Die Ankunft
(c) Alia, 1999

Langsam hoben sich die Schleier des Schlafes. Die Bilder des Traums wichen Stück für Stück und machten Raum für die Realität. Mein Geist glitt in die Gegenwart. Ich hatte schlecht geträumt. Wirre Bilder von fremden Menschen und unbekannten Ländern taumelten noch durch meinen Geist. Sie verflüchtigen sich mit jeder Sekunde, dich ich mich weiter der Wachwelt näherte. Ich genoss noch ein wenig die angenehme Schwere, die man verspürt, wenn man erwacht.

Ich öffnete langsam die Augen und hob den Blick. Ich wähnte mich noch schlafend, denn was ich erblickte war mir fremd. Sekunden verstrichen, bis mir bewusst wurde, dass es nicht mehr Träume waren, die meine Wahrnehmung bestimmten. Mein Geist arbeitete immer schneller als er versuchte, Gesehenes Bekanntem zuzuordnen. Es gelang nicht. Ich versuchte bewusst, etwas Vertrautes in der mich umgebenden Welt zu erkennen. Versuchte, eine Erklärung für die Situation zu finden. Versuchte, eine Erklärung für etwas zu finden, was mehr und mehr zur Tatsache wurde: ich war nicht mehr zu Hause.

Was war nur geschehen? Wann war ich eingeschlafen? Wie kam ich hier her? Wo war ich nur? Was war nur geschehen?

Der Geist des Menschen ist sehr flexibel. Noch während ich versuchte, mit einem Teil meines Geistes die Situation zu ergründen, erfasste der andere Teil langsam die Welt um mich herum.

Die Sonne stand bereits niedrig am Himmel. Sie strahlte noch hell, aber es war klar, dass der Tag zu Ende ging. Ein dunkelblauer Himmel spannte sich über die unbekannte Welt. Ich tastete mit meinem Blick den Horizont ab. In der Ferne erblickte ich dunkle, dichte Wälder. Sanft wogten die Umrisse der Wälder über Hügel und Senken auf mich zu. In einiger Entfernung löste sich das dichte Gehölz auf und sprenkelte mit kleinen Baumgruppen die niedrigen Hügel. Das frische, grüne Gras strahlte in der untergehenden Sonne. Licht floss wie flüssiges Gold über die Natur. Grün und golden erstreckte sich das Land bis zum Horizont. In welcher Welt ich auch immer war, es war eine schöne Welt. Das Land schien in sich zu ruhen.

Ich liess den Eindruck auf mich wirken. Ich sog die Bilder in mich auf und tauchte in die Seele der Welt ein. Und da bemerkte ich es: etwas stimmte nicht. Die Welt war nicht das, was sie zu sein schien. Es war mehr hinter den Hügeln und Wäldern verborgen, als das Auge wahrnehmen konnte. Es lag etwas Ungeahntes unter dem schönen Schein einer fremden Welt. Ungreifbar, unsichtbar, unausweichbar. Es tauchte am Horizont auf. Es hatte mich entdeckt. Langsam kam es auf mich zu. Es gewann an Geschwindigkeit. Immer schneller kam es näher. Es raste über Wälder, Hügel, Wiesen. Ich konnte nicht ausweichen. Es war unmöglich. Meilen, Meter, Zentimeter. ES WAR DA!

Und da hörte ich seine Stimme: “Nächster Halt Hauptbahnhof. Endstation. Bitte alle aussteigen. Wir hoffen, Sie bald wieder in einem unserer Züge begrüssen zu dürfen und wünschen Ihnen noch einen schönen Abend”.

Ich war angekommen.


Hintergrund Die Geschichte fiel mir eigentlich nicht während einer Zugfahrt ein, sondern in einer Frühlingsnacht, in der ich um 3 Uhr früh ins Bett ging. Ich habe von meinem Zimmer einen wunderbaren Blick auf die umliegenden Hügel. Es war Vollmond und zu Füssen der Hügel hatte sich ein Nebelsee gebildet. Er verhüllte alles im Tal und liess nur die Spitzen der Hügel frei. Der Eindruck war atemberaubend und würdig der Atmosphäre eines grossen Fantasy-Romans. Ich kam zu der Überzeugung, dass sich Fantasy nicht nur im Lesen von Büchern und Sehen von Filmen äussert. Es verbirgt sich darin, wie wir die Welt sehen und interpretieren. Fantasy ist immer so gut und lebendig wie unsere eigene Fantasie. Fantasy ist so real wie wir es möchten.