Die Alcana-Trilogie

Kapitel 1 - Die Frau aus Stein

(c) Andreas Metz, 2001



Die Reiter kamen in aller Frühe, als das kleine Steinhaus auf der Waldlichtung noch still und ruhig dalag. Der kühle Tau der Nacht schwand schnell dahin, und die Nebel, die sich über Nacht in den Niederungen gesammelt hatten, lösten sich auf; der Morgen kündete bereits von der drückenden Hitze des Tages. Die Wolken waren zu einer trüben, aschgrauen Dunstglocke verschmolzen, die schwer über dem Wald hing. Kein Luftzug regte sich. Das Schnaufen und Stampfen der Pferde blieben die einzigen Geräusche, sah man den Vogelrufen ab, die in der Tiefe des Waldes den Tag willkommen hießen. Eine spürbare Spannung erfüllte die Lichtung und strafte die offensichtliche Ruhe Lügen — die Erwartung von bedeutsamen Ereignissen oder die Ehrfurcht vor dem natürlichen Zauber der Lichtung.
Eine lange Weile verharrten die Reiter vollkommen regungslos, als zögerten sie, den Frieden des heiligen Ortes zu stören. Sie waren ohne Ausnahme in diesem Landstrich geboren und in dem Bewußtsein an die Pflicht erzogen worden, den Geistern des Waldes und den heiligen Orten ihrer Vorfahren Respekt zu zollen.
Die Männer und Frauen hatten ihre lichtgrünen Kapuzenmäntel zurückgeschlagen, und darunter trugen sie Lederharnische oder Panzer, welche aus vielen Leinenschichten gefertigt waren. Ihre Helme und Wappenschilde waren jedoch — wie um ihre Friedfertigkeit zu bezeugen — an den Sätteln befestigt, und an ihren Lanzen hingen offen und voller Stolz die Banner ihrer Geschlechter und Familien. Sie befanden sich nicht auf einem Kriegszug, sondern sie waren die Eskorte eines Fürsten.
Der junge Herzog hatte noch nicht lange sein zwanzigstes Lebensjahr überschritten, gleichwohl wirkte sein Gesicht älter, fast versteinert vor Sorgen und Gram. Die Stirn war unter dem Ansatz der braunen Locken in tiefe Falten gelegt, und die dichten Augenbrauen hatten sich sorgenvoll zusammengezogen. Die glattrasierten Wangen waren eingefallen, die Lippen fest aufeinander gepreßt, doch seine Haltung wirkte aufrecht und unbeugsam. In der Armbeuge hielt er ein helles Stoffbündel, halb verdeckt von seinem blauen, mit goldener Borte versehenen Mantel. Als er den Blick darauf senkte, entspannten sich seine ernsten Züge ein wenig, wurden weicher, und die Erinnerung eines Lächelns trat in die dunklen, großen Augen; doch sein Mund zeigte nach wie vor keine Regung.
Der Herzog seufzte schwer, als ringe er sich eine Entscheidung ab, die er doch im Grunde schon getroffen hatte; er straffte sich — und sein Kettenhemd klirrte leise, als er absaß. Seine Zügel übergab er dem Reiterhauptmann und schritt alleine zur Einsiedelei, die vom Alter gebeugt auf der Lichtung kauerte. Die rauchfarbenen Felsblöcke des ungefügen Mauerwerks waren gezeichnet von der wechselvollen Witterung vieler Jahre und übersät mit Flechten; das Reisigdach trug schwer an Matten von Moos und Fetthenne. Fenster gab es keine, nur schmale Ritzen und eine kleine Holztür, in die zahlreiche Zeichen von unzweifelig magischer Symbolik eingeritzt waren. Noch bevor der Herzog anklopfen konnte, schwang die Tür lautlos auf. Erstaunt verharrte er vor der Schwelle.
»So tretet nur ein!« klang eine rauhe, des Sprechens ungeübte Stimme auf.
Erst dieser Aufforderung leistete der Herzog Folge und trat in die dunkle, kühle Enge der Klause. Unverzüglich schloß sich die Pforte hinter ihm. Die schmalen Fensterschlitze schufen ein schummriges Dämmerlicht, das mehr verhüllte als offenbarte. Der festgetretene Erdboden war ebenso kahl und schmucklos wie die Wände. In der Mitte des Raumes befand sich eine Kochstelle mit einem ausgebeulten, kupfernen Kessel und allerlei hilfreichem Hausrat, wie Zunder, Bechern, Schalen und Löffeln, doch ansonsten mutete die Einrichtung ausgesprochen ärmlich an. Es fehlten all jene Gegenstände, die man für gewöhnlich in der Stube einer Zauberin erwartet: Retorten, Totenschädel, Reliquien, Zauberbücher und Schriftrollen, Salben, Tinkturen, Essenzen und was der Dinge noch mehr sein mögen. Nur ein fleckiges Kupferbecken stand da und ein großer Käfig mit pechschwarzen Mäusen daneben, und auf der anderen Seite verharrte das eigentümliche Standbild eines Hundes.
In der Luft hing der betäubende Geruch von Räucherwerk. Während die Einsiedlerin den Herzog mit höflichen Worten begrüßte, bemerkte er die Anwesenheit eines weiteren Gastes. Ein Mann unbestimmbaren Alters hockte zusammengekauert und in einen dicken Mantel gehüllt bei der kalten Kochstelle. Er zeigte mit keiner Regung, daß er den Neuankömmling bemerkt hatte. Der Herzog beschloß aus diesem Grunde, ihn ebenfalls zu ignorieren.
»Willkommen in meiner bescheidenen Heimstatt. Ihr seid der Herr Fürst, nicht wahr?« sagte die kleine, alte Frau, welche im Wald als die Klausnerin bekannt war. Sie trug nicht mehr als ein rauhes Leinengewand, das haltlos um ihren mageren Körper schlackerte. Verfilzte graue Strähnen umrahmten ihr von asketischen Übungen und Enthaltsamkeit gezeichnetes Gesicht. Sie lächelte dennoch und hielt den Kopf etwas schräg; dabei rollte sie unablässig mit den Augen, als könnten diese in keiner Stellung lange verweilen.
Der Herzog argwöhnte ob diesen Betragens, daß sie wohl nicht mehr ganz bei Sinnen sei; — doch hastig verdrängte er den beinahe ketzerischen Gedanken. Er mußte die Klausnerin nehmen, wie sie war, nahm sie doch nicht nur den Rang einer Zauberin ein, sondern auch den einer heiligen Frau, einer Priesterin des Waldgottes Nár, dem das einfache Volk mehr zuneigte als den Sonnengott. Er sprach daher höflich: »Klausnerin, ich danke Euch, daß Ihr mich empfangt. — Eure Zeit ist gewiß knapp bemessen«, fügte er mit einem Kopfnicken in Richtung des selbstversunkenen Mannes hinzu.
»Ach, er ist ein Gast, der meinen Rat sucht«, sagte sie und wackelte mit Kopf. »Aber Ihr habt recht. Schwierige Aufgaben harren meiner, seht nur!«
Sie lüftete ein großes Tuch, und darunter kam der weiße Leib einer nackten Frau zum Vorschein. Einen kurzen Augenblick glaubte der Herzog, eine Tote vor sich zu haben, doch dann bemerkte er, daß sie nur aus Stein war. Mit der zittrigen Hand wies die Klausnerin auf die Statue. »Seht nur, jedes Fältchen, jede Rundung, ja jede Linie der Haut ist überliefert.«
Der Herzog betrachtete die Statue mit höflichem Interesse. Das Steinbild stellte eine auf dem Rücken liegende Frau dar, welche die rechte Hand fest an ihre Seite preßte. Ihre gewiß hübschen Gesichtszüge waren im Schmerz verzerrt, als habe sie soeben eine Verletzung erlitten. Dieser Ausdruck war derart lebensecht wiedergegeben, daß er selbst den Herzog zu rühren vermochte. Aus einer unerklärlichen Empfindung heraus, fühlte er sich zu der Fremden hingezogen, und ihn überkam große Trauer ob ihres Schicksals. Mit den Fingerspitzen berührte er behutsam die auf das Feinste herausgearbeiteten Strähnen des kurzen Haupthaares. Sie waren kalter, lebloser Stein. Er wandte sich ab und sagte gepreßt: »Tatsächlich! Eine ausdrucksstarke Arbeit! Welcher Bildhauer...?«
»Kein Bildhauer, Herr«, lachte die Klausnerin schrill, »kein Bildhauer, ein Magier! Dies ist kein lebloser Stein.«
»Wie das?«
»Mancher Gelehrte der Vorzeit kannte den Zauber, um Leben in Stein zu verwandeln, und einige wenige vermochten gar, den umgekehrten Weg zu vollziehen und diese Steinbilder wieder ins Leben zurückzurufen. Große Macht ist für beides notwendig, und seit langem ist der Zauber vergessen«, flüsterte die Einsiedlerin und strich liebevoll über den steinernen Leib. »Dies hier ist ein Geschöpf aus jenen sagenumwobenen Urzeiten. Eine Fremde für uns, welche die Äonen schadlos überdauert hat. Ihre Gedanken, ihre Ängste und Sehnsüchte, ihre Leidenschaft, ihre Erinnerungen, ihre Macht, all dies ist eingefangen in diesen Fels. Sie sind nicht verloren, wie die Vergangenheit selbst. Sie könnte wiedererweckt werden, wenn ich nur das Geheimnis zu ergründen vermöchte.«
Die Klausnerin seufzte, rollte mit den Augen und zeigte dem Herzog das Standbild, das er schon zuvor bemerkt hatte. Es handelte sich tatsächlich um einen Hund, doch wenn auch der überwiegende Teil des Leibes zu weißem Marmor geworden war, so bestanden doch Hals und Rücken des Tieres aus Fell und Fleisch, das bereits in Verwesung übergegangen war. »Ach, nicht einmal den leichteren Weg ver-mag ich zu gehen. Alles dahin, alles mißlungen... Wann wird der Mond die Kraft mir geben, wann wird die Einsicht über mich kommen?«
Die Zauberin sprach mit Feuer von ihrer Arbeit, und Speichel rann unkontrolliert aus ihren Mundwinkeln. Als sie endete, herrschte für einige Augenblicke Stille, in der nur das aufgeregte Klappern ihrer Zähne zu vernehmen war. Ihr magerer Leib bebte und schüttelte sich, daß der Herzog ernstlich um ihr Wohlergehen fürchtete, doch sie beruhigte sich sehr schnell und sagte: »Aber was erzähle ich? Ihr seid gewiß nicht gekommen, hoher Fürst, um Euch mit mir über meine Forschungen zu unterhalten.«
»Das stimmt wohl«, gab er zu. »Edle Klausnerin, ich erbitte Euren weisen Spruch, für diese hier…« Er zeigte sein Bündel vor, und darin lag ein Kind, erst wenige Wochen alt. Soeben war es aufgewacht und lugte nun mit großen Augen halb ängstlich, halb neugierig hervor.
»Meine Tochter«, sagte der Herzog.
»Aha«, entfuhr es der Klausnerin, »Ihr wollt, daß ich ihr Schicksal spreche?«
»So ist es.« Sie raufte sich das Haar und frug erregt: »Ihr wißt um die Gefahren? Nicht nur Gutes werde ich sehen, und manches sollte verborgen bleiben, bis es geschieht…«
»Ich fürchte es nicht. Das Gute und Erfreuliche wird mich aufheitern; das Unheil aber vermag mein Unglück nicht mehr zu vergrößern. Wie Ihr vielleicht erfahren habt, starb meine Gemahlin bei der Geburt. Die Kleine ist das einzige, was mir geblieben ist.«
»Um so mehr solltet Ihr davor zurückschrecken, das Schicksal zu versuchen.« Sie wedelte warnend mit der Hand vor seinem Gesicht hin und her, und als reiche dies noch nicht aus, um ihren Worten Gewicht zu verleihen, wurde auch ihr Körper von der Bewegung erfaßt und schüttelte sich mit der gleichen Heftigkeit.
»Ich will es so!« Die Stimme des Fürsten nahm einen harten Klang an. Er duldete in dieser Sache keinen Widerspruch.
Die Klausnerin wurde seltsam ruhig, und ihr Körper versteifte sich wohl als Ausdruck ihres Widerwillens. Wortlos nahm sie das Kupferbecken und füllte es mit einer Essenz, die sie aus gewissen Waldkräutern braute und in einer runenverzierten Kalebasse aufbewahrte. »Gebt mir die Kleine! — Na komm, mein Kind, das ist ja kein guter Anfang, das Leben mit dem Tod der Mutter zu beginnen. Nein, das ist fürwahr kein guter Anfang.« Des Kindes große Augen starrten die Zauberin verstört an, verunsichert ob der Freundlichkeit ihrer Stimme und des grimmigen Ernstes ihres Gesichts. »Wie heißt sie?«
»Sie hat noch keinen Namen erhalten. Wie Ihr wißt, bekommt sie ihn der alten Sitte nach erst bei der Zeremonie des ersten Neumondes nach der Geburt, in zwei Tagen also. Ich will sie aber Alcana, die stolze Herrin, nennen.«
Der Mann am Herdplatz gab ein unterdrücktes Stöhnen von sich. Der Herzog fuhr herum, nur um zu sehen, daß der Mann sich seine Kapuze über den Kopf gezogen hatte und offenbar seinen Schlummer fortsetzte.
Mit leiserer Stimme fuhr er fort: »Sie ist schließlich meine Erbin und wird nach mir herrschen.«
»Das ist ein ungewöhnlicher Name, und er ist mit einer allzu großen Verpflichtung behaftet, Fürst.« Aufgebracht schüttelte die Einsiedlerin den Kopf und sah den Herzog halb erwartungsvoll, halb herausfordernd an. »Überdenket dies wohl!«
Als er schwieg und auch keine Anstalten machte, von seinem Vorhaben abzulassen, kehrte sie schulterzuckend zu ihrer Tätigkeit zurück.
»Wann wurde sie geboren?« fragte sie, während sie ihr Messer wetzte.
»Bei Vollmond.«
»O wehe!« rief sie aus. »Geboren unter dem Blutmond und die Mutter gestorben bei der Geburt: nicht viel Gutes mag daraus erwachsen.«
»Ihr gebt mir wenig Hoffnung«, sagte der Herzog grimmig.
»Ihr wolltet es hören. — Aber wir werden sehen.« Alcana schaute erst verdutzt, als die Klausnerin ihr in den Finger stach und einen hellen Blutstropfen hervorlockte, sodann fing sie lauthals zu brüllen an. Mit ungewöhnlich ruhigem, konzentriertem Blick verfolgte die Zauberin den Weg des Blutstropfens in der Essenz, bis dieser sich vollständig auflöste.
»Wollt Ihr den Spruch hören?« fragte sie finster.
»Sprecht!«
»So sei es, doch nicht zum Guten wird es uns gereichen, daß ich das Schicksal versuchte. Dies ist mein Spruch…«

(c) Andreas Metz, 2001


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