einen
leicht spöttischen Ton verliehen. Ihre Züge strahlten, wiewohl durchaus
anziehend, eine kühle Reserviertheit aus. Nur ihre Augen wirkten lebendiger.
Grün wie die Augen einer Katze, dachte er, so fremd und so geheimnisvoll.
Mit einem vorsichtigen Lächeln meinte er: »Eraine - das ist ein ungewöhnlicher
Name. Eure Ausdrucksweise legt hingegen den Schluß nahe, daß es doch nicht
Euer wahrer Name ist.«
Ihre Züge erstarrten zu einem kühlen Lächeln. Seine Spitzfindigkeit und
selbstzufriedene Art ärgerten sie mehr, als sie sich eingestehen wollte.
Sie erklärte in herablassendem Tonfall: »Was ist denn ein wahrer Name?
Ist der Name, den mein Vater mir gab, wahrer als der, den ich selbst
wählte? Welch ein Unsinn! - Manchmal glaube ich, daß der Begriff Wahrheit
alleine auf Lüge und Selbsttäuschung beruht. Was meint Ihr?«
Er nahm ihre Worte mit erhobener Augenbraue zur Kenntnis und wählte die
Worte seiner Erwiderung sorgsam, als wäre er sich ihrer Bedeutung wohl
bewußt. »Nun, Ihr haltet Euch jedenfalls für eine Enterbte«, erklärte
er. »Ein erstaunlicher Name, und ein vielsagender obendrein.« Er breitete
die Arme aus. »Ich heiße jedoch einfach nur Edward. Ein wenig ergiebiger
Name, nicht wahr?«
Eraine biß sich auf die Lippen und bereute ihre Unbesonnenheit, zu der
sie wohl die Behaglichkeit und Geborgenheit des wohlbekannten Gasthofes
verführt hatten. Schon einmal hatte sie sich durch unvorsichtige Bemerkungen
in außerordentliche Gefahr gebracht; und auch jetzt strebte das Gespräch
höchst beunruhigenden Bahnen zu.
Woher mochte der junge Mann das Nermenta kennen, die alte Sprache, die
lediglich noch von einigen greisen Gelehrten beherrscht und verwendet
wurde, um verstaubte Schriftrollen und alte Zauberbücher zu entziffern.
Eraine war ein Wort dieser Sprache, und es bedeutete tatsächlich Enterbte.
Edward war offenbar kein verzogener Sohn eines reichen Kaufmanns oder
Grundbesitzers; er hatte keine geringere Ausbildung erhalten als sie selbst.
Für einen Augenblick des Schreckens, argwöhnte sie, den Angehörigen einer
Adelsfamilie des Königreiches vor sich zu haben, vielleicht gar einen
treuen Gefolgsmann des Königs.
Aber in diesem Gasthof und ohne Gefolge? Das konnte nicht sein. Sicherlich
war Edward der Lehrling eines Schreibers oder eines anderen Gelehrten;
das schien ganz gut zu ihm zu passen. Mit diesem Gedanken beruhigte sie
sich wieder.
Der alte Wirt erschien und brachte Eraine eine Schale mit dampfendem Kohleintopf
und einen flachen Laib sauren Brotes. Als er Edward an ihrem Tisch bemerkte,
lächelte er nur. Eraine nahm es als gutes Zeichen. Er hätte ihr gewiß
zu verstehen gegeben, wenn er Edward für eine Gefahr gehalten hätte.
Eraine aß mit dem Heißhunger des Wanderers, der eine große Wegstrecke
zurückgelegt hat, und sie trank Wein dazu, vielleicht ein kleinwenig mehr
als sie sich gewöhnlich zugestand. Edward hing derweil seinen Gedanken
nach und belästigte sie nicht mit Fragen, was ihr in diesem Augenblick
ganz recht war. Sie gab vor, seine aufmerksamen Blicke nicht zu bemerken
und lehnte sich schließlich, nachdem sie ihr bäuerliches Mahl beendet
hatte, betont lässig zurück.
Edward nahm nach einem gemeinsamen Schluck Wein den Faden ihrer Unterhaltung
wieder auf. Mit Bedauern warf er ein: »Ich bemerke eine gewisse Dissonanz
in unserem Gespräch?«
»Tut Ihr das?« fragte sie spöttisch.
»Ja. Nach meinem Eindruck ist unsere Unterhaltung erfüllt von einer unterschwelligen
Aggressivität.«
»Würdet Ihr es vielleicht vorziehen, wenn wir höfliche Floskeln austauschen
würden?«
»Keineswegs.« Er lächelte etwas gequält. Sie glaubte ihm durchaus, daß
er sich den Verlauf dieser Unterhaltung anders vorgestellt hatte. Er fuhr
fort: »Ich frage mich nur: warum? Wovor fürchtet Ihr Euch so? Ich habe
nicht vor, Euch ein Leid anzutun.«
»Das haben schon viele behauptet«, versetzte sie, unversehens wieder mit
sehr persönlichen Fragen bedrängt. »Ich habe gelernt, niemandem zu trauen.«
»Ich kann mir vorstellen, daß Euer Leben hart gewesen sein muß.«
»Ach, Ihr habt keine Vorstellung. Ihr wißt nichts darüber!«
»Das würde ich nicht sagen, Eraine.« Er senkte die Stimme zu einem verschwörerischen
Flüstern: »Oder sollte ich besser sagen: Alcana.«
Die junge Frau erbleichte; ihre linke Hand tastete zum Schwertgriff an
ihrer Hüfte, doch sie blieb sitzen. »Es hat nicht lange gedauert«, sagte
sie müde. »Wie konntet Ihr mich so schnell finden? Hat Laërd mich verraten?«
Edward spürte ihre Anspannung und antwortete daher in betont ruhigem Tonfall:
»Ich habe Euch nicht gesucht, und auch nicht auf Euch gewartet. Einen
Laërd kenne ich nicht.«
»Wie kann das sein?«
»Es ist ein Zufall, daß wir uns hier begegnen«, sagte er, »und ein noch
größerer, daß wir uns miteinander unterhalten. Bei Tesmia, die einzige
Frau, die ich in diesem abgeschiedenen Gasthof anspreche, seid ausgerechnet
Ihr.« Er rollte mit den Augen.
»Dennoch wußtet Ihr, wer ich bin.« Ihr anhaltendes Mißtrauen war ebenso
spürbar, wie sein Bemühen, ihr Vertrauen zu gewinnen.
»Zunächst nicht. Doch als Ihr Euch Eraine nanntet, wurden mir einige Details,
die ich zuvor eher nebensächlich bemerkt hatte, klar. Habt Ihr denn wirklich
angenommen, dieser Name sei im Königreich unbekannt?«
Sie rieb sich den Nasenrücken, vielleicht ein Anzeichen von Nervosität.
Edward bemerkte, daß sie ein breites Lederarmband am Handgelenk trug,
ohne Verzierungen und dunkel vom Alter. »Ich habe diesen Namen noch nicht
oft verwendet. Ja, ich dachte, er wäre in Arn noch unbekannt«, gab sie
zu.
»Er ist es nicht. Wenn Ihr wirklich unerkannt bleiben wollt, solltet Ihr
Euch vielleicht einen anderen Namen aneignen und, wenn ich das bemerken
darf, weniger fremdartige Kleidung tragen, mit der Ihr überall auffallt«,
erklärte Edward. Er spreizte die Arme in einer Geste der Offenheit. »Aber
noch ist kein Unheil geschehen. - Das nehme ich zumindest an.«
Alcana ging nicht direkt auf seine Worte ein. »Wir haben einige Dinge
zu klären«, sagte sie, und eine bedrohliche Ruhe lag in ihrer Stimme.
»Wer seid Ihr wirklich, Edward? Und was sind Eure Pläne?«
»Gut«, erwiderte er, um einen lockeren Plauderton bemüht. »Ich will offen
zu Euch sein.«
»Das empfehle ich Euch.«
Er lächelte etwas gequält, griff in den Ausschnitt seines Hemdes und zog
an einer Halskette einen klobigen Ring hervor. Er überreichte ihn ihr.
»Ich bin ein Adeliger des Königreiches, doch kein treuer Gefolgsmann des
Königs.«
Alcana betrachtete den schweren Ring eingehend. Es war der Siegelring
des Mitglieds einer fürstlichen Familie, und das Siegel zeigte ein Schiff
mit einer Kamelienblüte auf dem Segel. Es war schon lange her, daß sie
in den Regeln der Heraldik unterwiesen worden war, dennoch fiel es ihr
nicht schwer, es einem bestimmten Haus zuzuordnen.
»Branjoch.«
»In der Tat«, stimmte der junge Mann zu. »Ich bin Edward, jüngerer Sohn
von Ædron, dem Herzog von Branjoch.«
Alcana lachte freudlos. »Wenn es Euch verwundert, daß Ihr ausgerechnet
mich getroffen habt in diesem Gasthof, wie konnte ich dann ahnen, daß
der unrasierte Jüngling an meinem Tisch der Sohn eines Herzogs ist. Dieses
Zusammentreffen ist höchst merkwürdig. Ich mag nicht an einen Zufall glauben.«
Edward lächelte. »Es war eine Fügung des Schicksals, da bin ich mir sicher.
Bestimmung, wenn Ihr so wollt.«
»Ich glaube nicht an Bestimmung«, widersprach sie.
»Das ist schade. Sie verleiht der Welt eine gewisse Romantik.«
»Aufgrund meiner Erfahrungen kann ich Euch versichern: der Welt wohnt
wenig Romantisches inne.«
Er senkte den Blick und sprach leise: »Ihr müßt sehr verbittert sein.«
Alcana rutschte unruhig auf ihrem Stuhl und wechselte schnell das Thema:
»Die Frage ist doch, was tun wir jetzt? Was sind Eure Ziele, Edward von
Branjoch?«
»Oh, ich habe keine Ziele, keine Pläne, wenn Ihr so wollt.« Er lachte
und hob seinen Becher. »Abgesehen vielleicht, daß ich zu gehöriger Zeit
nach Branjoch zurückkehren möchte«, schränkte er ein, nachdem er getrunken
hatte.
»Das zu glauben fällt mir schwer. Ihr müßt aus einem guten Grund hier
sein!«
»Ich verstehe Euer Mißtrauen, aber Ihr irrt. Ich habe Euch nicht aufgelauert.
Ich war in Almion, um Weine für den Keller meines Vaters aufzukaufen.
Diese Aufgabe habe ich erfüllt, und jetzt warte ich hier noch eine Weile
ab, bis das Wetter freundlicher geworden ist, um den Paß zu Königreich
zu überschreiten. Das ist die Wahrheit.«
»Der Paßweg ist die meiste Zeit des Jahres passierbar, wenn sich die Dinge
nicht merklich geändert haben, seit ich zum letzten Mal hier war.« Sie
kniff die Augen zusammen. »Warum zögert Ihr dann?«
»Ich genieße die Ruhe dieses alten Gasthofes und warte, bis eine Gruppe
von Händlern des Weges kommt, der ich mich anschließen kann. Alleine über
den Paß zu reisen, ist nicht nur freudlos sondern auch gefährlich.«
»Mag sein, daß Ihr die Wahrheit sagt. Doch wie kann ich sicher sein, daß
Ihr nicht im Dienst meiner Feinde steht?«
»Das Haus der roten Kamelien stand seit je her in Rivalität zum Königshaus,
das zumindest solltet Ihr wissen. Ihr habt mein Wort: ich bin Euch wohl
gesonnen.«
Edwards Worte klangen durchaus aufrichtig, doch Alcana wandte ein: »Es
könnten sich in den letzten Jahren Änderungen ergeben haben, von denen
ich keine Kenntnis habe.«
»Nun denn: die Dinge sind, wie sie sind, und Ihr müßt mir halt vertrauen«,
stellte Edward gelassen fest. »Wie wolltet Ihr verhindern, daß ich mein
Wissen preisgebe, wenn mir der Sinn danach stünde?«
»Da gibt es Möglichkeiten genug...«, sagte sie ohne Begeisterung. Doch
sie war müde und wollte nicht kämpfen, nicht jetzt und nicht gegen diesen
jungen Mann, den sie trotz allem Argwohn durchaus leiden mochte. Sie seufzte.
»Nun gut, ich will Euch vertrauen, vorerst. Laßt uns gemeinsam trinken,
und Ihr erzählt mir Neuigkeiten aus dem Königreich!«
Edward
erzählte vom Leben im Königreich und von alledem, was sich in den letzten
Jahren geändert hatte. Es gab nicht allzu viel Neues aus den sieben Fürstentümern,
die unter König Karl dem Prächtigen vereint waren. Richard, der Sohn Karls
und Herzog von Redrien, hatte Treburg nicht wieder aufgebaut und hielt
in der Salenburg bei Arn Hof.
»Die Ritter des Königsbanners, werden sie immer noch von...«, Alcana zögerte
den Namen auszusprechen. »...von Aiara Goldhaar angeführt?«
»Gewiß! Sie ist obendrein die Geliebte des Königs, das ist bekannt.«
Es trat Schweigen ein, weil Alcana ihren eigenen dunklen Gedanken nachhing
und Edward nichts mehr zu erzählen wußte. Die Gaststube war leer und ruhig;
alle anderen Gäste lagen längst in ihren Betten. Edward leerte seinen
Becher.
»Was sind Eure weiteren Pläne?« fragte er. »Wollt Ihr über den Paß ziehen?«
Sie nickte nur. Diese Absicht konnte sie nicht leugnen, und sie ahnte,
welche Frage er als nächste stellen würde.
»Ohne mich aufdrängen zu wollen: wäre es in Eurem Sinne, wenn ich mich
Euch auf Eurer Reise anschließen würde?«
»Ich weiß nicht so recht«, sagte sie und spitzte den Mund. »Warum wollt
Ihr mit mir ziehen?«
»Meine Geschäfte in Rauhen sind erledigt«, erklärte er. »Ich habe hier
im Grunde schon zu lange verweilt. Wir beide haben den gleichen Weg, und
der Weg über den Paß ist, wie ich bereits erwähnte, in Begleitung weitaus
erquicklicher als alleine.« Er lächelte fast ein wenig schüchtern.
»Nun gut!« sagte sie nach einer kurzen Weile. »Ich bin einverstanden.«
Sie hoffte, daß seine Begleitung sie etwas von ihren trüben Gedanken ablenken
würde. Außerdem konnte er ihr unter Umständen hilfreich sein, wenn Laërd
nicht noch auftauchte. Und sollte Edward im Dienste ihrer Feinde stehen,
woran sie nicht so recht glauben mochte, dann war es allemal besser, ihn
mitzunehmen und im Auge zu behalten. »Doch ich muß Euch warnen: an meiner
Seite mögt Ihr in größere Schwierigkeiten geraten, als Ihr bislang alleine
kennengelernt habt. Ich ziehe wohl das Unheil an.«
»Dann wollen wir selbzweit allen Gefahren trotzen«, meinte er kühn und
bedachte sie mit einem seltsamem Blick, und in Alcana wuchs das rare Gefühl,
einen Freund gewonnen zu haben.
Sie lächelte. »So soll es sein.«
Edward gähnte hinter vorgehaltener Hand und schaute auf seinen leeren
Becher. »Ich nehme an, Ihr wollt bald wieder aufbrechen?«
»Morgen früh, um genau zu sein.«
Er rieb sich die Augen. »Das habe ich vermutet. Seid mir bitte nicht gram,
daß ich keinen neuen Wein mehr bestelle. Aber ich sollte jetzt schlafen
gehen, sonst nicke ich morgen womöglich beim Reiten ein und rutsche vom
Pferd. Gute Nacht!«
Alcana nickte ihm zu, als er schied. Sie blieb nicht sehr lange allein
beim Kerzenlicht, dann kam der Alte und setzte sich zu ihr. »Ich wollte
euch eben nicht stören«, erklärte er. »Edward ist ein netter junger Mann,
nicht wahr?« Er zwinkerte mit den Augen.
»Denke dir nur nicht zuviel dabei«, erwiderte sie. »Er ist in der Tat
noch sehr jung - zu jung.«
»Soso. Immerhin habt ihr euch recht angeregt unterhalten...«
»Ich werde dir gewiß keine Rechenschaft darüber ablegen«, sagte sie in
schärferem Tonfall.
Er kannte ihre bisweilen schroffe Art und nahm ihr die Worte nicht übel.
»Du hast mir noch nie Rechenschaft über dein Tun abgelegt, und das mußt
du auch nicht«, lachte er.
Sie nickte, versöhnlicher gestimmt. »Das ist gut so.«
Er entkorkte eine bauchige Tonflasche und schenkte ihr und sich selbst
reichlich ein. »Das ist ein Gersten-Branntwein, der über fünf Jahre in
angekohlten Eichenfässern gelagert wurde. Ich finde, er hat mittlerweile
eine gewisse Fülle erreicht. Laß uns auf unser Wiedersehen trinken!«
Das bernsteinfarbene Getränk brannte in der Kehle und verströmte einen
rauchigen Geschmack, doch es erfüllte Alcanas müden Körper mit Wärme und
einem entspannten Wohlgefühl. »Jetzt weiß ich, wovon deine Stimme so rauh
und dunkel geworden ist«, meinte sie.
»Gut möglich. - Ich habe hier etwas für dich, mein Kind. Sieh her! Ich
habe ihn die ganzen Jahre hindurch aufbewahrt.« Er reichte ihr einen Ring,
der ganz ähnlich war zu jenem, den ihr kurz zuvor Edward gezeigt hatte.
Doch das Wappen zeigte die Lilien des edelsten Hauses von Arn und die
Eibe von Redrien.
Alcanas Augen leuchteten kurz auf. »Du hast den Ring noch? Ich hatte ihn
völlig vergessen.«
»Der Situation wohnt zweifellos eine gewisse Ironie inne. Ein alter Gastwirt
als Siegelbewahrer des Herzogs von Redrien. - Du hast ihn seinerzeit achtlos
zurückgelassen; ich dachte mir allerdings, daß du ihn brauchen könntest.«
»Ich danke dir«, sagte sie und nahm den Siegelring ihres Vaters an sich.
»Obwohl ich noch nicht weiß, was ich mit ihm anfangen kann.«
Sie tranken. Alcana sagte: »Ich habe noch eine Bitte...«
»Was kann ich tun?«
»Ich brauche Verpflegung für die Reise über den Paß und angemessene Kleidung,
mit der ich nicht auffalle.«
»Willst du bald weiterziehen?«
Sie nickte. »Ich muß schon morgen in der Frühe aufbrechen, mein Freund.
Mir wird keine Ruhe gegönnt. Es tut mir leid.«
»Du mußt tun, was du für richtig hältst«, erwiderte er etwas schroff.
Er verbarg seine Verärgerung, indem er einen tiefen Schluck aus seinem
Becher nahm, und bemühte sich um ein Lächeln. Er kannte sie gut genug,
sie nicht um einen längeren Aufenthalt zu bitten. »Ich wünschte, ich wäre
noch jünger. Dann könnte ich mit dir gehen und für dich kämpfen, aber
ich bin nur ein alter müder Gastwirt.«
»In dieser Angelegenheit sind bereits zu viele Unbeteiligte zu Schaden
gekommen«, wehrte sie ab. »Ich würde nicht wollen, daß du mich begleitest.«
»Du hast dich sehr verändert, Kind. Wenig ist von dem verängstigten Mädchen
geblieben, daß ich einst am Tor aufgelesen habe.«
»Das hoffe ich.«
»Doch du bist noch ernster geworden und noch verschlossener als früher«,
sagte er. »Was hast du erlebt in der Welt?«
»Keine schönen Dinge...«, erwiderte sie. »Doch einiges will ich dir erzählen,
alter Freund. Einiges will ich dir erzählen von den Ländern am Bortischen
Meer.« So saßen sie noch eine ganze Weile beisammen, und die Stunden verstrichen,
so wie die Jahre verflogen waren, von denen sie sprachen.
Die Morgendämmerung
lag nicht mehr fern, als der alte Mann Alcana über den Innenhof und die
bedenklich knirschende Holztreppe zu ihrer Kammer führte. Es handelte
sich um einen stickigen, kalten Raum ohne Kamin, aber mit säuberlich gemachtem
Bett. Das einzige Fenster wies zur Straße hin, und in einer Ecke standen
ein Waschbecken und ein großer Krug mit kaltem Wasser. Ihr spärliches
Gepäck lag daneben.
»Schlafe gut!« wünschte der Alte Alcana und strich ihr über das Haar.
Dann ging er, und seine müden Schritte verloren sich in der Nacht des
Hofes.
Alcana stieß das Fenster auf und sog in tiefen Zügen die kühle, feuchte
Nachtluft ein. Dies belebte ihre Sinne und nahm der Kammer etwas von ihrer
bedrückenden Enge. Sie legte ihre Kleider ab und kroch unter die Bettdecke.
Das rauhe Laken war angenehm kühl auf der Haut; ihr wachsamer Körper entspannte
sich. Binnen weniger Augenblicke war sie eingeschlafen.
(c)
Andreas
Metz, 2001
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