Die Saphirkette


(c) Martin Michael Bauer, 2003


Daíron rannte. Noch nie in seinem Leben war er so schnell gerannt, und wenn er nicht noch schneller rannte, würde es mit Sicherheit auch das letzte Mal sein. Nur noch diese eine Steigung..., dann war er beim Tempel der Andarra. Er verharrte nicht, so wie es die Leute üblicherweise tun, vor dem imposanten Prachtbau aus weißem Marmor, dessen blaue Kuppel sich in unermesslichen Höhen ehrerbietig erhob, sondern riss die Tür auf, nahm die Stiege hinauf, immer hinauf, immer weiter. Es war eine Art Wendeltreppe, wie eine aufgeschreckte Riesenschlange wand sie sich an der Wand des Andarra-Tempels empor, immer höher schraubte sie sich, bis sie an der Spitze des Turmes das Gebäude verließ. Daíron sah durch das kleine Loch an der höchsten Stelle der Kuppel den Himmel. Riesengroß und weit war der Himmel, doch hier, im Tempel seiner Herrin, war er in einem kleinen Ausschnitt gleichsam zusammengefasst. Und der winzige hellblaue Kreis verhieß Daíron die Freiheit.

Er hielt an, blickte hinunter in den Hauptraum des Tempels, sah seine Feinde die ersten Treppenstufen erklimmen, und lief dann weiter. Er musste es schaffen, musste die heilige Saphirkette an ihren angestammten Platz bringen, bevor sie wieder den Barbaren in die Hände fiel. Noch hatte er nicht einmal ein Viertel des Weges hinauf zurückgelegt, doch er bekam schon Seitenstechen. Wahrscheinlich war es keine gute Idee gewesen, die Kette zurückerobern zu wollen, doch die Hohepriesterin Tan Ikir hatte ihn darum gebeten. "Ohne das heilige Artefakt," hatte sie gesagt, "ist der Tempel wertlos. Denn Andarra wird böse werden, wenn wir ihre Saphirkette in den blasphemischen Händen der Barbaren belassen." Sie hatte Daíron angesehen, und er hatte zugestimmt. Er hatte sie geliebt.

Die Stufen wurden steiler und steiler, so schien es ihm jedenfalls, und sowohl seine Schritte als auch die seiner Verfolger hallten wie Donner in dem fast ganz leeren Raum. Jetzt hatte Daíron ungefähr die Hälfte erreicht. Er blieb stehen, atemlos, um zu verschnaufen, und erkannte, wie sich seine Feinde noch immer im unteren Drittel abmühten. Vor sechs Monden hatten die Barbaren die Kette geraubt, mit der Hilfe Iridians, der berüchtigtesten Diebin der Stadt, auch sie eine der Wilden aus den Bergen jenseits des großen Flusses. Daíron zögerte. Was veranlasste die Bewohner Élushais dazu, jene Nomaden als Barbaren oder gar Wilde zu bezeichnen? Es war nicht richtig so. Er schüttelte den Kopf und rannte weiter. Seine Pause hatte zu lange gedauert, und seine Verfolger waren bereits direkt unter ihm. Immer weiter, weiter. Er heftete seine Augen auf das Blau des Himmels, klar wie die taubeneiergroßen Saphire der Kette. Dort hinauf musste er, dort oben musste Andarras Kette liegen und sich vom Wind umspielen lassen.

Er konnte nicht mehr. Der Großteil der Strecke lag hinter ihm, jetzt begann die Stiege, sich in die Kuppel zu winden. Daíron ging jetzt langsam, doch zielstrebig weiter. Die Feinde würden ihn in jedem Fall erwischen. Der Rückweg war abgeschnitten, und es waren eindeutig zu viele Gegner, um gegen sie kämpfen zu können. Er wollte nicht daran denken, zuerst musste er hinauf auf die Plattform oberhalb der Kuppel. Er war ein einziges Mal dort gewesen, gemeinsam mit Tan Ikir, und der Anblick war überwältigend gewesen. Tan Ikir... Er würde sie wahrscheinlich nie mehr sehen. Er hob den Kopf, um zu sehen, wie weit es noch war. Noch drei Umdrehungen... Weiter...

Er war fast am Ende des langen Weges. Noch sechs Stufen, die steilsten von allen, diejenigen, die direkt in den Himmel führten. Daíron betrat die Plattform und hielt den Atem an. Von hier aus konnte man ganz Élushai sehen, die große Stadt, die grünen Wiesen rundherum, mit einigen Hainen und Wäldchen. Dazwischen erstreckte sich der große Fluss, ringelte sich wie eine blaue Schlange von den Bergen meerwärts. Und hinter dem Fluss war das Land, die Berge der Barbaren. Es war ihm unverständlich, warum man andere Menschen mit einer anderen Kultur so abwertete. Schon früher, als er vor etwa dreieinhalb Monden ihr Land betrat, um ihnen die Saphirkette abzuringen, hatte er sich das gedacht, aber er hatte es vergessen und erst jetzt war es ihm wieder eingefallen. Noch einmal blickte er sich um. Die Sonne ließ Élushai glänzen, und Daíron staunte über so viel Schönheit.

Er drehte sich abrupt um. Da stand die ganz glatte, silberne Aufhängevorrichtung für die Saphirkette. Wie sollte er sie dort hinaufbringen? Er versuchte, daran empor zu klettern, doch er rutschte ab. Nur Iridian konnte so etwas. Daíron blickte hinunter, unsagbar tief unter ihm war der Boden der Tempelhalle, und nur noch eine halbe Umdrehung trennte seine Verfolger von ihm. Dann schaute er hinauf zu der im Sonnenlicht funkelnden Spitze der Aufhängung. Er musste es versuchen. Es war die einzige Möglichkeit. Die Feinde waren fast auf der Plattform angekommen, als er sich das Kleinod über den Kopf zog und sie mit aller Kraft nach oben warf. Ein starker Windstoß kam, und er sah, wie Andarras Saphirkette an der Vorrichtung baumelte und das Sonnenlicht nach allen Seiten hin reflektierte. Es war ein Moment grenzenloser, friedlicher Schönheit, die Saphire dort oben verschmolzen beinahe mit dem Blau des Himmels und jenem der Kuppel, da bekam Daíron einen Stoß, und er fiel, er fiel durch das kreisrunde Loch in die Kuppel, und immer weiter, die ganze Strecke, die er vorhin zu Fuß zurücklegen hatte müssen, fiel er, er kam sich vor wie fliegend, und bevor er unten aufschlug, wurde er bewusstlos.

(c) Martin Michael Bauer, 2003