(c) Alia, 1999 |
‘Erzähle uns eine Geschichte, Grossmutter!’ Yaani und ihr kleiner Bruder Arren legten sich mächtig ins Zeug und blickten ihre Grossmutter aus grossen, runden Augen treuherzig an. Sie trugen bereits ihre Nachtgewänder aus weissem Leinen und lagen in ihren Betten unter dem Dach der kleinen Hütte. Sie hatten die bauschigen Decken bis an die Nasen hochgezogen und kuschelten sich wohlig in die weichen Matratzen. Draussen heulte der Wind durch die eisige Nacht, doch drinnen erleuchtete und erwärmte das Licht des Feuers unten in der grossen Stube mit warmem Glanz auch Yaani’s und Arren’s kleines Reich. ‘Bitte, Grossmutter. Biiiiiitte.’ ‘Aber ich sage Euch doch, ihr müsst jetzt schlafen. Ich musste Eurem Vater versprechen, dass ihr zur achten Stunden auch wirklich schlaft.’ ‘Ach Grossmutter, wir möchten doch nur eine einzige kleine Geschichte hören,’ Yaani liess nicht locker ‘dann schlafen wir auch sofort ein. Versprochen.’ ‘Versprochen.’ Arren stimmte seiner grossen Schwester mit heftigem Kopfnicken zu. Die Grossmutter konnte nur mit Mühe ihr Schmunzeln unterdrücken. Es war immer das gleiche. Jedesmal quengelten und bettelten die beiden Kleinen und zogen alle Register ihres Könnens. Und jedesmal musste sie nach halbherzigem Ringen dem Drängen der beiden nachgeben. ‘Also gut, ihr zwei Quälgeister. Ihr gebt ja sonst doch keine Ruhe. Aber nur eine Geschichte. Und dann schlaft ihr, sonst kommt Jandir und zwickt Euch.’ Yaani und Arren strahlten über das ganze Gesicht. Die Grossmutter wusste, dass sie die beiden mit Jandir schon lange nicht mehr beeindrucken konnte. Aber es war mittlerweile schon zu einem Ritual geworden. Wenn Jandir ins Spiel kam, dann gab es auch eine Geschichte. ‘Wenn ich draussen den Wind so heulen höre,' fing die Grossmutter an zu erzählen 'muss ich an eine Geschichte denken, die sich vor langer, langer Zeit ereignet hat. Ich habe sie Euch sicher noch nicht erzählt, denn es ist eine besondere Geschichte für besondere Nächte. Es ist die Legende von Gerret und Thuviel: - Es war einmal vor langer Zeit, als die Wälder noch dunkel und die Wege gefährlich waren. In einem Land, weit weg von hier, hoch im Norden, erhob sich ein Gebirge, das die Menschen den Grat der Welt nannten. Es war ein hohes, schroffes Gebirge und kaum einer der Menschen des Nordens hatte je gewagt es zu betreten. Und die, welche es wagten, kamen nie zurück. In der Nähe des Grats der Welt, inmitten dunkler Wälder am Rande der Ausläufer der Berge, lag ein kleines Dorf, das man Tergelen nannte. Die Menschen in Tergelen mussten häufig um ihr Leben kämpfen: wilde Tiere, Räuber und Söldner und vor allem die erbarmungslosen Stürme hatten sie ernst und misstrauisch und vorsichtig gemacht. Doch unter ihnen wuchs ein Mädchen auf; ein kleines Mädchen, dessen Augen so klar wie die Gletscher des Grats der Welt waren und dessen Haar die Farbe der aufgehenden Sonne eingefangen hatte. Und da es immer fröhlich und unbekümmert war, nannte man es Thuviel, den ‘Glanz der Sterne’. Als Thuviel grösser wurde, erblühte sie zu einer schönen Frau. Jeder mochte sie und jedem brachte sie durch ihr Wesen Sonne in den rauhen Alltag. Thuviel war froh mit ihrem Leben im Dorf, doch richtig glücklich war sie erst, wenn sie alleine durch die Wälder streifen konnte. Stundenlang konnte sie gedankenverloren und vor sich hin summend durch die tiefen Wälder wandern und mit neugierigen Augen all die Wunder beobachten, die sich dort auftaten. Eines Tages, als sie besonders tief in den grossen Wald gegangen war, entdeckte sie einen alten, fast gänzlich zugewachsenen Weg. Ihre Neugier war geweckt und sie beschloss, den Weg ein wenig zu erkunden. Sie teilte das Dickicht, trat aus dem Wald und schritt auf den von Sonne überfluteten Weg hinaus. Und
da sa sie ihn: er trug einen Umhang aus einem seltsamen, dunkelblauen
Material. Darunter konnte sie ein graues Gewand aus grobem Stoff sehen.
Er lag mitten auf dem Weg auf dem Rücken und rührte sich nicht. Langsam,
fast unmerklich hob und senkte sich seine Brust. Thuviel trat ein paar
Schritte auf ihn zu und musterte ihn vorsichtig. Sein Gesicht war jung
und es wurde von lockigen, halblangen schwarzen Haaren umrahmt. Als er seine Augen auf Thuviel richtete, blickte sie in zwei dunkle, traurige Seen voll Schmerz. Der Mann schien sie eine Ewigkeit zu mustern, bis sich sein Körper etwas entspannte. Er atmete schwer. ‘Wo bin ich’ fragte er mit leiser Stimme. ‘Du bist nördlich von Tergelen, einem Ort am Rande des Grats der Welt’. ‘Nördlich oder südlich?’ die Augen des Mannes weiteten sich. ‘Südlich der Berge natürlich.’ Thuviel blickte ihn verwundert an ‘Nördlich gibt es nichts mehr. Dort endet die Welt’. Ihre Antwort schien ihm zu genügen. Er schloss die Augen und entspannte sich etwas. Sein Atem ging ruhiger. Plötzlich schlug er wieder die Augen auf und riss die rechte Hand hoch. Er stierte auf seine geballte Faust. Als er einige Augenblicke so verharrt hatte, entspannte er sich wieder und begann, sich umständlich und mit schmerzverzerrtem Gesicht aufzusetzen. Thuviel stützte ihn, so gut sie konnte und er hielt sich mit seiner linken Hand an ihrem Arm fest. ‘Wer bist du’ fragte er, als er langsam versuchte, auf die Beine zu kommen. ‘Man nennt mich Thuviel und ich komme aus Tergelen. Komm’, ich werde dir helfen zu gehen. Ich bringe dich in mein Dorf. Man wird sich dort um dich kümmern, bevor du wieder nach Hause kannst.’ ‘Nach Hause?’ der Fremde stiess ein heiseres Lachen aus. ‘Ich habe kein zuhause mehr.’ In seinen Worten klangen Bitterkeit und Schmerz, die Thuviel zutiefst bewegten. Schritt für Schritt fingen die beiden an, den weiten Weg nach Tergelen zurückzugehen. Thuviel stützte ihn, so gut sie konnte und er kämpfte sich Schritt für Schritt voran. Sie redeten nicht viel, denn dem Fremden fiel das Sprechen schwer. Doch eines erfuhr Thuviel von ihm: seinen Namen. Er hiess Gerret. Als Thuviel und Gerret die ersten Häuser von Tergelen erreichten, kamen ihnen einige Dorfbewohner entgegengelaufen. Die Sonne stand bereits tief am Horizont und man hatte Thuviel schon vermisst. Gerret wurde freundlich in Tergelen aufgenommen. Man brachte ihn im Haus von Thuviels Eltern unter, wo er nach langen Tagen und Nächten langsam genas. Thuviel verbrachte viel Zeit mit Gerret und die beiden wurden nie müde, miteinander zu schwatzen und zu reden. Als Gerret wieder sicher auf den Beinen stehen konnte, fingen sie an, Spaziergänge zu unternehmen. Erst kurze, dann immer längere. Doch während all der Stunden und Tage, die sie sich näherkamen, erfuhr Thuviel doch nie etwas über Gerrets Vergangenheit und seine seltsame Herkunft. Und sie erfuhr auch nie etwas über den geheimnisvollen Gegenstand, den er in der rechten Hand hielt, als sie ihn auf dem Weg liegend fand. Er trug ihn immer bei sich, das spürte sie. Doch er achtete immer darauf, dass niemand ihn zu Gesicht bekam. Der
Sommer ging in den Herbst über und mit dem Herbst kamen die kalten Stürme.
An einem der letzten schönen Tage des Jahres beschlossen die beiden, einen
letzten, langen Spaziergang zu unternehmen. Es war ein wunderschöner Tag.
Durch die dunklen Wälder waberte noch der weisse Nebel, als die Sonne
golden durch die rotgefärbten Blätter der Bäume brach. Langsam schritten
sie Seite an Seite mit gesenkten Köpfen durch den Wald, auf dem Weg zu
Thuviels Lieblingsplatz, der mächtigen Eiche auf der Lichtung am Ufer
des Baches. Nie sollte Thuviel erfahren, wie lange sie dort auf der Lichtung am Ufer des Baches standen und sich eng umschlungen hielten. Minuten, Stunden, was bedeutete Zeit? Die Sonne hatte ihren Zenit bereits überschritten, als dunkle Wolken am Horizont aufzogen. Widerstrebend lösten sich Gerret und Thuviel voneinander und blickten sich lange in die Augen. Nur langsam trat die Welt um sie herum in ihr Bewusstsein und erst spät hörten sie daher das Donnern in weiter Ferne. Gerret bemerkte es zuerst. Und als sich sein Blick verdüsterte, hörte auch Thuviel das dumpfe Grollen. Das Grollen von eisenbeschlagenen Hufen auf dem hartem Stein der fernen Berge. ‘Gerret, was ist das’ fragte sie unsicher. Gerret schwieg, und blickte sie nur an. Thuviels Herz schlug heftiger, als ihr gewahr wurde, dass seine Augen wieder den gleich Ausdruck annahmen wie damals, als sie ihn auf dem Weg liegend fand. Bitterkeit und Traurigkeit erfüllten seinen Blick und Thuviels Herz wurde schwer. ‘Es
bleibt nicht mehr viel Zeit.’ sagte er leise. ‘Welch grausames Spiel treibt
das Leben mit uns. Welch bösartige Ironie.’ Gerret riss sein Gewand auf und auf seiner blossen Brust, an einer langen, goldenen Kette, hing der Stein des Schicksals in Gold gerahmt. Sein dunkler, blauer Schimmer war so tief wie die See und Thuviel erblickte durch ihn das Herz der Welt. Tränen rannen über ihr Gesicht, als der geliebte Mann die Kette über den Kopf zog. ‘Nein, Gerret, nicht. Du darfst den Stein nicht hergeben, es ist dein Tod.’ ‘Ja, es wird mein Tod sein. Doch das ist nichts gegen den Schmerz, den ich dir bereiten muss. Du wirst niemals mehr in dein Dorf zurückkehren können, denn man wird dich dort suchen. Du wirst fortan immer auf der Flucht sein, denn du darst den Stein niemals anwenden. Er würde dich zerstören und dich auffressen. Versprich mir, dass du ihn nie erforschen wirst. Versprich es!’ Thuviels Tränen vermischten sich mit dem letzten Tau auf dem Gras, als sie Gerret ihr Versprechen gab und den Stein nahm. Ein letztes Mal umarmte er sie und es brach ihm das Herz. Langsam löste er sich von ihr und blickte ihr nochmals tief in die Augen. ‘Und noch eines darst du nie vergessen, Thuviel: Du warst die Sonne in meiner Nacht und das Wasser für meinen Durst. Du bist die Liebe meines Lebens und du wirst es immer sein.’ Er sagte es leise und ernst und Tränen standen in seinen Augen. ‘Vergiss mich nie, Liebe meines Lebens’. Thuviel erstarrte, als er sich von ihr löste und langsam rückwärts schritt. Sein Gesicht war verzerrt vor Schmerz, als er die letzten Worte sagte, die sie von ihm hören sollte: ‘Geh nun, Thuviel, geh. Du musst gehen, denn ich werde sie nicht lange in die Irre führen können.’ Thuviel zerbrach, als er sich plötzlich umwandte und mit weiten Schritten im Wald verschwand. Sie stand noch lange Zeit dort auf ihrer Lichtung und nur der Zufall verbarg sie vor den Häschern Harkons des Dunklen. So endet die Legende von Gerret und Thuviel.‘ - Die Grossmutter blickte auf ihre Enkel und ihre Augen wurden feucht. Arren war schon eingeschlafen und auch Yaani dämmerte langsam in den Schlaf hinüber. Müde, kaum mehr bewusst, fragte sie leise ‘aber .... was geschah ..... mit Thuviel ....’. Die Grossmutter schwieg lange und blickte voll Liebe auf die beiden Kinder. Yaanis Atem verriet ihr, dass auch sie nun schlief. ‘Ich
ging fort, weit weg in den Süden. Den Stein des Schicksals immer sorgsam
verborgen vor der Welt. Ich sah Gerret nie wieder und ich sollte nie erfahren,
was aus ihm oder Harkon wurde. Mein Herz zerbrach an diesem Tag, aber
ich habe mein Versprechen gehalten. Ich habe den Stein immer gehütet,
und ihn nie erforscht. Und wieder flossen Tränen über Thuviels nun zerfurchtes Gesicht, als sie langsam und mit Bedacht eine goldene Kette mit blauem Stein aus ihrem Gewand zog. |