Rings um die alte Schule der Barden hatte sich über die Generationen hinweg eine blühende Stadt entwickelt. Barragast war neben Ardengast, dem politischen Zentrum Ardens, die zweite der freien Städte der Westmarken. Nach dem grossen Bruch vor vielen Generationen spaltete sich das ehemalige Kaiserreich Ar'Hadan in die freien Länder von Arden. In den Westmarken entwickelte sich ein lockerer Bund eigenständiger Feudalstrukturen. Einzig die beiden damals schon grossen Städte Barragast und Ardengast blieben eigenständig. Ihre übergreifende Bedeutung - Barragast wegen der Schule der Barden und Ardengast als alte Kaiserstadt - führten dazu, dass sich die Herrscher der Marken dazu entschlossen, ihnen die Selbständigkeit zuzusprechen.

Während Ardengast sich im Verlauf der folgenden 20 Jahre zum politischen Zentrum von Arden entwickelte - seine formelle Unabhängigkeit begünstigte dies - blühte Barragast aufgrund minimaler Regierungs- und Reglementierungsstrukturen zu einem kulturellen Zentrum auf. Ein reiches Kunstgewerbe, Handwerker der verschiedensten Zünfte und ein immer stärker aufblühender Handel machten Barragast zu einem kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum. So entwickelte sich auch der einst bescheidene Markt zu Barragast über die Jahre hinweg zu einem grossen, überregionalen Ereignis. Neben den üblichen Markständen fanden sich immer häufiger auch Fahrensleute, Gaukler und selbstverständlich auch Barden zu den Markttagen ein. So kam es, dass sich in Barragast an jedem ersten Samstag und Sonntag eines jeden Monats ein buntes, lautes, chaotisches Treiben ergab, das Leute von nah und fern anlockte.

Auf eben dieses Treiben blickten nun zwei Männer. Der eine grauhaarig und leicht gebeugt, der andere mittleren Alters, ernst und von gepflegter Erscheinung. Beide trugen helle, lange Gewänder mit roten Gürteln und einen dunkelroten Umhang mit Kapuze. Der ältere der beiden trug einen schmalen Silberreif auf dem Kopf mit den Abzeichen eines Abtes des Ordens der Wächter an den Schläfen. Sie gingen den südlichen Wandelgang der Ordensburg der Wächter entlang. Die Fenster zu ihrer rechten Hand gaben den Blick frei auf den Markt im Zentrum von Barragast.

"Ich weiss wirklich nicht, warum ich mir das in meinem Alter noch antun muss" stöhnte der ältere der beiden auf und hielt sich mit der linken Hand den Rücken.

"Es ist Tradition, Meister" antwortete der Jüngere ernst.

Der Alte drehte abwesend den Kopf um sah durch die Fenster. "Ja, Tradition. Nicht mehr. Eigentlich zuwenig, um einen alten Mann aus seiner warmen Stube zu holen."

"Aber Meister, wie könnt ihr das sagen. Seit Generationen schon wohnt der hiesige Abt des Ordens der Wächter den Abschlussprüfungen der Barden bei."

"Nicht ganz, mein ernsthafter Freund, nicht ganz." korrigierte der Abt und hob den linken Zeigefinger.

"Ja, der grosse Bruch. Aber es war Krieg, Wächter und Barden standen auf verschiedenen Seiten. Umso wichtiger ist es, die traditionellen Formen der gegenseitigen Achtung nicht zu vernachlässigen."

"Soviel zur Tradition. Aber ihr als mein Adjutant kennt meine Meinung, Jolunn. Ich war immer dagegen, die Gilde der Barden wichtiger erscheinen zu lassen als sie ist. Die Anwesenheit der Wächter bei ihren lächerlichen Ritualen wertet sie nur unnötig auf." Der Abt schnaubte verächtlich. "Was sind sie denn schon? Sänger und Fahrensleute die sich ein wenig um die Bewahrung der geschichtlichen Hintergründe Ardens kümmern."

"Aber sie sind beliebt beim Volk. Die Teilnahme an ihren Abschlussprüfungen einmal im Jahr hebt unser Ansehen" entgegnete Jolunn.

"Es ist eine Schande, sage ich euch." Der Abt schüttelte den Kopf. "Wir, die Wächter, müssen um des Volkes Gunst buhlen, indem wir den Barden zu Kreuze kriechen."

Jolunn und der Abt hatten die grosse Treppe erreicht, die in den Empfangsbereich der Ordensburg führte. Die Ehrengarde in ihren grauroten Uniformen wartete bereits am Fuss der Treppe. Es hatten sich ausserdem mehrere Ordensbrüder versammelt, um den Abt zu verabschieden. Er würde die nächsten drei Tage in der Schule der Barden verbringen.

Jolunn und der Abt gingen die Treppe hinunter. Der Abt schnaufte, als er sich leicht seitlich gehend die Treppe hinunterkämpfte. "Es ist eine Ironie. Wir, die wir das Wirken der Hüter in der Welt verfolgen indem wir Dem Lied lauschen, erweisen den Barden unsere Ehre. Mit ihrem Singen und Spielen übertönen sie doch nur Das Lied" brummte der Abt.

Jolunn neigte leicht den Kopf bei der Erwähnung Des Liedes. Wie alle Ordensmitglieder hatte er sein Dasein Dem Lied gewidmet. Die Wächter verfolgten das Wirken der Hüter, indem sie den Lauf der Welt beobachteten. Aus diesen Beobachtungen zogen sie Schlüsse über Gegenwart und Zukunft und versuchten, ihr Leben danach auszurichten. Diese Geisteshaltung hatten sie zu geschätzten Beratern der Führer von Ardens Ländern gemacht. Doch während ihre politische Macht wuchs, verloren sie gleichermassen die Achtung beim einfachen Volk. Zu weltfremd erschien den Menschen die Passivität der Ordensbrüder. Sie agierten nicht, sie beobachteten und kommentierten nur. Sie waren zwar geachtet aber nicht beliebt.

Als Jolunn und der Abt das Ende der Treppe erreicht hatten, nahmen die sechs Mitglieder der Ehrengarde Haltung an. Sie würden den Abt und seinen Adjutanten auf dem Ritt zur Schule der Barden begleiten. Ausserdem würden sich noch zwei der jüngeren Novizen anschliessen. Der Besuch bei den Barden würde Teil ihrer Ausbildung sein und ausserdem standen sie dem Abt als persönliche Diener zur Verfügung.

"Ah, Berath und Torin" begrüsste der Abt die beiden Novizen. und berührte - dem traditionellen Gruss folgend - mit der rechten Hand ihre linken Schläfen. "Seid ihr bereit?"

Die beiden Novizen nickten eifrig aber der Abt war bereits weiter gegangen. Er schritt mit Jolunn an seiner Seite durch das riesige, hölzerne Tor der Eingangshalle. Draussen warteten bereits die Pferde und der Wagen des Abtes, die sie zur Schule der Barden bringen würden.

Mühevoll bestieg der Abt seinen persönlichen Wagen. Bis auf zwei Fenster an den Seiten war er gänzlich geschlossen. Der Abt genoss seine Intimität. Als sein Adjutant durfte Jolunn auch im Wagen mitfahren. Die beiden Novizen ritten hinter der Ehrengarde am Ende des kleinen Zuges.

Nachdem der Wagen losgefahren war und sich anschickte, den Markt im Zentrum von Barragast zu durchqueren, versank der Abt in die Stille. Die Stille war der Zustand der Wächter, in dem sie versuchten, das Lied der Welt, das Wirken der Hüter zu vernehmen.

Jolunn beobachtete den Abt, als dessen Augen sich langsam schlossen und seine Atmung ruhiger wurde. Er musst zum Erreichen der Stille immer noch auf Konzentrationsübungen zurückgreifen. Der Abt schloss einfach die Augen.

Als sich der Abt langsam von seiner Umwelt zurückzog, fühlte er wie üblich eine leichte Woge der Wärme seinen Körper durchfluten. Sein Kopf schien sich zu leeren und sein Geist wurde frei und leicht. Die Geräusche um ihn herum wurden leiser und verstummten schliesslich. Er hatte den Zustand der Stille erreicht. Langsam entsandte er seinen Geist. Er fühlte die freudige Erregung der Leute auf dem Markt. Die Unruhe des Viehs, das zum Verkauf angeboten wurde.
Er schickte seinen Geist weiter aus. Er spürte eine Woge der Nervosität und der Unsicherheit. Es mussten die Prüflinge in der Schule der Barden sein. Der Abt schmunzelte unwillkürlich.
Er schickte seinen Geist noch weiter. Er spürte, wie das Land aus dem Winterschlaf erwachte, zarte grüne Triebe bildete. Auf der Stirn des Abtes bildeten sich vereinzelte Schweissperlen, als er an die Grenzen seiner Macht stiess. Die Fähigkeit, Das Lied zu hören, waren bei jedem unterschiedlich stark ausgeprägt und immer räumlich begrenzt. Der Abt gehörte zu denen, die im Zustand der Stille am weitesten gelangten. Aber dennoch war es nicht genug, um ganz Arden zu erreichen. Er war bislang nie weiter als Chazar gekommen.
Der Abt entschied, dass es für heute genug war. Er hatte nichts besonderes gehört und entschied sich, wieder zurückzukehren. Zuerst langsam und dann immer schneller zog er seinen Geist zurück. Als er schon fast wieder zurück war, spürte er es wieder: eine leichte Unsicherheit, kaum wirklich feststellbar. Sie dauerte nur einen kurzen, winzigen Moment. Dann war es vorbei. Der Abt hatte den Zustand der Stille wieder verlassen.

Beim ersten Mal, als der Abt dieses leichte Zittern in der Konzentration spürte, hatte er es noch ignoriert. Aber als er es zum zweiten Mal beobachtete, wurde er aufmerksam. Dieses Mal war das dritte Mal und er fragte sich nun, ob er zu alt für Das Lied wurde. In der Vergangenheit traten immer wieder einzelne Fälle auf, bei denen Ordensmitglieder im Alter die Fähigkeit Das Lied zu hören verloren. Der Abt entschied, dass dies bei ihm nicht passieren durfte. Und wenn, dann durfte es zumindest niemand erfahren.

"Wir sind da" meldete sich Jolunn und der Abt schüttelte die unerwünschten Gedanken ab.