Generationen waren gekommen und vergangen, während die alte Eiche wuchs und gedieh. Jahrzehnt um Jahrzehnt verstrich, während sie grösser und mächtiger wurde. Und gemeinsam mit ihr wuchs auch die Bedeutung der Gemäuer, die nach und nach um sie herum erbaut wurden. Über all die Jahre hinweg wurde sie so zum Symbol für das mächtige Bauwerk, in dessen grösstem Innenhof sie nun stand: die alte Schule der Barden in Barragast.

Wie Wellen der Brandung zogen die Zeiten über die Schule der Barden hinweg und zwangen sie zu ständigen Veränderungen. Das Antlitz der Gemäuer und die Seele der Schule verwandelten sich unaufhörlich. Und so, wie sich die Schule veränderte, änderten sich auch Wesen und Stellung der Barden. Einzig die alte Eiche im Inneren der alten Schule blieb, was sie war: Wahrzeichen und Symbol zugleich.

So war es nicht weiter verwunderlich, dass der mächtige Baum zum guten Freund der Schüler wurde. Manch einer der angehenden Barden verbrachte seine glücklichsten oder verzweifeltsten Stunden hier, unter dem weit ausladenden Dach des alten Baums. Viele von ihnen kehrten nach Jahren der Wanderschaft, gealtert an Körper und Geist, wieder hierher zurück. Und auch wenn sie eine neue Schule und einen neuen Geist vorfanden, die alte Eiche blieb immer, was sie war: ein treuer Freund in den wichtigsten Stunden eines jeden Barden. Manch einer der alten Meisterbarden soll schon hier in Ehren ergraut gestanden haben, und ehrfürchtig ein einsames Lied für den alten Baum gesungen haben.

Weit weniger ehrfurchtsvoll war der Gestalt zumute, die im Moment unter dem alten Baum sass. Sie hockte mit gekreuzten Beinen unter dem Blätterdach und lehnte sich, leicht vornübergebeugt, mit dem Rücken an den mächtigen Stamm. Im linken Arm hielt sie eine mittelgrosse Lehdra aus mattem, dunkelbraunen Holz. Die rechte Hand zupfte und strich in scheinbar unzusammenhängenden Mustern über die 20 Saiten der Lehdra. Kleine Schweisstropfen bildeten sich auf der Stirn der Gestalt, während sie krampfhaft auf die Lehdra starrte. Die Lippen bewegten sich tonlos während des stillen Zweikampfs zwischen Schüler und Lehdra. Es war ein jammervolles Bild.

So war es nur natürlich, dass die sitzende Gestalt in ihrem stummen Kampf das Nahen eines treuen Freundes übersah.

"Ember! Ember wo steckst du?"

Missmutig sah sich der so angesprochene um und strich sich eine Strähne des braunen Haares aus der Stirn. Zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine kleine Falte. Untrügliches Zeichen dafür, dass er die Unterbrechung nicht sehr schätzte.

"Yarren!" Embers Mine entspannte sich zu einem hilflosen, leidenden Blick in Richtung des Freundes. "Du kommst zur richtigen Zeit. Ich werde noch verrückt mit dieser Lehdra. Ich schwöre Dir, sie hat eine Seele. Und sie ist abgrundtief böse."

Yarren grinste während er sich seinem Freund näherte. Beide waren seit fünf Jahren an der Schule der Barden und hatten viel zusammen erlebt. Während all der Jahre war ihre Freundschaft stetig gewachsen und nun, in ihrem letzten Jahr an der Schule, halfen sie sich gegenseitig bei den Prüfungsvorbereitungen.

"Ach was, du siehst wieder mal alles viel zu schwarz. Lass mich mal sehen."

Yarren kreuzte die Beine und liess sich im Schneidersitz neben seinem Freund nieder. Wie üblich war Yarren ungekämmt, sein grobes Leinenhemd hing ihm zerknittert aus der ledernen Hose und er strahlte über das ganze Gesicht. Er war wie immer bester Laune. Ganz im Gegensatz zu seinem Freund. Ember war zwar schon immer der ruhigere, melancholischere der beiden gewesen, aber richtig schlechte Laune hatte erst, seit es unerbittlich auf die Abschlussprüfungen zuging.

Ember sank mutlos in sich zusammen, als er dem Freund die Lehdra reichte. "Die Hüter müssen verrückt gewesen sein, als sie dieses Teufelswerk schufen. Wieso nur plagt man uns mit diesen störrischen Instrumenten?" Er schüttelte verzweifelt den Kopf.

"Hör auf so herumzugreinen" wies ihn sein Freund in gespieltem Ernst zurecht. Er setzte sich zurecht und nahm Embers Lehdra in den linken Arm. "Sowas. Wir sind Barden! Hat man schon jemals einen Barden ohne Instrument gesehen?"

"Wir sind noch keine Barden" maulte Ember vor sich hin. "Und ausserdem: singen reicht doch wohl." Er zupfte niedergeschlagen einige Grashalme aus der Wiese.

Yarren grinste. "Ja, aber nur, weil du Dariels Lieblingsschüler bist."

Ember schielte grimmig zu Yarren hinüber. Er hasste es, wenn sein Freund recht hatte. Aber es war nun mal eine Tatsache. Die meisten der Lehrer, allen voran die alte Dariel, waren sich einig, dass Ember ein grosses Gesangstalent besass. Auch in Geschichte und der Mythologie Ardens hatte Ember keinerlei Mühe. Das einzige, was ihn regelmässig zur Verzweiflung brachte, war der Umgang mit den traditionellen Instrumenten.

"Also mach schon" forderte Ember seinen Freund auf. "Sieh dir mal die Saiten an. Ich habe das Gefühl, dass sie nichts mehr taugen." Er fuchtelte mit der linken Hand unter der Nase seines Freundes herum.

Yarren grinste wissend, während er Ember anschaute.

"Wir machen es wie immer: ich spiele und du singst. Wenn Barden gemeinsam geprüft würden, müssten wir uns keine Gedanken machen."

Ember nickte zustimmend. Yarren hatte eine klare Stimme, aber seinem Gesang fehlte die Seele. Er riss seine Zuhörer nicht mit, er trug lediglich vor. Ganz im Unterschied zu seinem Spiel. Mit seinen langen, feingliedrigen Händen entlockte er den Instrumenten Töne, über die Ember immer wieder nur staunen konnte. Gemeinsam wären sie ein unschlagbares Gespann gewesen. Aber leider sah die traditionelle Schule der Barden Duette nicht vor. Soetwas gab es nur bei bäuerlichen Festen.

Yarren konzentrierte sich kurz, rückte die Lehdra zurecht und zupfte prüfend einige Saiten.

"Wie ich gedacht habe. Sie ist perfekt in Ordnung. Ich weiss wirklich nicht, was du willst."

"Ja ja, mach schon und fang an" brummte Ember.

"Ulja's Fluch?" fragte Yarren.

"Nein, davon bekomme ich immer Kopfschmerzen" beklagte sich Ember. "Lieber die Legende von Gerret und Thuviel."

Yarren musste wieder grinsen. "Du bist ein unverbesserlicher Romantiker, Ember. Immer kommst Du mit diesen uralten, melodramatischen Liebeslegenden. Aber nun gut. Lass uns beginnen."

Ember entspannte sich, richtete seinen Oberkörper auf und lehnte sich seufzend zurück. Mit dem Rücken an die knorrige Rinde der alten Eiche gelehnt, den Blick auf das Blätterdach gerichtet, sah die Welt für ihn auf einmal gar nicht mehr so schlimm aus. Er hörte, wie Yarren einige einleitende Harmonien spielte und schliesslich mit der ersten Strophe begann. Wie so häufig, liess Ember die erste Strophe verstreichen, um erst zur zweiten mit seinem Gesang einzusetzen.

Als Yarren mit der ersten Strophe fertig war, schloss Ember die Augen und legte die Hände neben sich auf das Gras. Er liess seinen Geist und seine Seele schweben und langsam entstanden vor seinem inneren Auge die Bilder der uralten Legende. Als er anfing zu singen, schien es, als ob es die Legende nie ohne diesen Gesang gegeben hätte. Er gehörte wie ein natürlicher Teil dazu.
Das war es, was seine Lehrer immer wieder beeindruckte: die Gabe, ein Teil der Geschichte zu werden. Nie hatten sie den Eindruck, dass Ember etwas vortrug. Immer hatte man das Gefühl, Ember wäre Teil der Lieder. Er war dabei mit Herz und Seele und Verstand. Er ging völlig in seinen Liedern auf und wenn er endete, hatte er immer das Gefühl eines Verlustes.

Während Ember völlig in sich versunken sang, folgte ihm Yarren mit der Lehdra. Yarren betonte nur hier, unterstrich dort. Immer blieb er mit der Lehdra ein Helfer. Nie übernahm er die Führung. Und in dieser völligen Harmonie woben sich Embers Gesang und Yarrens Spiel wie zarte Silberfäden durch das dunkle Grün des majestätischen Baumes. Zart und sanft. Aber doch laut genug, dass ein einzelnes Gesicht hinter einem der Fenster der Schule darauf aufmerksam wurde, sich umdrehte und wehmütig auf die beiden blickte. Das faltige Gesicht der alten Dariel zeigte ein leichtes, liebevolles Lächeln, als sie die beiden in völliger Eintracht sitzen und singen sah. Und sie wünschte sich, dass es nie enden würde.