Die Alcana-Trilogie

Kapitel 2- Zum zerbrochenen Stern

(c) Andreas Metz, 2001



Das Grau des Himmels verfinsterte sich zusehends. Die Berge lagen bereits in Dunkelheit, während der Westen noch in rotes, verlöschendes Feuer getaucht wurde. Die Sonne schien geradewegs in den geheimnisvollen Nebeln des Großen Flußtales unterzugehen. Die Dämmerung brach an.
Der alte Mann zog seinen zerschlissenen Mantel fest um sich, bevor er das Reisigbündel auf die Schulter nahm und sich auf den Heimweg machte - eine einsame, von der Last arbeitsreicher Jahre gebückte Gestalt inmitten der brachliegenden Felder. Ein kalter Wind kam auf. Obschon dem Namen nach unlängst der Frühling angebrochen war, hatte er doch die karge Hochebene von Rauhen noch nicht berührt; das Land war noch grau und kahl wie in der tiefsten Winterruhe.
Der Mann vermied es, an das vergangene Jahr zu denken. Damals war sein Weib der Auszehrung erlegen, und nun hatte er niemanden mehr, der das Leben mit ihm teilte. Alleine bestellte er seinen Acker, baute Flachs und Gerste an und versorgte seinen Hof. Es reichte zum Leben, denn die Abgaben an den Städtebund, welcher über die Ruhe im Lande wachte, blieben gering; aber sein Dasein war einsam und leer geworden seither. Er hatte es trotz der nahenden Dunkelheit nicht sehr eilig, das Gehöft zu erreichen.
Die Luft roch feucht und in den windgeschützten Senken der Felder sammelte sich bereits der Nebel, verdichtete sich zu Bänken, die milchig-weißen Seen glichen. In der hereinbrechenden Nacht klang verhaltener Hufschlag auf.
Wer mag so spät noch unterwegs sein? fragte der Bauer sich und spähte neugierig in die Dämmerung hinaus, wo ein schwarzes Pferd aus den Schatten trat. Im Sattel saß hochaufgerichtet eine schlanke Frauengestalt in einem weiten grünen Umhang. Ein langer dunkler Zopf wippte Rhythmus des Trabes. Das Pferd schnaubte, und seine Nüstern dampften in der Kälte.
Als die Reiterin den alten Mann gewahrte, zog sie die Zügel an. Mit tänzelnden Schritten kam das Roß zum Stehen; sie beugte sich vor und klopfte ihm beruhigend den Hals. Dann wandte sie sich dem Mann zu. Ihre Stimme klang heiser vom Staub der Straße, doch ihre Aussprache war klar und ohne Akzent: »Einen schönen Abend wünsche ich Euch.«
Ihr schmales Gesicht war blaß, aber keineswegs häßlich. Ihre großen Augen musterten ihn wachsam. Trotz ihrer abweisenden, ernsten Haltung, schien sie noch recht jung zu sein.
»Ich wünsch' Euch dasselbe, Fremde«, erwiderte der Bauer in der nuschelnden Sprechweise der Landleute. Sein Lächeln entblößte vereinzelte Zahnstümpfe. »S'ist ein ungemütlicher Abend. Warum seid Ihr so spät noch unterwechs, wenn ich fragen darf?«
»Das Gleiche könnte ich Euch auch fragen.« Sie lachte auf. »Sagt mir lieber: ist es noch weit bis Hochtraben?«
Er vollführte mit der freien Hand eine unbestimmte Geste, die alles mögliche bedeuten mochte. »Einige Meilen werden's noch sein, immer der Straße nach.«
»Aha«, befand sie und lächelte in sanftem Spott, dann wurde sie nachdenklich: »Ich war schon lange nicht mehr in der Stadt. Hat sich viel verändert? Gibt es den Zerbrochenen Stern noch?«
»Ich glaub' schon«, sagte der Bauer und betrachtete die Frau verstohlen. Der Gasthof Zum Zerbrochenen Stern galt weithin als Treffpunkt von Landstreichern und anderen Gesellen von zweifelhaftem Ruf, wenngleich mitunter auch reisende Kaufleute dort Unterkunft fanden. Doch ihr Äußeres ließ die Frau nicht wie eine Händlerin erscheinen, und ihre Sprache klang gebildeter, als es Angehörige der besitzlosen Zünfte für gewöhnlich waren. In ihrer Stimme lag ein Hauch von Überheblichkeit, wie sie die höheren Stände seinesgleichen stets entgegen brachten. »In Hochtraben geschieht nicht viel, wißt Ihr. Das ist eine ruhige Gegend hier.«
Sie ging nicht darauf ein, statt dessen frug sie: »Habt Ihr Neuigkeiten aus dem Königreich Arn gehört?«
»Nee! Ich lebe hier allein von dem, was mein Acker mir gibt. Was kümmert mich das fremde Könichreich?«
»Dann habt Dank für Eure Auskünfte, alter Mann«, sagte die Frau schmunzelnd und gab ihrem Pferd die Sporen. »Lebt wohl.« Der Bauer schaute ihr nach, bis die Dunkelheit sie verschlang und die Hufschläge in der Ferne verklangen. Er schüttelte den Kopf über diese wunderliche Begegnung und machte sich dann auf den Heimweg; und es ist höchst unwahrscheinlich, daß er je mehr von der ganzen Geschichte erfuhr.

Die junge Frau nannte sich Eraine. Sie war schlank und von mittlerer Körpergröße, ausgestattet mit einer schmalen Statur und langen, beweglichen Gliedmaßen. Sie trug Kleidung von guter Qualität, die jedoch deutliche Spuren der Abnutzung zeigte: weiche Halbstiefel, ursprünglich wohl weinrot gefärbte Pluderhosen mit Rautenmuster und darüber ein dunkelgrüner, langärmeliger Leibrock aus festem Stoff. Auf ihrer rechten Seite war an einem breiten Gürtel eine schmucklose Lederscheide befestigt mit einem schmalen, schwach gebogenen Schwert - ein Darg, wie er in den Ländern am Bortischen Meer gerne getragen wurde. An ihrer linken Seite hing jedoch an einem Band eine Querflöte. Sie zog den Mantel enger um sich, doch auf die Kapuze verzichtete sie, obschon der immer dichter werdende Nebel ihr Haar mit Feuchtigkeit tränkte.
Der Abend schritt hurtig voran, und die Dämmerung wich dem Dunkel der Nacht. Trotz ihrer Müdigkeit blieb Eraine wachsam und aufrecht im Sattel. Ihrem Rappen, einem grazilen, leichtfüßigen Tier von den sonnenverwöhnten Wiesen Merdyns, schien die feuchtkalte Nacht auf der Hochebene noch weit weniger zu behagen. Mit gesenktem Kopf trottete er voran, und selbst der leise Zuspruch seiner Reiterin und beruhigendes Klopfen auf den Hals konnten ihn nicht ermutigen. Die Stute schnaubte nur abfällig und schüttelte träge den Kopf mit der breiten Blesse.
Die Frau und ihr Roß hatten eine mühevolle Reise hinter sich, seit sie den kleinen Freihafen in Merdyn verlassen hatten. Nahe der alten Ruinenstadt Kadah hatten sie den großen Fluß überschritten und sodann den Weg nach Norden eingeschlagen. Die Bergpässe zwischen dem Tiefland von Golmur und Rauhen waren flach und das ganze Jahr hindurch gut begehbar; Reisende waren in dieser Jahreszeit jedoch selten, und Eraine hatte eine gewisse Aufmerksamkeit nicht vermeiden können. Ihre Spur war sicherlich deutlich und unschwer zu verfolgen. Daher hatte sie die Landstriche um Almion und Treman zügig hinter sich gelassen, um eine möglichst große Entfernung zu ihren Verfolgern zu gewinnen. Hochtraben war der erste Ort seit langem, der Aussicht auf mehr als eine kurze Rast am Wegesrand und ein hastiges Mahl versprach. Hier hoffte sie, etwas Kraft zu schöpfen, vor der Besteigung des Passes zum Königreich, einem Schritt, dessen Auswirkungen sie noch nicht überschauen konnte. Möglicherweise traf sie hier auch einen alten Freund an. Wenn er noch lebte, hatte er sicherlich ihre Botschaft erhalten und erwartete sie.
Eraine runzelte die Stirn. Vorausgesetzt ich erreiche den Ort überhaupt noch in dieser Nacht, murmelte sie. Die Nebel schlossen sich wie ein bleiches Laken um sie, und im schwachen Mondschein fiel es schwer, dem Verlauf der Straße zu folgen. Unter diesen Umständen erschien ein weiterer Ritt gefährlich. Eraine zögerte jedoch, eine nächtliche Rast einzulegen. Die damit verbundene Verzögerung hätte zur Folge gehabt, daß sie sich am nächsten Morgen direkt zum Paß wenden mußte, ohne in Hochtraben zu verweilen.
Als sie schon jede Hoffnung auf einen warmen Platz in dieser Nacht verloren hatte, tauchten vor ihr einzelne schwache Lichter auf. Mit neuem Mut hielt sie darauf zu und gelangte bald zu einem grauen, leeren Steinbogen, welcher in der Tat das südliche Tor der Stadt Hochtraben war. Eine verschließbare Pforte gab es seit Jahrzehnten nicht mehr, und auch die enge Wachstube zur Linken war unbesetzt. Eraine lächelte freudlos darüber, wie offen sich der Ort Räubern und Dieben darbot.
Gleichwohl übte der Anblick dieses alten, nutzlosen Torbogens eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Hochtraben war ein Stück ihrer Vergangenheit, hier hatte sie die erste Zuflucht gefunden auf ihrem langen Weg, und auch jetzt, da sie nach so vielen Jahren zurückkehrte, verband sie mit diesem Ort ein Gefühl der Vertrautheit und Geborgenheit, das sie lange vermißt hatte.
»Ob er noch lebt?« murmelte sie müde.
Laut klapperten die Hufe des Pferdes auf dem Pflaster der schmalen Gasse, die zum Marktplatz führte. Eraine stellte fest, daß sich nicht sehr viel verändert hatte. Die einfachen, dicht zusammengedrängten Häuser sahen noch immer genauso alt und genauso dreckig aus wie früher, ja sie schienen, falls dies überhaupt möglich war, noch um einen Deut schäbiger geworden zu sein. Hochtraben war ein sterbender Ort, abhängig vom Handel mit dem Königreich von Arn jenseits der Berge, und jenes hatte nur wenig Interesse an Rauhen. Jahr um Jahr zogen viele Bürger fort, um in Treman oder Almion im Süden ihr Glück zu suchen. Nur aus wenigen Fenstern drang Lichtschein, und nicht in allen Häusern, die dunkel waren, hielten die Bewohner ihre Bettruhe. Eine stattliche Anzahl dieser Häuser stand bereits leer. Sie verfielen, und keiner kümmerte sich darum. Hochtraben verfaulte von innen heraus wie ein kranker Zahn, und längst war absehbar, daß es zu gehöriger Zeit eine gänzlich unbewohnte Ruine sein würde.
Der Marktplatz öffnete sich vor Eraine als eine Freifläche von viereckigem Grundriß, umrahmt von doppelstöckigen, spitzgiebligen Steinhäusern, die sich eng aneinander drängten, als suchten sie auf diese Weise Schutz vor den Unbilden der Welt. In der Mitte des Platzes erhob sich der Schrein der Stadtgöttin Kalestra aus gewachstem, vom Alter schwärzlichem Holz. Die Verzierungen aus Wimpeln, Schleifen und Troddeln hingen schlaff und feucht vom Nebel herab.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes stand der alte Gasthof, in dem Eraine schon einmal, vor so langer Zeit, Unterschlupf gefunden hatte. Das Gebäude machte keinen sehr einladenden Eindruck, hatte ihn nicht gemacht, solange Eraine sich seiner entsann, aber auch hier waren die Zeichen des Verfalls deutlicher geworden. Die Holzrahmen der Fenster faulten bereits an einigen Stellen, die Scheiben waren milchig und zerkratzt, und bunte Flicken überzogen den Vorhang, der vor dem Eingang hing. Über der Tür hing an einer kurzen Kette ein Stern, dessen sechste Zacke abgebrochen war.
Trotz seines baufälligen Aussehens war das Haus unzweifelhaft bewohnt: flackernder Lichtschein fiel durch die Fenster im Erdgeschoß und gedämpft klangen einzelne Stimmen auf.
Eraine atmete tief durch, schloß kurz die Augen und strich sich eine lästige Haarsträhne aus dem Gesicht, bevor sie absaß. Als sie den Vorhang zurückschlug und durch die Türe trat, schlug ihr ein Schwall warmer Luft ins Gesicht. Blinzelnd sah sie sich um. Die Gaststube entsprach noch ihren Erinnerungen: die kahlen Steinwände, die groben Holzmöbel, der wärmende Kamin, nicht zuletzt die stickige Luft getränkt vom Wachsgeruch der Kerzen und einem schwach modrigen Unterton, wie in einem alten Weinkeller. An der gegenüberliegenden Wand gähnte die dunkle Öffnung jener Tür, die in den Hinterhof führte.
Eine Handvoll reisender Händler in den blauen Roben der Turmuk-Gilde aus Almion unterhielten sich lautstark an einem Tisch, und etwas abseits saß ein einsamer, schweigsamer Jüngling bei einem Krug Wein. Dies waren die einzigen Gäste. Aber dort, im hinteren Teil der Stube an seinem Platz an der Theke, saß der alte Wirt des Zerbrochenen Sterns und leerte zusammen mit zwei Einheimischen einen Becher Bier.
Eraine kniff die Augen zusammen, doch sie erkannte ihn schnell wieder, und die Andeutung von Erleichterung flog über ihr müdes Gesicht. Nach einem kurzen Augenblick trat Erkennen auch in seine Augen, als er zu ihr aufschaute. Er erhob sich umständlich, suchte nach Worten.
»Willkommen, Herrin! Ihr seid schon lange nicht mehr hier gewesen«, rang er sich eine förmliche Begrüßung ab, denn er wußte um die Gefahren ihrer Flucht und wollte sie nicht durch zu große Vertraulichkeit bloßstellen.
Eraine biß sich auf die Lippen. Er war dünn geworden, fast mager. Sein schütteres Haar war schneeweiß, die Wangen waren eingefallen und tiefe Falten hatten sich in seine Stirn gegraben. Er schien mit derselben Eile gealtert zu sein wie sein halb zerfallenes Haus. Nur die eisengrauen Augen funkelten noch im wachen Glanz einer längst verlorenen Jugend.
»Ich hoffe, es geht Euch gut?« verbarg sie ihre Erschütterung hinter einer Floskel.
»Ich werde alt«, sagte er müde, als hätte er ihre Gedanken dennoch erraten. »Die Kälte kriecht in meine Glieder, langsam zwar, aber sie kommt... Aber gut, Ihr begehrt eine Unterkunft, nehme ich an? Habt Ihr ein Reittier?«
Sie nickte. »Ich bringe es in den Hof.«
Als sie um die Straßenecke bog, hatte er bereits das Tor geöffnet und ließ sie in den Innenhof. Dort umarmte er sie und küßte sie wie ein Kind auf die Stirn. Seine Augen glänzten feucht in der Dunkelheit.
»Du bist es wirklich, nicht wahr?«
»Ja, ich bin es, alter Freund«, sagte sie mit leiser, milder Stimme. Geduldig ertrug sie seine Zärtlichkeit, die sie sonst nur wenigen Menschen zugebilligt hätte. Er war für sie wie ein Vater gewesen, nach jenem verfluchten Julitag vor so vielen Jahren, einer der ganz wenigen, die noch am ehesten die Bezeichnung Freund verdienten. Für kurze Zeit hatte sie bei ihm Schutz und Unterkunft gefunden, bevor die Verfolgung sie weiter trieb, fort von den Ländern ihrer Geburt.
»Kind, wo bist du die ganzen Jahre über gewesen?« Noch immer vermied er es, ihren Namen offen auszusprechen. Gewiß hütete er ihre Geheimnisse mit größerer Vorsicht, als sie es selbst mitunter in der Vergangenheit getan hatte.
»Ich bin weit gewandert«, sagte sie traurig. »Du weißt, warum ich nicht kommen konnte. - Aber ich habe oft an dich und deinen alten, schäbigen Gasthof gedacht.«
Er lachte. »Du hast dich kaum verändert.« Er stockte, lachte wieder. »Oh, das ist natürlich Unsinn. Du bist erwachsen geworden. Was hast du alles erlebt? Wie ist es dir ergangen?«
Ihr Körper versteifte sich und sie entwand sich seiner Umarmung, als wollte sie auf diese Weise Abstand von allzu zudringlichen Fragen gewinnen. Nach dem kurzen Moment der Offenheit kehrte ihre Anspannung wieder zurück.
»Du hättest ab und zu etwas von dir hören lassen können«, meinte er. »Erst vor zwei Wochen bekam ich deine Botschaft.«
»Laërd! War er hier?« In Merdyn hatte sie einen Helfer angeworben, der ihren Weg ins Königreich auskundschaften und dem alten Wirt Kunde von ihr übermitteln sollte. »Laërd? Den Namen kenne ich nicht; aber es war ein drahtiger Kerl mit glattem Haar und einer seltsamen Aussprache, wahrscheinlich aus dem Süden, würde ich sagen. Er behauptete, du hättest ihn geschickt und kämest auch bald nach. Am nächsten Morgen ist er sofort weitergezogen über den Paß.«
»Das ist gut«, erklärte sie. Zumindest diesen Teil seines Auftrages hatte Laërd zu ihrer Zufriedenheit ausgeführt.
Der Alte zuckte mit den Schultern. Er nahm die Zügel der Stute. »Du hast ein schönes Tier«, sagte er. »Wie heißt es?«
Sie strich dem Tier die Flanke. »Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, daß es einen Namen hat.«
»Das ist nicht gut« schalt er sie milde. »Ich denke, das Tier dient dir gut; es hat einen Namen verdient. Das erhält und festigt seine Treue.«
Eraine lächelte über die Sentimentalität des Alten und stellte bekümmert fest: Er und ich, wir leben in unterschiedlichen Welten. Dennoch rührten sie seine Worte, und sie versprach: »Ich werde es in Erwägung ziehen.«
»Gehe ruhig in die Gaststube! Ich versorge das namenlose Tier und bringe dir danach etwas zu essen.«
Sie nickte ihm zu und kehrte zurück in die stickige Stube.

Edward hatte sich mit Bedacht einen Platz im hinteren Teil des Schankraumes ausgesucht. Hier konnte er in aller Ruhe einen Krug Wein leeren, konnte beobachten, ohne selbst beobachtet zu werden. Er stand nicht sehr gerne im Mittelpunkt des Interesses, legte ihm doch die Aufmerksamkeit anderer gewisse Verhaltensweisen auf, zu denen er nicht immer die Kraft fand.
Edward wußte die Annehmlichkeiten am Hofe seines Vaters sehr wohl zu schätzen; gleichwohl fühlte er sich jedoch sehr oft beengt im verwinkelten Gemäuer von Burg Branjoch ebenso wie in dem Geflecht der Konventionen und Verhaltensregeln. Sein Freiheitsdrang ließ ihn - im Verein mit einer ausgeprägten Vorliebe für guten Wein - die Pflichten des Sendboten und Weinaufkäufers für seinen Vater nur zu gerne übernehmen. So hatte er in den letzten Wochen Treman und Almion besucht und bei verschiedenen Winzern insgesamt sieben Dutzend Weinfässer für die Keller seines Vaters bestellt. Die eigentliche Lieferung würde zu gehöriger Zeit die Händlergilde besorgen.
Um die Rückkehr über die Berge ins Königreich noch um einige Tage hinauszuzögern, war er, wie bereits in den Jahren zuvor, im Zerbrochenen Stern eingekehrt. Er suchte keinen Kontakt mit anderen Reisenden oder gar mit den Einheimischen. Eigentlich wollte er nur still dasitzen, Wein trinken und seine Ruhe genießen.
Und dann betrat diese junge Frau den Gasthof. Sie war schlank, fast ein bißchen mager und besaß keine übermäßig ausgeprägten Rundungen, soweit sich dies bei ihrer Kleidung beurteilen ließ; dennoch zog sie Edwards Blicke auf sich. Die Fremde wirkte ernst und angespannt. Mit dem Wirt schien sie auf gutem Fuße zu stehen. Dies schloß Edward aus den Blicken, welche die beiden einander verstohlen zuwarfen. Ihre Unterhaltung hingegen war von einer aufgesetzten Unpersönlichkeit geprägt, die höchst unnatürlich wirkte. Überhaupt kam ihm die Frau wie ein Fremdkörper vor, seltsam unruhig und sehr aufmerksam. Sie setzte sich abseits von den anderen Gästen hin, und immer wieder glitten ihre Blicke forschend durch die Gaststube. Edward fühlte sich unversehens an ein gejagtes Tier erinnert, stets bereit, die Flucht zu ergreifen oder sich seiner Haut zu wehren; und wehrhaft war diese Frau ohne Zweifel, trug sie doch das fremdartige Schwert offen an ihrer Seite.
Sie sitzt alleine, so wie ich, dachte Edward. Zwei Einzelgänger in einer lärmenden Stube - das schafft Verbundenheit. Er lächelte bei diesem Gedanken, aber er hatte tatsächlich großes Verständnis für den Wunsch der Frau, alleine zu bleiben, was auch immer ihre Beweggründe sein mochten. Die Vernunft sagte ihm, daß ihn die Fremde und ihre geheimnisvollen Geschäfte nichts angingen, gleichwohl übte sie einen unwiderstehlichen Reiz auf ihn aus. Er wollte gerne mehr über sie erfahren, vielleicht ihre Bekanntschaft machen, und dieser Wunsch überraschte ihn über alle Maßen.
Seine verstohlenen Blicke entgingen ihrer Aufmerksamkeit nicht; plötzlich wandte sie den Kopf und schaute ihn mit ihren großen, grünen Augen geradeheraus an.

Eraine legte den Mantel ab. Sie löste ihren Zopf und schüttelte das staubige Haar. Um Entspannung bemüht, lehnte sie sich zurück, und Wärme und ein gewisses Wohlgefühl krochen in ihre klammen Glieder. Sie verspürte in diesem alten, vertrauten Gemäuer einen Anflug von Geborgenheit, Schutz vor Kälte und Gefahren. Zumindest für die Dauer dieser Nacht war die Welt draußen ausgesperrt, würden ihre Feinde nicht zu ihr dringen. In diesem Augenblick der Ruhe überkamen sie die Müdigkeit und Erschöpfung ihrer langen Wanderschaft, und vielleicht wäre sie tatsächlich eingenickt wie ein Kind am wärmenden Herdfeuer der Mutter, hätte sich ganz dem Schutz ihres alten Freundes anvertraut, wenn sie nicht den Blick des einsamen jungen Mannes aufgefangen hätte.
Er blinzelte verwirrt, brachte aber ein Lächeln zustande, und unbeabsichtigt mußte Eraine dieses Lächeln erwidert haben, denn er schöpfte genug Mut, um zu ihr herüber zu kommen.
»Darf ich mich mit einem Krug Wein zu Euch setzen?« fragte er höflich.
Eraine fand sein Betragen etwas aufdringlich. Sie fühlte sich zerschlagen von der Reise, und ihr Sinn stand nicht nach einer Unterhaltung über jene Belanglosigkeiten, die zumeist derartige Gespräche behandelten. Andererseits war dies die einzige Möglichkeit, auf andere Gedanken zu kommen. Sie hatte schon zu lange nur mit sich selbst zu tun. Vielleicht konnte sie von dem jungen Mann auch Neuigkeiten aus dem Königreich erfahren. Sie nickte.
Er stellte seinen Weinkrug und zwei Becher auf den Tisch, setzte sich und bot ihr mit fast entschuldigendem Lächeln einen Becher an. »Trinkt nur! Es ist köstlicher Rotwein aus Treman, 95er, ein ausgezeichneter Jahrgang.«
Eraine nahm den Becher stumm entgegen und stieß mit ihm an. Mit Genuß trank sie den kräftigen, samtigen Wein. Es war schon eine ganze Zeit her, seit man ihr zuletzt einen Wein von vergleichbarer Güte angeboten hatte. Sie überlegte, wo sie gewesen war, als der unbekannte Winzer in Treman die Trauben für diesen Wein las. Sie verzog das Gesicht; dies waren keine schönen Erinnerungen.
Der junge Mann mißdeutete ihre Miene und frug: »Schmeckt es Euch nicht? Es ist der beste Wein des Hauses.«
Sie lachte und musterte über den Rand ihres Becher hinweg ihr Gegenüber. Sie fragte sich, woher er das Geld nahm, einen so teuren Wein zu bezahlen. Er stammte gewiß nicht aus dem Ort, und wie ein wohlhabender Kaufmann sah er mit seinem struppigen dunklen Lockenhaar, dem Ein-Wochen-Bart und seiner nachlässigen Kleidung auch nicht aus. Nicht, daß er einen ungepflegten Eindruck hinterlassen hätte. Vielmehr war er recht gutaussehend, obzwar vielleicht etwas verweichlicht: sein scheues Lächeln entblößte fast makellose Zähne und seine Hände waren, wenngleich gröber und größer gewachsen, doch zarter als ihre eigenen, als habe er noch nie in seinem Leben gearbeitet. Auf dem kleinen Finger seiner rechten Hand steckte ein schmuckloser Ring aus rotem Gold, keinesfalls ein Zeichen von Armut. Seine Augen waren blau und klar, hatten offenbar noch nicht viel gesehen, was ihren Glanz getrübt hätte.
»Nein, nein, der Wein ist sehr gut«, sagte sie endlich.
»Wie heißt Ihr?« fragte er, denn das hielt er wohl für die beste Art, das Gespräch zu beginnen.
»Nennt mich Eraine«, sagte sie nach einem unmerklichen Zögern.
Er musterte nachdenklich ihr Gesicht, welches, eingerahmt von wirren Haarsträhnen, im Kerzenschein glühte: geschwungene, dunkle Augenbrauen, eine lange, schmale Nase, ein nicht zu breiter Mund, dessen Schwung ihrer Miene einen leicht spöttischen Ton verliehen. Ihre Züge strahlten, wiewohl durchaus anziehend, eine kühle Reserviertheit aus. Nur ihre Augen wirkten lebendiger. Grün wie die Augen einer Katze, dachte er, so fremd und so geheimnisvoll.
Mit einem vorsichtigen Lächeln meinte er: »Eraine - das ist ein ungewöhnlicher Name. Eure Ausdrucksweise legt hingegen den Schluß nahe, daß es doch nicht Euer wahrer Name ist.«
Ihre Züge erstarrten zu einem kühlen Lächeln. Seine Spitzfindigkeit und selbstzufriedene Art ärgerten sie mehr, als sie sich eingestehen wollte. Sie erklärte in herablassendem Tonfall: »Was ist denn ein wahrer Name? Ist der Name, den mein Vater mir gab, wahrer als der, den ich selbst wählte? Welch ein Unsinn! - Manchmal glaube ich, daß der Begriff Wahrheit alleine auf Lüge und Selbsttäuschung beruht. Was meint Ihr?«
Er nahm ihre Worte mit erhobener Augenbraue zur Kenntnis und wählte die Worte seiner Erwiderung sorgsam, als wäre er sich ihrer Bedeutung wohl bewußt. »Nun, Ihr haltet Euch jedenfalls für eine Enterbte«, erklärte er. »Ein erstaunlicher Name, und ein vielsagender obendrein.« Er breitete die Arme aus. »Ich heiße jedoch einfach nur Edward. Ein wenig ergiebiger Name, nicht wahr?«
Eraine biß sich auf die Lippen und bereute ihre Unbesonnenheit, zu der sie wohl die Behaglichkeit und Geborgenheit des wohlbekannten Gasthofes verführt hatten. Schon einmal hatte sie sich durch unvorsichtige Bemerkungen in außerordentliche Gefahr gebracht; und auch jetzt strebte das Gespräch höchst beunruhigenden Bahnen zu.
Woher mochte der junge Mann das Nermenta kennen, die alte Sprache, die lediglich noch von einigen greisen Gelehrten beherrscht und verwendet wurde, um verstaubte Schriftrollen und alte Zauberbücher zu entziffern. Eraine war ein Wort dieser Sprache, und es bedeutete tatsächlich Enterbte.
Edward war offenbar kein verzogener Sohn eines reichen Kaufmanns oder Grundbesitzers; er hatte keine geringere Ausbildung erhalten als sie selbst. Für einen Augenblick des Schreckens, argwöhnte sie, den Angehörigen einer Adelsfamilie des Königreiches vor sich zu haben, vielleicht gar einen treuen Gefolgsmann des Königs.
Aber in diesem Gasthof und ohne Gefolge? Das konnte nicht sein. Sicherlich war Edward der Lehrling eines Schreibers oder eines anderen Gelehrten; das schien ganz gut zu ihm zu passen. Mit diesem Gedanken beruhigte sie sich wieder.
Der alte Wirt erschien und brachte Eraine eine Schale mit dampfendem Kohleintopf und einen flachen Laib sauren Brotes. Als er Edward an ihrem Tisch bemerkte, lächelte er nur. Eraine nahm es als gutes Zeichen. Er hätte ihr gewiß zu verstehen gegeben, wenn er Edward für eine Gefahr gehalten hätte.
Eraine aß mit dem Heißhunger des Wanderers, der eine große Wegstrecke zurückgelegt hat, und sie trank Wein dazu, vielleicht ein kleinwenig mehr als sie sich gewöhnlich zugestand. Edward hing derweil seinen Gedanken nach und belästigte sie nicht mit Fragen, was ihr in diesem Augenblick ganz recht war. Sie gab vor, seine aufmerksamen Blicke nicht zu bemerken und lehnte sich schließlich, nachdem sie ihr bäuerliches Mahl beendet hatte, betont lässig zurück.
Edward nahm nach einem gemeinsamen Schluck Wein den Faden ihrer Unterhaltung wieder auf. Mit Bedauern warf er ein: »Ich bemerke eine gewisse Dissonanz in unserem Gespräch?«
»Tut Ihr das?« fragte sie spöttisch.
»Ja. Nach meinem Eindruck ist unsere Unterhaltung erfüllt von einer unterschwelligen Aggressivität.«
»Würdet Ihr es vielleicht vorziehen, wenn wir höfliche Floskeln austauschen würden?«
»Keineswegs.« Er lächelte etwas gequält. Sie glaubte ihm durchaus, daß er sich den Verlauf dieser Unterhaltung anders vorgestellt hatte. Er fuhr fort: »Ich frage mich nur: warum? Wovor fürchtet Ihr Euch so? Ich habe nicht vor, Euch ein Leid anzutun.«
»Das haben schon viele behauptet«, versetzte sie, unversehens wieder mit sehr persönlichen Fragen bedrängt. »Ich habe gelernt, niemandem zu trauen.«
»Ich kann mir vorstellen, daß Euer Leben hart gewesen sein muß.«
»Ach, Ihr habt keine Vorstellung. Ihr wißt nichts darüber!«
»Das würde ich nicht sagen, Eraine.« Er senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern: »Oder sollte ich besser sagen: Alcana.«
Die junge Frau erbleichte; ihre linke Hand tastete zum Schwertgriff an ihrer Hüfte, doch sie blieb sitzen. »Es hat nicht lange gedauert«, sagte sie müde. »Wie konntet Ihr mich so schnell finden? Hat Laërd mich verraten?«
Edward spürte ihre Anspannung und antwortete daher in betont ruhigem Tonfall: »Ich habe Euch nicht gesucht, und auch nicht auf Euch gewartet. Einen Laërd kenne ich nicht.«
»Wie kann das sein?«
»Es ist ein Zufall, daß wir uns hier begegnen«, sagte er, »und ein noch größerer, daß wir uns miteinander unterhalten. Bei Tesmia, die einzige Frau, die ich in diesem abgeschiedenen Gasthof anspreche, seid ausgerechnet Ihr.« Er rollte mit den Augen.
»Dennoch wußtet Ihr, wer ich bin.« Ihr anhaltendes Mißtrauen war ebenso spürbar, wie sein Bemühen, ihr Vertrauen zu gewinnen.
»Zunächst nicht. Doch als Ihr Euch Eraine nanntet, wurden mir einige Details, die ich zuvor eher nebensächlich bemerkt hatte, klar. Habt Ihr denn wirklich angenommen, dieser Name sei im Königreich unbekannt?«
Sie rieb sich den Nasenrücken, vielleicht ein Anzeichen von Nervosität. Edward bemerkte, daß sie ein breites Lederarmband am Handgelenk trug, ohne Verzierungen und dunkel vom Alter. »Ich habe diesen Namen noch nicht oft verwendet. Ja, ich dachte, er wäre in Arn noch unbekannt«, gab sie zu.
»Er ist es nicht. Wenn Ihr wirklich unerkannt bleiben wollt, solltet Ihr Euch vielleicht einen anderen Namen aneignen und, wenn ich das bemerken darf, weniger fremdartige Kleidung tragen, mit der Ihr überall auffallt«, erklärte Edward. Er spreizte die Arme in einer Geste der Offenheit. »Aber noch ist kein Unheil geschehen. - Das nehme ich zumindest an.«
Alcana ging nicht direkt auf seine Worte ein. »Wir haben einige Dinge zu klären«, sagte sie, und eine bedrohliche Ruhe lag in ihrer Stimme. »Wer seid Ihr wirklich, Edward? Und was sind Eure Pläne?«
»Gut«, erwiderte er, um einen lockeren Plauderton bemüht. »Ich will offen zu Euch sein.«
»Das empfehle ich Euch.«
Er lächelte etwas gequält, griff in den Ausschnitt seines Hemdes und zog an einer Halskette einen klobigen Ring hervor. Er überreichte ihn ihr. »Ich bin ein Adeliger des Königreiches, doch kein treuer Gefolgsmann des Königs.«
Alcana betrachtete den schweren Ring eingehend. Es war der Siegelring des Mitglieds einer fürstlichen Familie, und das Siegel zeigte ein Schiff mit einer Kamelienblüte auf dem Segel. Es war schon lange her, daß sie in den Regeln der Heraldik unterwiesen worden war, dennoch fiel es ihr nicht schwer, es einem bestimmten Haus zuzuordnen.
»Branjoch.«
»In der Tat«, stimmte der junge Mann zu. »Ich bin Edward, jüngerer Sohn von Ædron, dem Herzog von Branjoch.«
Alcana lachte freudlos. »Wenn es Euch verwundert, daß Ihr ausgerechnet mich getroffen habt in diesem Gasthof, wie konnte ich dann ahnen, daß der unrasierte Jüngling an meinem Tisch der Sohn eines Herzogs ist. Dieses Zusammentreffen ist höchst merkwürdig. Ich mag nicht an einen Zufall glauben.«
Edward lächelte. »Es war eine Fügung des Schicksals, da bin ich mir sicher. Bestimmung, wenn Ihr so wollt.«
»Ich glaube nicht an Bestimmung«, widersprach sie.
»Das ist schade. Sie verleiht der Welt eine gewisse Romantik.«
»Aufgrund meiner Erfahrungen kann ich Euch versichern: der Welt wohnt wenig Romantisches inne.«
Er senkte den Blick und sprach leise: »Ihr müßt sehr verbittert sein.«
Alcana rutschte unruhig auf ihrem Stuhl und wechselte schnell das Thema: »Die Frage ist doch, was tun wir jetzt? Was sind Eure Ziele, Edward von Branjoch?«
»Oh, ich habe keine Ziele, keine Pläne, wenn Ihr so wollt.« Er lachte und hob seinen Becher. »Abgesehen vielleicht, daß ich zu gehöriger Zeit nach Branjoch zurückkehren möchte«, schränkte er ein, nachdem er getrunken hatte.
»Das zu glauben fällt mir schwer. Ihr müßt aus einem guten Grund hier sein!«
»Ich verstehe Euer Mißtrauen, aber Ihr irrt. Ich habe Euch nicht aufgelauert. Ich war in Almion, um Weine für den Keller meines Vaters aufzukaufen. Diese Aufgabe habe ich erfüllt, und jetzt warte ich hier noch eine Weile ab, bis das Wetter freundlicher geworden ist, um den Paß zu Königreich zu überschreiten. Das ist die Wahrheit.«
»Der Paßweg ist die meiste Zeit des Jahres passierbar, wenn sich die Dinge nicht merklich geändert haben, seit ich zum letzten Mal hier war.« Sie kniff die Augen zusammen. »Warum zögert Ihr dann?«
»Ich genieße die Ruhe dieses alten Gasthofes und warte, bis eine Gruppe von Händlern des Weges kommt, der ich mich anschließen kann. Alleine über den Paß zu reisen, ist nicht nur freudlos sondern auch gefährlich.«
»Mag sein, daß Ihr die Wahrheit sagt. Doch wie kann ich sicher sein, daß Ihr nicht im Dienst meiner Feinde steht?«
»Das Haus der roten Kamelien stand seit je her in Rivalität zum Königshaus, das zumindest solltet Ihr wissen. Ihr habt mein Wort: ich bin Euch wohl gesonnen.«
Edwards Worte klangen durchaus aufrichtig, doch Alcana wandte ein: »Es könnten sich in den letzten Jahren Änderungen ergeben haben, von denen ich keine Kenntnis habe.«
»Nun denn: die Dinge sind, wie sie sind, und Ihr müßt mir halt vertrauen«, stellte Edward gelassen fest. »Wie wolltet Ihr verhindern, daß ich mein Wissen preisgebe, wenn mir der Sinn danach stünde?«
»Da gibt es Möglichkeiten genug...«, sagte sie ohne Begeisterung. Doch sie war müde und wollte nicht kämpfen, nicht jetzt und nicht gegen diesen jungen Mann, den sie trotz allem Argwohn durchaus leiden mochte. Sie seufzte. »Nun gut, ich will Euch vertrauen, vorerst. Laßt uns gemeinsam trinken, und Ihr erzählt mir Neuigkeiten aus dem Königreich!«

Edward erzählte vom Leben im Königreich und von alledem, was sich in den letzten Jahren geändert hatte. Es gab nicht allzu viel Neues aus den sieben Fürstentümern, die unter König Karl dem Prächtigen vereint waren. Richard, der Sohn Karls und Herzog von Redrien, hatte Treburg nicht wieder aufgebaut und hielt in der Salenburg bei Arn Hof.
»Die Ritter des Königsbanners, werden sie immer noch von...«, Alcana zögerte den Namen auszusprechen. »...von Aiara Goldhaar angeführt?«
»Gewiß! Sie ist obendrein die Geliebte des Königs, das ist bekannt.«
Es trat Schweigen ein, weil Alcana ihren eigenen dunklen Gedanken nachhing und Edward nichts mehr zu erzählen wußte. Die Gaststube war leer und ruhig; alle anderen Gäste lagen längst in ihren Betten. Edward leerte seinen Becher.
»Was sind Eure weiteren Pläne?« fragte er. »Wollt Ihr über den Paß ziehen?«
Sie nickte nur. Diese Absicht konnte sie nicht leugnen, und sie ahnte, welche Frage er als nächste stellen würde.
»Ohne mich aufdrängen zu wollen: wäre es in Eurem Sinne, wenn ich mich Euch auf Eurer Reise anschließen würde?«
»Ich weiß nicht so recht«, sagte sie und spitzte den Mund. »Warum wollt Ihr mit mir ziehen?«
»Meine Geschäfte in Rauhen sind erledigt«, erklärte er. »Ich habe hier im Grunde schon zu lange verweilt. Wir beide haben den gleichen Weg, und der Weg über den Paß ist, wie ich bereits erwähnte, in Begleitung weitaus erquicklicher als alleine.« Er lächelte fast ein wenig schüchtern.
»Nun gut!« sagte sie nach einer kurzen Weile. »Ich bin einverstanden.« Sie hoffte, daß seine Begleitung sie etwas von ihren trüben Gedanken ablenken würde. Außerdem konnte er ihr unter Umständen hilfreich sein, wenn Laërd nicht noch auftauchte. Und sollte Edward im Dienste ihrer Feinde stehen, woran sie nicht so recht glauben mochte, dann war es allemal besser, ihn mitzunehmen und im Auge zu behalten. »Doch ich muß Euch warnen: an meiner Seite mögt Ihr in größere Schwierigkeiten geraten, als Ihr bislang alleine kennengelernt habt. Ich ziehe wohl das Unheil an.«
»Dann wollen wir selbzweit allen Gefahren trotzen«, meinte er kühn und bedachte sie mit einem seltsamem Blick, und in Alcana wuchs das rare Gefühl, einen Freund gewonnen zu haben.
Sie lächelte. »So soll es sein.«
Edward gähnte hinter vorgehaltener Hand und schaute auf seinen leeren Becher. »Ich nehme an, Ihr wollt bald wieder aufbrechen?«
»Morgen früh, um genau zu sein.«
Er rieb sich die Augen. »Das habe ich vermutet. Seid mir bitte nicht gram, daß ich keinen neuen Wein mehr bestelle. Aber ich sollte jetzt schlafen gehen, sonst nicke ich morgen womöglich beim Reiten ein und rutsche vom Pferd. Gute Nacht!«
Alcana nickte ihm zu, als er schied. Sie blieb nicht sehr lange allein beim Kerzenlicht, dann kam der Alte und setzte sich zu ihr. »Ich wollte euch eben nicht stören«, erklärte er. »Edward ist ein netter junger Mann, nicht wahr?« Er zwinkerte mit den Augen.
»Denke dir nur nicht zuviel dabei«, erwiderte sie. »Er ist in der Tat noch sehr jung - zu jung.«
»Soso. Immerhin habt ihr euch recht angeregt unterhalten...«
»Ich werde dir gewiß keine Rechenschaft darüber ablegen«, sagte sie in schärferem Tonfall.
Er kannte ihre bisweilen schroffe Art und nahm ihr die Worte nicht übel. »Du hast mir noch nie Rechenschaft über dein Tun abgelegt, und das mußt du auch nicht«, lachte er.
Sie nickte, versöhnlicher gestimmt. »Das ist gut so.«
Er entkorkte eine bauchige Tonflasche und schenkte ihr und sich selbst reichlich ein. »Das ist ein Gersten-Branntwein, der über fünf Jahre in angekohlten Eichenfässern gelagert wurde. Ich finde, er hat mittlerweile eine gewisse Fülle erreicht. Laß uns auf unser Wiedersehen trinken!«
Das bernsteinfarbene Getränk brannte in der Kehle und verströmte einen rauchigen Geschmack, doch es erfüllte Alcanas müden Körper mit Wärme und einem entspannten Wohlgefühl. »Jetzt weiß ich, wovon deine Stimme so rauh und dunkel geworden ist«, meinte sie.
»Gut möglich. - Ich habe hier etwas für dich, mein Kind. Sieh her! Ich habe ihn die ganzen Jahre hindurch aufbewahrt.« Er reichte ihr einen Ring, der ganz ähnlich war zu jenem, den ihr kurz zuvor Edward gezeigt hatte. Doch das Wappen zeigte die Lilien des edelsten Hauses von Arn und die Eibe von Redrien.
Alcanas Augen leuchteten kurz auf. »Du hast den Ring noch? Ich hatte ihn völlig vergessen.«
»Der Situation wohnt zweifellos eine gewisse Ironie inne. Ein alter Gastwirt als Siegelbewahrer des Herzogs von Redrien. - Du hast ihn seinerzeit achtlos zurückgelassen; ich dachte mir allerdings, daß du ihn brauchen könntest.«
»Ich danke dir«, sagte sie und nahm den Siegelring ihres Vaters an sich. »Obwohl ich noch nicht weiß, was ich mit ihm anfangen kann.«
Sie tranken. Alcana sagte: »Ich habe noch eine Bitte...«
»Was kann ich tun?«
»Ich brauche Verpflegung für die Reise über den Paß und angemessene Kleidung, mit der ich nicht auffalle.«
»Willst du bald weiterziehen?«
Sie nickte. »Ich muß schon morgen in der Frühe aufbrechen, mein Freund. Mir wird keine Ruhe gegönnt. Es tut mir leid.«
»Du mußt tun, was du für richtig hältst«, erwiderte er etwas schroff. Er verbarg seine Verärgerung, indem er einen tiefen Schluck aus seinem Becher nahm, und bemühte sich um ein Lächeln. Er kannte sie gut genug, sie nicht um einen längeren Aufenthalt zu bitten. »Ich wünschte, ich wäre noch jünger. Dann könnte ich mit dir gehen und für dich kämpfen, aber ich bin nur ein alter müder Gastwirt.«
»In dieser Angelegenheit sind bereits zu viele Unbeteiligte zu Schaden gekommen«, wehrte sie ab. »Ich würde nicht wollen, daß du mich begleitest.«
»Du hast dich sehr verändert, Kind. Wenig ist von dem verängstigten Mädchen geblieben, daß ich einst am Tor aufgelesen habe.«
»Das hoffe ich.«
»Doch du bist noch ernster geworden und noch verschlossener als früher«, sagte er. »Was hast du erlebt in der Welt?«
»Keine schönen Dinge...«, erwiderte sie. »Doch einiges will ich dir erzählen, alter Freund. Einiges will ich dir erzählen von den Ländern am Bortischen Meer.« So saßen sie noch eine ganze Weile beisammen, und die Stunden verstrichen, so wie die Jahre verflogen waren, von denen sie sprachen.

Die Morgendämmerung lag nicht mehr fern, als der alte Mann Alcana über den Innenhof und die bedenklich knirschende Holztreppe zu ihrer Kammer führte. Es handelte sich um einen stickigen, kalten Raum ohne Kamin, aber mit säuberlich gemachtem Bett. Das einzige Fenster wies zur Straße hin, und in einer Ecke standen ein Waschbecken und ein großer Krug mit kaltem Wasser. Ihr spärliches Gepäck lag daneben.
»Schlafe gut!« wünschte der Alte Alcana und strich ihr über das Haar. Dann ging er, und seine müden Schritte verloren sich in der Nacht des Hofes.
Alcana stieß das Fenster auf und sog in tiefen Zügen die kühle, feuchte Nachtluft ein. Dies belebte ihre Sinne und nahm der Kammer etwas von ihrer bedrückenden Enge. Sie legte ihre Kleider ab und kroch unter die Bettdecke. Das rauhe Laken war angenehm kühl auf der Haut; ihr wachsamer Körper entspannte sich. Binnen weniger Augenblicke war sie eingeschlafen.

(c) Andreas Metz, 2001


Weitere Texte sowie Hintergrundinformationen finden sich auf der Alcana-Homepage.