Die Reiter
kamen in aller Frühe, als das kleine Steinhaus auf der Waldlichtung noch
still und ruhig dalag. Der kühle Tau der Nacht schwand schnell dahin,
und die Nebel, die sich über Nacht in den Niederungen gesammelt hatten,
lösten sich auf; der Morgen kündete bereits von der drückenden Hitze des
Tages. Die Wolken waren zu einer trüben, aschgrauen Dunstglocke verschmolzen,
die schwer über dem Wald hing. Kein Luftzug regte sich. Das Schnaufen
und Stampfen der Pferde blieben die einzigen Geräusche, sah man den Vogelrufen
ab, die in der Tiefe des Waldes den Tag willkommen hießen. Eine spürbare
Spannung erfüllte die Lichtung und strafte die offensichtliche Ruhe Lügen
— die Erwartung von bedeutsamen Ereignissen oder die Ehrfurcht vor
dem natürlichen Zauber der Lichtung.
Eine lange Weile verharrten die Reiter vollkommen regungslos, als zögerten
sie, den Frieden des heiligen Ortes zu stören. Sie waren ohne Ausnahme
in diesem Landstrich geboren und in dem Bewußtsein an die Pflicht erzogen
worden, den Geistern des Waldes und den heiligen Orten ihrer Vorfahren
Respekt zu zollen.
Die Männer und Frauen hatten ihre lichtgrünen Kapuzenmäntel zurückgeschlagen,
und darunter trugen sie Lederharnische oder Panzer, welche aus vielen
Leinenschichten gefertigt waren. Ihre Helme und Wappenschilde waren jedoch
— wie um ihre Friedfertigkeit zu bezeugen — an den Sätteln
befestigt, und an ihren Lanzen hingen offen und voller Stolz die Banner
ihrer Geschlechter und Familien. Sie befanden sich nicht auf einem Kriegszug,
sondern sie waren die Eskorte eines Fürsten.
Der junge Herzog hatte noch nicht lange sein zwanzigstes Lebensjahr überschritten,
gleichwohl wirkte sein Gesicht älter, fast versteinert vor Sorgen und
Gram. Die Stirn war unter dem Ansatz der braunen Locken in tiefe Falten
gelegt, und die dichten Augenbrauen hatten sich sorgenvoll zusammengezogen.
Die glattrasierten Wangen waren eingefallen, die Lippen fest aufeinander
gepreßt, doch seine Haltung wirkte aufrecht und unbeugsam. In der Armbeuge
hielt er ein helles Stoffbündel, halb verdeckt von seinem blauen, mit
goldener Borte versehenen Mantel. Als er den Blick darauf senkte, entspannten
sich seine ernsten Züge ein wenig, wurden weicher, und die Erinnerung
eines Lächelns trat in die dunklen, großen Augen; doch sein Mund zeigte
nach wie vor keine Regung.
Der Herzog seufzte schwer, als ringe er sich eine Entscheidung ab, die
er doch im Grunde schon getroffen hatte; er straffte sich — und
sein Kettenhemd klirrte leise, als er absaß. Seine Zügel übergab er dem
Reiterhauptmann und schritt alleine zur Einsiedelei, die vom Alter gebeugt
auf der Lichtung kauerte. Die rauchfarbenen Felsblöcke des ungefügen Mauerwerks
waren gezeichnet von der wechselvollen Witterung vieler Jahre und übersät
mit Flechten; das Reisigdach trug schwer an Matten von Moos und Fetthenne.
Fenster gab es keine, nur schmale Ritzen und eine kleine Holztür, in die
zahlreiche Zeichen von unzweifelig magischer Symbolik eingeritzt waren.
Noch bevor der Herzog anklopfen konnte, schwang die Tür lautlos auf. Erstaunt
verharrte er vor der Schwelle.
»So tretet nur ein!« klang eine rauhe, des Sprechens ungeübte Stimme auf.
Erst dieser Aufforderung leistete der Herzog Folge und trat in die dunkle,
kühle Enge der Klause. Unverzüglich schloß sich die Pforte hinter ihm.
Die schmalen Fensterschlitze schufen ein schummriges Dämmerlicht, das
mehr verhüllte als offenbarte. Der festgetretene Erdboden war ebenso kahl
und schmucklos wie die Wände. In der Mitte des Raumes befand sich eine
Kochstelle mit einem ausgebeulten, kupfernen Kessel und allerlei hilfreichem
Hausrat, wie Zunder, Bechern, Schalen und Löffeln, doch ansonsten mutete
die Einrichtung ausgesprochen ärmlich an. Es fehlten all jene Gegenstände,
die man für gewöhnlich in der Stube einer Zauberin erwartet: Retorten,
Totenschädel, Reliquien, Zauberbücher und Schriftrollen, Salben, Tinkturen,
Essenzen und was der Dinge noch mehr sein mögen. Nur ein fleckiges Kupferbecken
stand da und ein großer Käfig mit pechschwarzen Mäusen daneben, und auf
der anderen Seite verharrte das eigentümliche Standbild eines Hundes.
In der Luft hing der betäubende Geruch von Räucherwerk. Während die Einsiedlerin
den Herzog mit höflichen Worten begrüßte, bemerkte er die Anwesenheit
eines weiteren Gastes. Ein Mann unbestimmbaren Alters hockte zusammengekauert
und in einen dicken Mantel gehüllt bei der kalten Kochstelle. Er zeigte
mit keiner Regung, daß er den Neuankömmling bemerkt hatte. Der Herzog
beschloß aus diesem Grunde, ihn ebenfalls zu ignorieren.
»Willkommen in meiner bescheidenen Heimstatt. Ihr seid der Herr Fürst,
nicht wahr?« sagte die kleine, alte Frau, welche im Wald als die Klausnerin
bekannt war. Sie trug nicht mehr als ein rauhes Leinengewand, das
haltlos um ihren mageren Körper schlackerte. Verfilzte graue Strähnen
umrahmten ihr von asketischen Übungen und Enthaltsamkeit gezeichnetes
Gesicht. Sie lächelte dennoch und hielt den Kopf etwas schräg; dabei rollte
sie unablässig mit den Augen, als könnten diese in keiner Stellung lange
verweilen.
Der Herzog argwöhnte ob diesen Betragens, daß sie wohl nicht mehr ganz
bei Sinnen sei; — doch hastig verdrängte er den beinahe ketzerischen
Gedanken. Er mußte die Klausnerin nehmen, wie sie war, nahm sie doch nicht
nur den Rang einer Zauberin ein, sondern auch den einer heiligen Frau,
einer Priesterin des Waldgottes Nár, dem das einfache Volk mehr zuneigte
als den Sonnengott. Er sprach daher höflich: »Klausnerin, ich danke Euch,
daß Ihr mich empfangt. — Eure Zeit ist gewiß knapp bemessen«, fügte
er mit einem Kopfnicken in Richtung des selbstversunkenen Mannes hinzu.
»Ach, er ist ein Gast, der meinen Rat sucht«, sagte sie und wackelte mit
Kopf. »Aber Ihr habt recht. Schwierige Aufgaben harren meiner, seht nur!«
Sie lüftete ein großes Tuch, und darunter kam der weiße Leib einer nackten
Frau zum Vorschein. Einen kurzen Augenblick glaubte der Herzog, eine Tote
vor sich zu haben, doch dann bemerkte er, daß sie nur aus Stein war. Mit
der zittrigen Hand wies die Klausnerin auf die Statue. »Seht nur, jedes
Fältchen, jede Rundung, ja jede Linie der Haut ist überliefert.«
Der Herzog betrachtete die Statue mit höflichem Interesse. Das Steinbild
stellte eine auf dem Rücken liegende Frau dar, welche die rechte Hand
fest an ihre Seite preßte. Ihre gewiß hübschen Gesichtszüge waren im Schmerz
verzerrt, als habe sie soeben eine Verletzung erlitten. Dieser Ausdruck
war derart lebensecht wiedergegeben, daß er selbst den Herzog zu rühren
vermochte. Aus einer unerklärlichen Empfindung heraus, fühlte er sich
zu der Fremden hingezogen, und ihn überkam große Trauer ob ihres Schicksals.
Mit den Fingerspitzen berührte er behutsam die auf das Feinste herausgearbeiteten
Strähnen des kurzen Haupthaares. Sie waren kalter, lebloser Stein. Er
wandte sich ab und sagte gepreßt: »Tatsächlich! Eine ausdrucksstarke Arbeit!
Welcher Bildhauer...?«
»Kein Bildhauer, Herr«, lachte die Klausnerin schrill, »kein Bildhauer,
ein Magier! Dies ist kein lebloser Stein.«
»Wie das?«
»Mancher Gelehrte der Vorzeit kannte den Zauber, um Leben in Stein zu
verwandeln, und einige wenige vermochten gar, den umgekehrten Weg zu vollziehen
und diese Steinbilder wieder ins Leben zurückzurufen. Große Macht ist
für beides notwendig, und seit langem ist der Zauber vergessen«, flüsterte
die Einsiedlerin und strich liebevoll über den steinernen Leib. »Dies
hier ist ein Geschöpf aus jenen sagenumwobenen Urzeiten. Eine Fremde für
uns, welche die Äonen schadlos überdauert hat. Ihre Gedanken, ihre Ängste
und Sehnsüchte, ihre Leidenschaft, ihre Erinnerungen, ihre Macht, all
dies ist eingefangen in diesen Fels. Sie sind nicht verloren, wie die
Vergangenheit selbst. Sie könnte wiedererweckt werden, wenn ich nur das
Geheimnis zu ergründen vermöchte.«
Die Klausnerin seufzte, rollte mit den Augen und zeigte dem Herzog das
Standbild, das er schon zuvor bemerkt hatte. Es handelte sich tatsächlich
um einen Hund, doch wenn auch der überwiegende Teil des Leibes zu weißem
Marmor geworden war, so bestanden doch Hals und Rücken des Tieres aus
Fell und Fleisch, das bereits in Verwesung übergegangen war. »Ach, nicht
einmal den leichteren Weg ver-mag ich zu gehen. Alles dahin, alles mißlungen...
Wann wird der Mond die Kraft mir geben, wann wird die Einsicht über mich
kommen?«
Die Zauberin sprach mit Feuer von ihrer Arbeit, und Speichel rann unkontrolliert
aus ihren Mundwinkeln. Als sie endete, herrschte für einige Augenblicke
Stille, in der nur das aufgeregte Klappern ihrer Zähne zu vernehmen war.
Ihr magerer Leib bebte und schüttelte sich, daß der Herzog ernstlich um
ihr Wohlergehen fürchtete, doch sie beruhigte sich sehr schnell und sagte:
»Aber was erzähle ich? Ihr seid gewiß nicht gekommen, hoher Fürst, um
Euch mit mir über meine Forschungen zu unterhalten.«
»Das stimmt wohl«, gab er zu. »Edle Klausnerin, ich erbitte Euren weisen
Spruch, für diese hier…« Er zeigte sein Bündel vor, und darin lag
ein Kind, erst wenige Wochen alt. Soeben war es aufgewacht und lugte nun
mit großen Augen halb ängstlich, halb neugierig hervor.
»Meine Tochter«, sagte der Herzog.
»Aha«, entfuhr es der Klausnerin, »Ihr wollt, daß ich ihr Schicksal spreche?«
»So ist es.« Sie raufte sich das Haar und frug erregt: »Ihr wißt um die
Gefahren? Nicht nur Gutes werde ich sehen, und manches sollte verborgen
bleiben, bis es geschieht…«
»Ich fürchte es nicht. Das Gute und Erfreuliche wird mich aufheitern;
das Unheil aber vermag mein Unglück nicht mehr zu vergrößern. Wie Ihr
vielleicht erfahren habt, starb meine Gemahlin bei der Geburt. Die Kleine
ist das einzige, was mir geblieben ist.«
»Um so mehr solltet Ihr davor zurückschrecken, das Schicksal zu versuchen.«
Sie wedelte warnend mit der Hand vor seinem Gesicht hin und her, und als
reiche dies noch nicht aus, um ihren Worten Gewicht zu verleihen, wurde
auch ihr Körper von der Bewegung erfaßt und schüttelte sich mit der gleichen
Heftigkeit.
»Ich will es so!« Die Stimme des Fürsten nahm einen harten Klang an. Er
duldete in dieser Sache keinen Widerspruch.
Die Klausnerin wurde seltsam ruhig, und ihr Körper versteifte sich wohl
als Ausdruck ihres Widerwillens. Wortlos nahm sie das Kupferbecken und
füllte es mit einer Essenz, die sie aus gewissen Waldkräutern braute und
in einer runenverzierten Kalebasse aufbewahrte. »Gebt mir die Kleine!
— Na komm, mein Kind, das ist ja kein guter Anfang, das Leben mit
dem Tod der Mutter zu beginnen. Nein, das ist fürwahr kein guter Anfang.«
Des Kindes große Augen starrten die Zauberin verstört an, verunsichert
ob der Freundlichkeit ihrer Stimme und des grimmigen Ernstes ihres Gesichts.
»Wie heißt sie?«
»Sie hat noch keinen Namen erhalten. Wie Ihr wißt, bekommt sie ihn der
alten Sitte nach erst bei der Zeremonie des ersten Neumondes nach der
Geburt, in zwei Tagen also. Ich will sie aber Alcana, die stolze Herrin,
nennen.«
Der Mann am Herdplatz gab ein unterdrücktes Stöhnen von sich. Der Herzog
fuhr herum, nur um zu sehen, daß der Mann sich seine Kapuze über den Kopf
gezogen hatte und offenbar seinen Schlummer fortsetzte.
Mit leiserer Stimme fuhr er fort: »Sie ist schließlich meine Erbin und
wird nach mir herrschen.«
»Das ist ein ungewöhnlicher Name, und er ist mit einer allzu großen Verpflichtung
behaftet, Fürst.« Aufgebracht schüttelte die Einsiedlerin den Kopf und
sah den Herzog halb erwartungsvoll, halb herausfordernd an. Ȇberdenket
dies wohl!«
Als er schwieg und auch keine Anstalten machte, von seinem Vorhaben abzulassen,
kehrte sie schulterzuckend zu ihrer Tätigkeit zurück.
»Wann wurde sie geboren?« fragte sie, während sie ihr Messer wetzte.
»Bei Vollmond.«
»O wehe!« rief sie aus. »Geboren unter dem Blutmond und die Mutter gestorben
bei der Geburt: nicht viel Gutes mag daraus erwachsen.«
»Ihr gebt mir wenig Hoffnung«, sagte der Herzog grimmig.
»Ihr wolltet es hören. — Aber wir werden sehen.« Alcana schaute
erst verdutzt, als die Klausnerin ihr in den Finger stach und einen hellen
Blutstropfen hervorlockte, sodann fing sie lauthals zu brüllen an. Mit
ungewöhnlich ruhigem, konzentriertem Blick verfolgte die Zauberin den
Weg des Blutstropfens in der Essenz, bis dieser sich vollständig auflöste.
»Wollt Ihr den Spruch hören?« fragte sie finster.
»Sprecht!«
»So sei es, doch nicht zum Guten wird es uns gereichen, daß ich das Schicksal
versuchte. Dies ist mein Spruch…«
(c)
Andreas
Metz, 2001
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