(c) Maeve, 2001



Die wahre Macht, die uns regiert, ist die schändliche, unendliche verzehrende, zerstörende, unstillbare Gier!

                             Graf Krolok aus „Tanz der Vampire“

Iliana durchstreifte den Wald. Ihre einzige Gesellschaft waren die Bäume, die Vögel und der Wind, der durch das Unterholz strich. Sie raffte ihren Wickelrock und sprang behende über eine Wurzel.

Die junge Frau lachte. Sie war so glücklich! Heute morgen hatte ihr Vater zugestimmt, daß sie Radu heiraten durfte. Es war eine Fügung des Schicksals gewesen, daß es den jungen Krieger in ihr kleines Dorf hier in den Karpaten verschlagen hatte.

Iliana griff an ihren Hals um den Radu den schweren Goldreif gelegt hatte, nach dem Segen ihres Vaters. Das Schmuckstück lag kühl und eng auf ihrer Haut, doch die junge Frau fühlte sich damit wie eine Königin.

Plötzlich hielt sie inne. Wie spät war es?

Stirnrunzelnd starrte Iliana zwischen den Blättern hinauf in den Himmel. Ein eisiger Schrecken durchzuckte sie, als sie erkannte, wie tief die Sonne bereits stand.

Die junge Frau hob ihre Röcke und rannte durch den Wald.

Es war ein ungeschriebenes Gebot bei Sonnenuntergang in der Sicherheit des Dorfes zu sein. Die Alten erzählten abends am Lagerfeuer schaurige Geschichten, über das was außerhalb des Dorfes in der Finsternis lauerte.

Die letzten Fetzen der Sonne verschwanden und Iliana keuchte vor Anstrengung. Sie mußte unbedingt zurück!

Obwohl sie nichts hörte oder sah, fühlte sie, daß sie auf einmal verfolgt wurde. Die junge Frau schluchzte. Warum hatte sie sich soweit vom Dorf entfernt!

Plötzlich stürzte ein schwerer Körper auf Iliana.

Um sie herum wurde es schwarz, doch ehe sie vollends das Bewußtsein verlor, glaubte sie eine sanfte Stimme zu hören.

Als Iliana wieder erwachte, war es Mitternacht.

Ihre Kleider waren feucht und dreckverschmiert. Sie rappelte sich auf und setzte ihren Weg in ihr Dorf fort. Was war nur geschehen? Sie mußte gestolpert sein und ohnmächtig geworden sein. Iliana griff an ihren Hals und fühlte Feuchtigkeit. Ein Blick auf ihre Finger zeigte, daß es Blut war. Sie mußte sich verletzt haben.

Schon öffnete sich der Wald vor ihr und sie erkannte das heimatliche Dorf. Sonst ein friedliches, beschauliches Fleckchen in den Karparten, wirkte es heute irgendwie verändert. Düsterer, trauriger, gefährlich.

Iliana schüttelte ihren Kopf und verwarf diesen Gedanken wieder. Es war ihre Heimat. Ein Ort, an den sie gehörte. Bewohnt von einfachen, aber guten Menschen. Woher hatte sie nur diese Eingebung, sich von hier fernzuhalten? Nur, weil sie entgegen der Regeln nach Sonnenuntergang draußen gewesen war?

Ein Lagerfeuer flackerte auf dem Versammlungsplatz und sie erkannte Radu und ihren Vater.

Iliana eilte zu ihnen, doch noch ehe sie die beiden und die anderen Dorfbewohner erreicht hatte, schrie eine Frau erschrocken auf.

Ihr Vater und Radu sprangen auf. Schrecken und Abscheu machten sich auf ihren Gesichtern breit, so daß die junge Frau ängstlich in ihren Bewegungen innehielt.

War es so furchtbar, daß sie nicht rechtzeitig im Dorf gewesen war?

„Verschwinde von hier, Dämonin!“ zischte ihr Verlobter, nachdem der erste Schock überwunden war.

Iliana wich entsetzt zurück. Warum redete er so mit ihr? Das war nicht ihr Radu, der Radu, der Komplimente über ihr seidiges Haar und ihre grünen Augen machte. Dieser Mann vor ihr zeigte ihr mit seiner ganzen Körperhaltung seine Ablehnung, seine Augen waren kalt wie Marmor, seine Lippen zwei zusammengepreßte Linien. Seine Nase vor Verachtung gekraust.

„Radu, erkennst du mich nicht? Ich bin es, Iliana!“ sagte die junge Frau flehend.

„Du bist nicht Iliana, sie ist vor zwei Nächten gestorben!“ erklärte der junge Mann haßerfüllt.

„Aber nein, ich bin doch hier! Ich bin gestürzt und...“

„Geh fort von hier, du bist nicht meine Verlobte! Du bist ein Wesen der Nacht in ihrer Gestalt!“

Iliana stiegen Tränen in die Augen. War das ein grausamer Scherz? Hatte Radu den Verstand verloren?

„Vater,“ flüsterte die junge Frau zitternd und streckte ihre Arme nach ihm aus, doch der alte Mann wandte sein Gesicht ab und wich zurück.

Der Dorfvorsteher näherte sich mit einem Pflock.

„Noch ist es nicht zu spät! Wir können ihre Seele retten, wenn wir ihr den Pflock durch ihr Herz stoßen!“

Iliana wich zurück, als sie die entschlossene Miene des Mannes sah.

Gleichzeitig erkannte die junge Frau, daß die anderen Männer des Dorfes einen Kreis um sie gebildet hatten.

Ohne zu wissen was sie tat, stieß sie ein Knurren aus.

Die Frau fühlte den Schlag kommen, noch ehe der Mann hinter ihr ausgeholt hatte. Sie wich aus, und der Pflock traf sie an der Schulter. Die junge Frau stöhnte und fühlte wie ihr das Blut herunterlief. Ein eigenartiges Ziehen erfüllte sie und der Geruch des Blutes machte sie schier rasend. Wieder hob der Bauer seine Hand, um erneut anzugreifen. Iliana fing seinen Arm ab und stieß ihn von sich. Erschrocken sah die Frau, daß der Mann durch den halben Kreis geschleudert wurde. Noch entsetzter war sie über den Gesichtsausdruck der anderen. Die Menschen fürchteten sie, sie Iliana, die jeden von ihnen schon ihr ganzes Leben lang gekannt hatte. Und ihre Angst vor Iliana ließ sie gefährlich und unberechenbar werden.

Iliana gehörte nicht länger zu ihnen, das spürte die junge Frau deutlich, was auch immer im Wald mit ihr geschehen war, hatte sie für immer von den Dorfbewohnern getrennt.

Ein ihr bis dahin völlig unbekannter Instinkt ließ sie zischen. Iliana wandte sich um und durchbrach den Kreis, indem sie zwei Männer umrannte und in den Wald floh.

Keiner der Dorfbewohner wagte es, ihr zu folgen.

Die Verstoßene ließ sich auf den Boden sinken und schluchzte.

Was war nur los? Weshalb haßte Radu sie? Warum tat ihr Vater, als sei sie nicht vorhanden? Ihre Schulter schmerzte. Ein Kribbeln ähnlich dem eines halberfrorenen Körperteils, in das langsam wieder Leben kam, breitete sich an ihrer Verletzung aus. Iliana hob ihre Hand und starrte auf ihre blutbesudelten Finger mit eigenartiger Faszination. Ihre Zunge fuhr über ihre Lippen, dann führte sie ihre Hand an den Mund und schleckte das Blut bedächtig ab. Iliana seufzte. Noch nie hatte sie besseres genoßen. Ein reißender Schmerz an ihrer Schulter zog die Aufmerksamkeit der jungen Frau auf sich. Iliana blickte auf ihre Schulterverletzung, zog ungläubig den Stoff ihres Kleides weg und betastete ihre Haut. Sie war glatt und makellos, nur die Blutspuren deuteten daraufhin, daß dort die Verletzung gewesen war. Ein Geräusch ließ Iliana auffahren und sie erkannte einen Raben, der sich auf einem Ast niedergelassen hatte. Das Mondlicht reflektierte sich auf seinen Federn und ließen sie in unzähligen Farben schimmern. Fasziniert starrte die junge Frau auf den Vogel, erhob sich und ließ ihren Blick schweifen. Sie lachte, als sie die unzähligen Farben erkannte, die den Wald bunt färbten. Grau, silber, weiß in Dutzend Schattierungen tauchte die Wildnis in ein völlig neues Gesicht. Ungläubig fuhr sich Iliana über ihre Augen, doch die Farben blieben. Im Gegenteil, sie wurden sogar zahlreicher, ein Blau, ein Grün gesellten sich hinzu.

Iliana streckte ihre Arme aus und drehte sich, das Gesicht dem Mond entgegengereckt.

„Ich bin nicht tot!“ flüsterte sie.

Plötzlich schien ihr, als würde eine Tür aufgestoßen, eine Tür in die Dunkelheit, sie einladend und unwiderruflich an sich bindend.

Die Frau fühlte ein Brennen, das sich in ihrem Körper ausbreitete, süß und gleichzeitig unglaublich quälend, das Gefühl steigerte sich und dann kam der Schmerz, sie konnte jede ihrer Körperzellen fühlen, spürte den Drang, die Gier nach Nahrung, nach einer ganz speziellen Speise.

Sie wirbelte herum, so schnell, daß ein menschliches Auge ihre Bewegung gar nicht mehr erfassen konnte und packte den Raben, der immer noch auf seinem Ast saß.

Ihre Eckzähne pochten und wurden länger und spitzer, so daß sie problemlos in den Vogel beißen und sein Blut aussaugen konnte.

Mit jedem Schluck wuchs ihre Zufriedenheit, sie konnte spüren, wie jeder Teil ihres Körpers befriedigt wurde. Der Rabe bäumte sich ein letztes Mal auf und dann konnte Iliana fühlen, wie seine Lebenskraft entwich und in sie überging.

Erleichterung durchflutete ihren Körper, sie ließ den Kadaver fallen und ging ein paar Schritte. Die Tür zur Dunkelheit lag nicht mehr vor ihr, sie war hindurchgegangen. Iliana warf einen Blick zurück.

Plötzlich schien ihr, als würde ihr ganzes Leben vor ihren Augen ablaufen. Alles in rasender Geschwindigkeit. Iliana erkannte ihre Mutter, wie sie in den Wehen lag, dann hatte sie das Gefühl, ihre eigene Geburt mitzuerleben, wie sie durch den engen Geburtskanal entlang gestoßen wurde, wurde zum Kleinkind, zum Kind, erlebte die Liebe ihrer Eltern, den Sonnenschein, stand erneut am Grab ihrer Mutter, war mit ihrem Vater zusammen, lernte Radu kennen und lieben und war wieder im Wald, allein, verfolgt von einer Macht oder einem Wesen? Dann ihr Sturz und sie starb erneut. Doch ihr Tod war nicht endgültig, denn wieder schlug sie die Augen auf und war untot.

Ein gequälter Schrei entwich Ilianas Lippen und sie fiel hart auf ihre Knie.

„Ich bin nicht tot!“ schrie sie und keuchte angestrengt. „Ich bin verdammt!“ fügte sie flüsternd hinzu.

Die Alten im Dorf hatten einen Namen für Wesen wie sie: Satansbrut, Blutsauger, Vampir!

Vampir, Vampir, Vampir!! hallte es höhnisch in ihren Ohren wider.

Sie riß ihre Arme hoch und preßte ihre Hände an die Ohren.

Iliana schluchzte.

„Vater, Vater, warum?“ Ihr Körper bebte und die junge Vampirin verharrte eine Ewigkeit in dieser Stellung. „Ich werde zu Vater gehen!“

Sie mußte ihren Vater sehen, sie brauchte seine Vergebung, auch auf die Gefahr hin, von den anderen getötet zu werden. Ihr Vater liebte sie, er würde mit ihr reden.

„Vater!“ flüsterte Iliana und spähte durch das Fenster in die Hütte des alten Mannes.

Obwohl es stockdunkel war, konnte sie jede Einzelheit erkennen. Die Truhe, in der die wenigen Habseligkeiten von ihr und ihrem Vater lagen, die Pritschen mit den dünnen Strohmatratzen, die Feuerstelle mit dem rußigen Kessel, das Bord mit den wenigen Kochgerätschaften.

Ihr scharfen Augen entdeckten in der dunkelsten Ecke der Hütte ihren Vater. Mit ihren übernatürlichen Sinnen nahm Iliana jede Kleinigkeit an dem Mann war. Sie sah jede einzelne Falte, jede Unebenheit, jedes einzelne Barthaar so deutlich, als würde sie ihm bei hellen Tageslicht gegenüberstehen. Die Brust ihres Vaters hob und senkte sich unter hektischen Atemzügen und die Vampirin konnte seine Angst deutlich fühlen und riechen. Sie straffte sich, die neugewonnenen Instinkte einer Jägerin gewannen die Oberhand und Iliana wußte, daß sie die Jagd nach dem alten Mann aufnehmen würde, wenn er nun vor ihr davonlaufen würde. Die Frau rang diese neuen Empfindungen nieder und beugte sich vor, doch als sie ihren Kopf durch das Fenster stecken wollte, erkannte sie, daß ihr eine unsichtbare Mauer den Weg versperrte. Im selben Moment fühlte sie die Anwesenheit eines zweiten Menschen. „Du kannst nicht eintreten, weil dich niemand eingeladen hat.“ erklärte Radu kalt.

Er zog einen spitzen Gegenstand aus seinem Hosenbund und Iliana erkannte einen Holzpflock, der zweifelsohne für sie bestimmt war.

Radu lächelte.

„Ganz genau, ich werde Ilianas Seele retten!“ Damit stürzte er sich mit erhobenem Pflock auf Iliana.

Sie packte sein Handgelenk und zwang den jungen Mann das Holz fallen zu lassen. Mühelos, als wäre Radu eine Puppe, hielt sie ihn an den Armen fest.

Seine Augen waren vor Angst weitaufgerissen, doch das berührte Iliana nicht, er hatte sie töten wollen und das sollte er büßen.

Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie konnte Radus Panik fühlen, es war geradezu berauschend, die Macht zu fühlen, die sie über ihn, über jeden Menschen besaß.

„Küß mich ein letztes Mal, Radu!“ flüsterte Iliana lächelnd.

Dann stieß sie zu. Ihre langen Eckzähne bohrten sich in seinen Hals. Gierig trank die Vampirin sein Blut, ein heißes Glücksgefühl durchströmte sie und als sie den letzten Schluck und damit Radus Lebenskraft in sich aufnahm, fühlte sie sich beinahe betrunken, aber gleichzeitig so klar und lebendig wie nie zuvor in ihrem Leben.

Iliana spürte die Nähe einer weiteren Person, wirbelte herum und grub dieser ihre spitzen Zähne in den Hals. Es war das Blut eines alten Mannes, das sie diesmal trank. Iliana konnte seine Todesangst, seinen Widerstand deutlich erkennen. Der Mann stieß einen erstickten Laut aus und Iliana erstarrte.

Sie ließ von ihrem Opfer ab und erkannte ihren Vater.

Die Vampirin hob ihre Hand an ihren Mund und starrte schuldbewußt, entsetzt auf den alten Mann.

„Vater, verzeih, das...“

Der Vater stieß die vergebungsheischenden Hände seiner Tochter fort und taumelte mit grauem Gesicht zurück.

„Verflucht seist du, Wesen der Nacht!“

Beinahe obszön anmutend lief ein Blutstropfen den faltigen Hals hinunter. Der Alte preßte seine Hand an sein Herz, ehe er zusammen sackte. Iliana brauchte nicht nach zu sehen, um zu wissen, daß er tot war.

Sie wich zurück.

„Was habe ich getan? Ich habe Vater getötet...“

Schreie wurden laut und Iliana erkannte, daß ihre Anwesenheit im Dorf entdeckt worden war. Sie floh, fort von der Stätte ihrer ruchlosen Tat, um sich in den Tiefen des Waldes zu verstecken.

Von einem Hügel aus starrte Iliana in die Landschaft, die einst ihre Heimat gewesen war. Einst, als sie noch lebte. Sie wandte sich ab.

Die Vampirin würde einen Platz suchen, an dem sie eine Zeitlang verweilen konnte. Einen Ort, an dem sie etwas über ihre neue Existenz erfahren konnte. Und ihren Hunger stillen...

Iliana ahnte, daß ihr Hunger, dieser ganz spezielle Appetit, ein wichtiger Bestandteil ihres Daseins bleiben würde. Von nun an war sie eine Jägerin und die Menschen ihre Beute. Sie gehörten nicht mehr derselben Rasse an. So wie die Menschen sie, Iliana mit Haß und Angst verfolgen würden, würde Iliana sie ihres Blutes wegen jagen...

(c) Maeve, 2001